Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesaußenminister, sicherlich sind wir uns in manchen außenpolitischen Fragen einig, aber es ist eine Verwischung der Unterschiede zwischen den Aufgaben von Regierung und Opposition, wenn Sie von uns hier fordern, als Opposition das zu erledigen, was Sie als Außenminister nicht schaffen.
Ich kann Sie sehr wohl beruhigen: Wir fahren und wir sind gefahren nach Bosnien, in die Türkei, nach Rußland, und wir versuchen dort, Politik zu machen, die diese Konflikte lösen hilft.
Gerd Poppe
Wir sind uns sicherlich auch einig, daß Einsparungen im Haushalt notwendig sind. Aber es ist eine Binsenweisheit, daß man auch an den falschen Stellen sparen kann. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, den Rüstungshaushalt ungeschoren lassen oder erstmalig seit 1989 gar anheben, andererseits bei der Entwicklungshilfe oder der humanitären Hilfe sparen, dann sparen Sie an der falschen Stelle.
Nachdem ich vorhin den Bundeskanzler gehört habe, der die Lage der Menschen in Asien und Afrika mit der von denen in Rostock und Dresden in einem Atemzug genannt hat, wundert mich nichts mehr, was den Entwicklungshaushalt angeht.
Meine Damen und Herren, das Ungleichgewicht im Haushalt beruht auf einer politischen Fehlorientierung, über die wir heute nicht zum erstenmal reden. Es sind vor allem zwei grundsätzliche Fehler, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, die wir Ihnen vorhalten.
Erstens. Sie akzeptieren nach wie vor die Ergebnisse sogenannter militärischer Lösungen. Sie nehmen sie hin, obwohl jeder angesichts der täglichen Schreckensbilder in aller Welt weiß, daß mit militärischer Gewalt Konflikte nicht zu lösen sind, sondern nur durch die Beseitigung ihrer Ursachen. Der hohe Stellenwert des Militärischen in Ihrer Außenpolitik ist die zwangsläufige Konsequenz aus der systematischen Weigerung, Armut und Unterentwicklung endlich angemessen zu bekämpfen.
Zweitens. Sie greifen immer noch in die politische Mottenkiste zur Bewahrung eines Status quo, von dem inzwischen jeder weiß, daß er nicht zu der erwünschten Stabilität führt. Das Hinnehmen einer abenteuerlichen Politik autoritärer Regierungen oder gar ihre Unterstützung führt nicht zu mehr, sondern zu weniger Sicherheit. Trotz entsprechender Erfahrungen mit den verblichenen kommunistischen Regimes, deren Lebensdauer Sie ja verlängert haben, und anderen Diktaturen wiederholen Sie mit erstaunlicher Konsequenz frühere Fehler.
Warum setzen Sie auch nach den türkischen und russischen Militäreinsätzen gegen das kurdische bzw. tschetschenische Volk immer noch auf Regierungen, die offenkundig nicht willens oder nicht in der Lage sind, die Menschenrechte zu wahren und demokratische Verhältnisse zu entwickeln? Warum sichern Sie ausgerechnet solchen Regierungen Ihre Unterstützung, ja Freundschaft zu, während Sie andererseits Irritationen gerade bei denjenigen schaffen - wie Polen und der Tschechischen Republik -, die auf dem Weg zur Demokratie sind?
Herr Schäuble hat vorhin einen Anlauf genommen und wollte uns erklären, worin denn die Fehler bestanden bezüglich der Rangelei um die Einladung an Polen. Er hat diesen Satz nicht beendet, aber er hat von Solidarnosc gesprochen und von der großen Rolle, die Solidarnosc gespielt hat, und wie sehr er sie schätzt. Nun frage ich: Wenn es auf der einen Seite die unbezweifelbaren Verdienste von Mitterrand gibt, auf der anderen Seite die unbezweifelbaren Verdienste des Vorsitzenden der Solidarnosc und heutigen polnischen Präsidenten - warum soll dann nicht eine andere Behandlung möglich sein, als sie geschehen ist?
