Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst bedanke ich mich für diese guten Wünsche. Wer 65 wird, kann gar nicht genug gute Wünsche bekommen. Wer Bundeskanzler ist, braucht sie um so mehr. Ich bin vor allem dankbar, daß Sie die Wünsche zur Gesundheit von den Wünschen zur Amtszeit abgesetzt haben. Wenn Sie Ihre Meinung zum letzten Punkt nicht ausgesprochen hätten, würden viele unserer Freunde in Deutschland an mir zweifeln. Ich denke, bei dieser Arbeitsteilung bleiben wir.
Wenn ich gesund bleibe, hoffe ich, daß der erste Teil Ihres Wunsches so in Erfüllung geht. Über den zweiten Teil, Herr Abgeordneter, entscheiden die Wähler. Da sehe ich - mit großer Genugtuung - die Dinge auch für die Zukunft auf einem guten Weg.
- Haben Sie jetzt schon wieder Angst wegen der zukünftigen Kandidatur? Ich muß Sie einmal ein bißchen aus Ihrer Lethargie herausreißen können.
Die Generaldebatte hat den Sinn, daß über die Regierungspolitik umfassend geredet wird. Diejenigen, die über sie schreiben und sie kommentieren, haben die Gewohnheit, schnell zu sagen: Die halten alle Fensterreden.
Man kann nicht über parlamentarische Arbeit lamentieren und gleichzeitig nicht zugeben wollen, daß ein Parlamentarier in der konkreten Situation an einem konkreten Tag ein bestimmtes Ziel hat. Der Oppositionsführer kann ja nun nicht das Ziel haben, zu sagen: Lieber Helmut Kohl, Sie werden 65, ich wünsche Ihnen ein langes Leben, eine lange Amtszeit. Dann ist er in seiner Partei ja ganz verloren,
zumal sein Nachbar von den GRÜNEN schon unüberhörbar Zweifel daran hegt, daß er das Klassenziel überhaupt je erreicht.
Also muß er hier herkommen und - das gehört sich ja auch so - gewaltig losdonnern. Das haben wir heute erlebt. Es war schon angekündigt worden: In der Fraktion gibt es Geraune; deshalb muß er zeigen, was er bringt. Er hat es gebracht: in scharfen Angriffen, mit wilden Worten.
Es ist eine Republik entstanden, die mit der unsrigen gar nichts mehr zu tun hat.
Das blanke Elend quoll aus diesem Saal. Deswegen streben viele unserer Landsleute jetzt mit großem Tempo - Ostern steht bevor - in den zweiten Urlaubsabschnitt dieses Jahres.
Also, Herr Kollege Scharping, ich will Ihnen ganz einfach sagen: Ich habe viel Verständnis für das, was heute bei Ihnen abgelaufen ist.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Ich erinnere mich immer an meine eigene Situation.
- Ich kann das noch einmal erzählen.
- Sie können es gar nicht oft genug hören.
Vielleicht nehmen Sie an diesem Punkt auch in Ihrer eigenen Fraktion ein bißchen mehr Vernunft an. Eigentlich spreche ich im Moment in Ihrem Interesse.
Als ich heute früh hierher kam, stand einer mit seinem Mikrophon da und fragte mich; Was sagen Sie zur Schwäche der Opposition? - Er war dann sichtlich enttäuscht, als ich sagte, ich hätte jetzt nicht die Absicht, mit ihm über die Opposition zu reden, sondern würde gleich im Bundestag meine Politik verteidigen. Da ich das Auf und Ab der Politik länger erlebt habe als viele andere, bin ich gegen solche vorschnellen Behauptungen. Aber Sie werden mir erlauben, Herr Vorsitzender Scharping, daß ich mich an meine eigenen Oppositionsreden erinnere, als ich, wie Sie, von Mainz hier hergekommen war, aus einem relativ ruhigen Dasein als Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz.
Ich war gerade ein paar Wochen da, da ging es auch bei uns in der Fraktion los. Wir waren damals in einer besonderen Situation. Die haben Sie jetzt auch - ich komme noch darauf zu sprechen -; aber ein bißchen anders war es schon. Da hieß es: Der bringt das nie. Dann bin ich von Rede zu Rede - wenn ich das heute lese, frage ich mich, warum ich das gemacht habe - auch immer schärfer geworden. Ich habe mich immer weiter von den Leuten draußen entfernt, und die Fraktion hat großen Beifall gegeben. Sehen Sie, so geht es auch Ihnen.
Nur, Herr Kollege Scharping, die Moral von der Geschichte ist: Es hat dann noch sechs Jahre gedauert.
Wenn Sie sich einmal vorstellen: Jetzt schreiben wir 1995.
- Darüber werden wir uns doch sicher einigen, gnädige Frau, daß es 1995 ist.
Und noch einmal sechs Jahre, lieber Herr Scharping, dann sind wir in einem neuen Jahrtausend. Überlegen Sie einmal, was das heißt!
Ich will noch einmal auf das, was ich vorhin gesagt habe, zurückkommen. Die Lage bei Ihnen ist natürlich anders. Bei uns gab es wenigstens nur einen präsumtiven Gegenkandidaten; bei Ihnen ist jedesmal ein anderer da. Man muß sich richtig daran gewöhnen.
Herr Ministerpräsident Lafontaine scheint heute nicht so gut gelaunt zu sein. Seine übliche joviale Art ist vielleicht nachher beim Reden wieder da. Ich hoffe das.
Dann kommt der Kollege aus Hannover.
Jetzt muß ich Ihnen schon sagen: Ich habe viel erlebt. Es haben auch manche meinen Sturz betrieben. Das ist ganz normal in einer demokratischen Partei. Aber eine der größten Unverfrorenheiten - das muß ich Ihnen schon sagen -, die einem Parteivorsitzenden zuteil wurde, ist der heutige Artikel Ihrer Stellvertreterin im „General-Anzeiger". Sie sollten diese Dame möglichst rasch ablösen. Das wäre ein Segen für die Sozialdemokratie und für die deutsche Demokratie. Das möchte ich Ihnen sagen.
Denn ein solches Maß - ich habe keine Freude daran; und auch der Kollege Solms hat keine Freude daran - an Illoyalität sollten wir nicht auch noch dadurch belohnen, daß wir es zitieren. Das sage ich noch einmal klar und deutlich.
Dann ein Zweites, das ich Ihnen auch sagen möchte: Ich habe noch einmal das Abstimmungsergebnis für die Frau Wehrbeauftragte angesehen, der ich an dieser Stelle noch einmal im Namen der Bundesregierung gratuliere.
Aber, lieber Herr Kollege Scharping, wenn Sie Führung anmahnen bei mir und der Bundesregierung, der Koalition: Wenn ich schon meiner Fraktion die Empfehlung gäbe, die Kollegin mit zu wählen, dann würde ich wenigstens versuchen, daß mindestens über 50 % sie wählen. Also, für Sie war es heute kein großer Tag mit diesem Ergebnis; wirklich nicht.
Sie sollten mit Ihrer Kritik, bevor Sie über andere reden - -
- Ihr Dazwischenrufen zeigt doch nur Ihr schlechtes Gewissen.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Meine Damen und Herren, wir sprechen heute im Rahmen der Generalaussprache nicht zuletzt auch über die wirtschaftliche Lage. Sehen Sie, in unserer Erinnerung stehen die Debatten zur wirtschaftlichen Lage am Vorabend der Bundestagswahl - das war im September 1994, bei den ersten Reden über diesen Haushalt - und vom November 1993, als es um den 94er Etat ging. Herr Abgeordneter Scharping, wenn Sie noch einmal alles nachlesen, was Sie und Ihre Kollegen alles prophezeit haben, dann müssen Sie sich doch eigentlich fragen: Was wollen Sie uns noch an Prognosen über Weltuntergang bei uns in der Bundesrepublik zumuten?
Sie sind durch die Gegend gezogen und haben Katastrophengemälde gezeigt. Aber die Realität sieht doch bei allen Sorgen, die wir haben, ganz anders aus. Es ist doch nicht zu bestreiten, daß sich die Aufschwungkräfte in Deutschland durchsetzen. Wir erwarten für dieses Jahr ein Wachstum von ca. 3 %. Es ist doch unübersehbar, daß der Prozeß des wirtschaftlichen Aufschwungs vorankommt. In diesem Jahr werden wir in Ostdeutschland ein reales Wachstum von ungefähr 10 % haben. Wahr ist ebenfalls - das können Sie noch so lange bestreiten -, daß sich der Arbeitsmarkt zwar langsam, aber durchaus positiv entwickelt. Das gilt für Westdeutschland und ebenso für die neuen Länder.