Sie, meine Damen und Herren von der Regierung eines der reichsten Länder der Erde, unterschätzen chronisch die Folgen von sozialen Krisen im ärmeren und größeren Teil der Welt. Sie nehmen politische Krisen immer erst dann wahr, wenn sie zum offen ausgetragenen Konflikt führen. Wenn dann das von vielen Sachverständigen lange erwartete Ergebnis eintritt, sind Sie, Herr Außenminister, überrascht oder enttäuscht oder schockiert. Wäre es da, herr Kinkel, nicht angebracht, nach den vielen schönen Worten über die Menschenrechte diesen endlich den angemessenen Stellenwert zu verschaffen, anstatt im Zweifelsfall immer wieder dem unmittelbaren außenwirtschaftlichen Interesse den Vorrang zu geben?
Die mindestens unklare Haltung der Bundesregierung läßt sich mit vielen Beispielen belegen. Ich erwähne nur die Politik gegenüber China und gegenüber dem Iran. Ich würde sehr gerne noch zu dem reden, was Sie über Bosnien und über Tschetschenien gesagt haben, möchte mich aber jetzt auf den aktuellen Fall, der uns beschäftigt, den Umgang mit der türkischen Intervention im Nordirak, beschränken.
Niemand bestreitet, daß Terrorismus bekämpft werden muß. Aber es ist die verfehlte türkische Politik gegenüber dem kurdischen Volk, es sind die Aktionen der türkischen Militärs, die die PKK seit Jahren stärken, jede politische Lösung verhindern und die Demokratisierung blockieren.
Wenn Sie ungeachtet dessen die türkische Regierung bis heute gebetsmühlenartig als Garanten des laizistischen Staates und demokratischen Partner in Europa darstellen, so ist das keine angemessene und ausreichende Reaktion. Ebensowenig reichen ein Sperrvermerk für die Finanzhilfe oder die halbherzige Ankündigung einer vorläufigen Aussetzung noch ausstehender Militärhilfe. Die türkische Regierung kann beruhigt abwarten, bis die Schamfrist verstrichen ist. Das Verfahren ist bekannt: Denken Sie
Gerd Poppe
nur an die sogenannte Normalisierung der Beziehungen zu China, ohne daß die Menschenrechtssituation sich auch nur im mindesten geändert hätte.
Es genügt auch nicht, schockiert zu sein, Herr Kinkel, wenn ein NATO-Partner in einen Nachbarstaat einmarschiert und verkündet, sich dort für ein Jahr einzurichten.
Die Initiative zur Anwendung der OSZE-Mechanismen hätte schon viel früher ergriffen werden können und müssen. Es reicht nicht aus, einmal mit dem Fuß aufzustampfen
und dann nach wenigen Wochen wieder zur sogenannten Normalität, zur Tagesordnung überzugehen. Das gilt für Ihre Besuche in Moskau wie in Ankara.
Meine Damen und Herren, hierzulande ist fast nur vom Einsatz des türkischen Militärs gegenüber der PKK die Rede. Kaum erwähnt werden z. B. die Übergriffe der Polizei in Istanbul gegen die protestierenden Alawiten. Inzwischen besteht die reale Gefahr, daß extreme Islamisten auch in der Türkei die Oberhand gewinnen.
Es geht also nicht allein um die politische Lösung der sogenannten Kurdenfrage, d. h. den Beginn des Dialogs mit den Vertretern des kurdischen Volkes und den Abbau der kemalistischen Staatsdoktrin. Es geht um die demokratisch verfaßte Türkei schlechthin. Damit es sie geben kann, muß Druck auf die nationalistischen bzw. autoritären Kräfte ausgeübt werden. Zugleich müssen die demokratischen Kräfte gestärkt werden.