Aber diese Entwicklung ist noch kein Grund zur Genugtuung. Jeder hier im Saal weiß, daß das Ziel, neue Arbeitsplätze zu schaffen und Arbeitsplätze zu stabilisieren, die Herausforderung der deutschen Innenpolitik bleibt. In allen vergleichbaren modernen Industrienationen erleben wir seit vielen Jahren, daß am Ende jeder Rezession der Sockel der Arbeitslosigkeit höher ist als zuvor. Das macht uns betroffen. Wenn Sie genau hinschauen, dann können Sie überall, gerade bei uns in Deutschland, unschwer erkennen, daß die Welle von Rationalisierungen, die über die Betriebe hinweggegangen ist und -geht und die zum Teil dramatisch schnell die Betriebsergebnisse verbessert hat, in vielen Fällen durch den Abbau von Arbeitsplätzen erkauft worden ist.
Hinzu kommt etwas, was ich für besonders wichtig halte, nämlich die Erkenntnis, daß im Wege des Ab- und Umbaus in den produzierenden Bereichen vor allem jene Arbeitsplätze abgebaut werden, die durch geringere Anforderungen gekennzeichnet sind. Anders ausgedrückt: Die geringer Qualifizierten haben schlechtere Möglichkeiten und bleiben eher außen vor oder werden freigesetzt. Deswegen ist die wichtigste Herausforderung der nächsten Jahre - das ist in anderen Ländern in Europa genauso -, daß wir Arbeitsplätze nicht nur im gehobenen Ausbildungssektor, sondern vor allem auch dort schaffen, wo früher etwa Hilfsarbeiter und ungelernte Arbeitskräfte ihre Chance hatten und wo heute besonders abgebaut wird.
Wir müssen uns auch überlegen, wo es neue Möglichkeiten gibt. Wir müssen beispielsweise angesichts der Entwicklung der Altersstruktur in unserem Lande mit Blick auf die Pflege die Chance eröffnen, daß viele Leute, Männer wie Frauen, in diesem Bereich einen Arbeitsplatz finden. Ich halte es für sehr wichtig, daß wir die Anforderungen nicht so hoch setzen - ich sage das bewußt so -, daß später viele wiederum keine Chance haben.
So schwierig dies ist, ich bin dennoch der Auffassung, daß wir durch gemeinsame Bemühungen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerorganisationen, der Gewerkschaften und der Wirtschaft, der Politik und der öffentlichen Hand das Notwendige zur Transparenz und zur Flexibilisierung beitragen.
Ich bin nach wie vor völlig unzufrieden, daß wir in der Frage der Teilzeitarbeit nicht richtig vorankommen. Ich erwarte mir von diesem Bereich nicht das Heil für alles. Aber es ist doch ganz unbestreitbar, daß es auf die Dauer nicht vernünftig sein kann, daß es in Deutschland nur 14 % oder 15 % Teilzeitarbeitsplätze gibt, während es z. B. in den Niederlanden 34 % oder 35 % sind. Es darf auch nicht so sein, daß jetzt wieder die Diskussion geführt wird - übrigens nicht zuletzt im öffentlichen Dienst; ich nehme hier Bund, Länder und Gemeinden durchaus zusammen -, daß Teilzeitarbeit eine Sache der Frauen ist. Das halte ich für ganz falsch. Die Chancen, die sich hier eröffnen, müssen wir wahrnehmen. Die gesetzlichen Voraussetzungen sind da.
Es ist für mich kein Trost, daß wir im Verhältnis zu anderen Ländern immer noch besser dastehen. Wir haben vom Frühjahr 1983 bis 1990 über drei Millionen neue Arbeitsplätze in der alten Bundesrepublik geschaffen.
Warum soll es denn nicht möglich sein, auch auf diesem Feld mit gemeinsamer Anstrengung wieder ein gutes Stück voranzukommen?
Meine Damen und Herren, auch wenn es stimmt, daß die Bundesrepublik Deutschland unter den großen Industrieländern nach Japan die niedrigste Arbeitslosenrate aufweist, besteht keine Anlaß, sich auszuruhen und sich zu feiern.
Wir haben Erfolge beim Thema Jugendarbeitslosigkeit. Es ist weniger ein Verdienst der heutigen Generation als der Generation vor uns, daß mit dem dualen System eine erstklassige Chance für junge Leute geschaffen wurde, rechtzeitig eine gute Ausbildung zu bekommen.
Es ist doch bemerkenswert, daß unsere Jugendarbeitslosenrate nur ein Viertel des europäischen Durchschnitts beträgt. Der EU-Durchschnitt liegt bei 19,5 %, in der Bundesrepublik sind es knapp 5 %.
Im Hinblick auf die Kapitalmarktzinsen in den großen Industrieländern haben wir eine günstige Position. Ich begrüße ausdrücklich die Entscheidung des Zentralbankrats vom heutigen Tag - ich bekomme dies gerade von Bundesminister Bohl gereicht -, die für die Entwicklung unserer Konjunktur und die mo-
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
netäre Situation insgesamt förderlich ist. Die Entscheidung geht in die richtige Richtung.
- Meine Damen und Herren, wenn ich dem Ministerpräsidenten des Saarlands schon nicht das Wasser reichen kann, kann ich ihm wenigstens das Papier reichen. Vielleicht ist das hilfreich.
Herr Abgeordneter Scharping, als Sie dauernd über die soziale Dimension der Politik klagten, haben Sie wie üblich völlig verschwiegen: Wir haben eine Inflationsrate, die jahrelang gesunken ist und jetzt bei 2,4 % liegt. Ich bleibe bei der These: Die beste Sozialpolitik für Rentner und viele Millionen Menschen mit kleinen Einkommen ist die Wahrung der Stabilität der Währung. Deswegen ist es entscheidend, daß wir uns darum kümmern.
Wolfgang Schäuble hat trotz Ihres Protestes vorhin zu Recht gesagt, daß wir eine Gratwanderung machen müssen: auf der einen Seite gewachsene internationale Verantwortung, auf der anderen Seite Verantwortung für unsere Währung und strikter Konsolidierungsbedarf. Bei allen Klagen, die von der deutschen Exportwirtschaft geäußert werden, ist doch unübersehbar, daß die Stabilität der D-Mark eine gute Sache ist. Können Sie sich die Debatte vorstellen, die heute stattfände, wenn die D-Mark in den Strudel geraten wäre?
Wir hätten gar nicht mehr anzutreten brauchen; Sie hätten doch im Chor vom Untergang der Republik gesungen.
Ich bin stolz darauf, daß sich unsere Politik, nicht zuletzt auch die Politik des Bundesfinanzministers - sein hohes internationales Ansehen hat sehr viel damit zu tun -, im Vertrauen in die D-Mark widerspiegelt.
Daß wir die enormen Sonderbelastungen für den Staatshaushalt in den letzten vier Jahren nicht einfach wegstecken können, ist auch wahr. Ich habe jetzt erste Notizen über neue IWF-Zahlen, die in ein paar Tagen erscheinen werden, gelesen. Ich finde es schon sehr bemerkenswert, daß das Urteil über die Bundesrepublik Deutschland nicht nur sehr viel positiver ausfällt, sondern daß darin auch ein kleines
Stück Anerkennung für die einmalige Leistung enthalten ist, die deutsche Einheit finanziell verkraftet zu haben.
Meine Damen und Herren, man muß auch das deutlich sagen: Bei alldem, der deutschen Einheit, dem Wiederaufbau und der Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen Ländern bei gleichzeitiger schwerer Rezession, der schwersten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, haben wir über 146 Milliarden DM Unterstützungsleistungen für Osteuropa gegeben. Allein für die neuen unabhängigen Staaten, vor allem für Rußland, haben wir pro Kopf zehnmal soviel gezahlt wie beispielsweise die Französische Republik und die Vereinigten Staaten von Amerika. Das gehört doch auch zum Bild Deutschlands in dieser Zeit.
Weil hier wieder zum Teil absurde Vorstellungen über den Bereich der Innenpolitik im Hinblick auf Asylbewerber geäußert wurden: Es ist doch auch wahr, und das hat viel mit der Solidarität im Bereich der finanziellen Unterstützung zu tun, daß die Bundesrepublik Deutschland mit weitem Abstand die meisten Flüchtlinge und Asylbewerber in der Europäischen Union aufnimmt, und zwar mehr als 70 %.
Meine Damen und Herren, wenn wir gleichzeitig im Vergleich der öffentlichen Verschuldung in Prozent des Bruttoinlandsprodukts im G-7-Bereich auf dem zweitbesten Platz stehen - die Bundesrepublik mit 53,7 %, die USA mit 64,2 %, bei einem OECD-Durchschnitt von 70,2 % -, dann ist natürlich viel zu tun. Ich bin der letzte, der sagt, wir hätten in diesen vier, fünf Jahren alles richtig gemacht. Wir haben dazugelernt und haben uns verbessern müssen, aber insgesamt ist das eine gewaltige Leistung, und sie wird in der ganzen Welt anerkannt.