Dafür ist es natürlich unverzichtbar - darin stimmen wir mit Ihnen überein -, der Türkei eine deutliche europäische Perspektive zu eröffnen. Andererseits wäre eine Aufnahme in die Zollunion zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch das falsche Signal.
Sie würde die Verfechter der gegenwärtigen Politik nur ermuntern. Es ist auch legitim, über eine Aussetzung der Mitgliedschaft im Europarat nachzudenken, wenn dessen Aufnahmekriterien glaubwürdig bleiben sollen.
Hilfe für die Türkei, d. h. für alle Menschen in der Türkei, unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit, bedeutet deshalb, das Angebot der europäischen Integration an Bedingungen zu knüpfen, die nicht aufgeweicht werden dürfen. Die Forderungen nach demokratischer Justiz und Verfassungsreform, nach
Aufhebung des Ausnahmezustands in Kurdistan und nach der Freilassung gewaltfreier politischer Gefangener müssen deutlich artikuliert und mit praktischer Unterstützung verbunden werden.
Es gibt für die Lösung der Probleme der Türkei sicher kein Patentrezept, keine einfache, holzschnittartige Lösung. Etwas anderes haben wir auch nie behauptet. Diese Aufgabe ähnelt einer Gratwanderung. Jedoch könnte Deutschland durchaus eine Schlüsselrolle einnehmen, natürlich unter der Voraussetzung, daß die innenpolitischen Fragen in Deutschland gelöst werden.
Das, was ich hier zur Türkei gesagt habe, sollte grundsätzlich für unsere Politik gelten. Ohne praktizierte Demokratie, ohne Garantie der Menschenrechte, ohne den besonderen Schutz der Minderheiten ist eine auf Interessenausgleich gerichtete Entwicklung nicht möglich. Auch wer den außenpolitischen und wirtschaftlichen Interessen die Priorität beimißt - um das für einen Außenminister und zugleich Vorsitzenden einer erklärten Wirtschaftspartei hinzuzufügen -, sollte die Vorzüge eines demokratischen Systems kennen, z. B. im Hinblick auf Risiken bei Auslandsinvestitionen.
Die Forderung, die genannten Kriterien zum Maßstab von Außenpolitik zu machen, sollte endlich Konsens in diesem Hause werden, unabhängig davon, wer die deutsche Außenpolitik gestaltet.
Gestern haben Sie, Herr Kinkel, im Ausschuß gefragt: Was würden Sie denn an meiner Stelle tun?
Weiter haben Sie gesagt: Sie würden sich schon auf den Moment freuen, wenn wir vor derartigen Problemen stehen.
Auch wir freuen uns darauf.
Aber vielleicht sollten Sie die Hoffnung nicht so schnell aufgeben.
Ich will Ihnen deshalb noch abschließend zwei kleine Ermutigungen mit auf den Weg geben: die eine für den Bundeskanzler, die andere für den Bundesaußenminister.
Der russische Oppositionspolitiker Jawlinskij hat mir neulich im Gespräch gesagt: Die deutsche Demokratie könne funktionieren, da sie fähig sei, sich selbst zu korrigieren. Der Kanzler habe Sergej Kowaljow nicht empfangen, was in Deutschland Unmut ausgelöst habe. Daraufhin habe er nun immerhin ihn, Jawlinskij, empfangen, wobei - in Klammern - die Frage sei, ob Jelzin überhaupt davon erfahre.
Zweites Beispiel, Herr Kinkel: Sie haben es selbst genannt. Den Versuch, mit den Petersberger Gesprächen die bosnische Föderation in Gang zu bringen, halte ich für eine begrüßenswerte deutsche Initia-
Gerd Poppe
tive, auch wenn zu befürchten ist, daß sie zu spät kam. Von den bosnischen Freunden gab es viel Lob für Herrn Steiner und für Sie. Sie sind also mitunter lernfähig, fähig, sich zu korrigieren, und Sie könnten diese Lernfähigkeit auch heute einmal beweisen, indem Sie unseren Anträgen zum Haushalt zustimmen.