Und dann, Herr Abgeordneter Scharping, haben Sie mich in der Auseinandersetzung mit meinem Amtsvorgänger in den 70er Jahren zitiert. Nun, meine Damen und Herren, die Schulden, die damals aufgelaufen waren, waren nicht Schulden infolge der deutschen Einheit und der Hilfe für Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Es waren hausgemachte Probleme, die Sie damals zu vertreten hatten.
Daß man das ändern konnte, haben wir ja ebenfalls bewiesen. Wir haben zwischen 1982 und 1990 den Anteil der Staatsausgaben am Sozialprodukt zurückgeführt und sind wieder auf eine Staatsquote in der Nähe von 46 % gekommen. Sonst wäre die deutsche Einheit 1990 und in den folgenden Jahren gar nicht finanzierbar gewesen. Das ist doch die Realität.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Das heißt - und dazu bekenne ich mich auch: Wir müssen jetzt von unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern verlangen, daß wir diese Finanzierung gemeinsam solidarisch tragen. Zugleich müssen wir den Kurs der Haushaltskonsolidierung fortsetzen. Die Begrenzung der Staatsausgaben wird natürlich nicht überall Freude erwecken. Dennoch, Theo Waigel hat recht mit dem, was er hier vor ein paar Tagen gesagt hat. Das Jahr 1996 wird ein Jahr der Steuersenkungen - immerhin mit einer Gesamtentlastung von 30 Milliarden DM - werden.
Nun gibt es, weil Sie in der SPD sich vom solidarischen Denken verabschiedet haben, eine große Diskussion im Blick auf den Solidaritätszuschlag. Meine Damen und Herren, ich finde, das, was sich hier entwickelt, gehört zu den erbärmlichen Schauspielen der jüngeren deutschen Geschichte.
Ich füge ausdrücklich hinzu: Sie sind bei dieser Haltung nicht allein, leider. Ich habe noch die vielen Stimmen im Ohr, die mir zugerufen haben: Du mußt nur Opfer verlangen! Die Leute sind gern bereit, Opfer zu bringen!
Jetzt höre ich von dem einen oder anderen, daß Kirchenaustritte mit dem Solidaritätszuschlag zusammenhängen. Das ist theologisch eine sehr einfache Begründung.
Ich höre wiederum von anderen, daß das nicht zumutbar sei. Sie kennen das alles.
Ich habe eine ganz einfache Frage an jeden von uns. Die meisten, die hier im Saal sitzen, vor allem die, die aus Westdeutschland kommen, aus der alten Bundesrepublik, und die in meinem Alter oder etwas jünger sind, aber trotzdem dabei waren, haben doch erlebt, wie wir in den 50er und 60er Jahren an Weihnachten Lichter in die Fenster stellten. Es war dann die Rede von den „Brüdern und Schwestern im anderen Teil Deutschlands".
- An Ihrer Stelle würde ich diesen Zwischenruf nicht machen.
Denn als wir von den Brüdern und Schwestern im anderen Teil Deutschlands sprachen, hatten Sie längst die endgültige Trennung im Kopf. Sie haben das Recht verwirkt, für Brüder und Schwestern in ganz Deutschland zu sprechen. Da waren Sie auf der falschen Seite.
Und, meine Damen und Herren, dann waren doch auch die Feiertage, der 17. Juni. Da haben wir uns versammelt.
- Ja, Sie waren nicht dabei. Man konnte damals auch gern auf Sie verzichten, um das klar und deutlich zu sagen.
Wir haben immer wieder gesagt: Wir wollen die Einheit. Wir wollen, wenn es auch Geld kostet, alles tun. Es sind damals in der deutschen Diskussion von den großen demokratischen Parteien ganz andere Summen genannt worden. Ich will sie gar nicht aufzählen.
Jetzt haben wir für ein paar Jahre Opfer zu bringen. Wir werden den Solidaritätszuschlag so früh wie möglich abschaffen, aber erst dann, wenn es vertretbar und verantwortbar ist.
Wenn auf Kirchentagen und bei anderer Gelegenheit von den Brüdern und Schwestern in Afrika, Asien und Lateinamerika gesprochen wird, dann ist es auch angemessen, von den Brüdern und Schwestern in Rostock und Frankfurt/Oder zu reden, die unsere Unterstützung brauchen.
Besonders schäbig ist das Spiel, das Sie von der SPD jetzt in der Landtagswahl getrieben haben, indem Sie in Hessen den Leuten sagen: „Ihr zahlt zuviel" und Sie dann ein paar Kilometer über die Grenze nach Thüringen gehen und sagen: Ihr bekommt zuwenig. Das ist keine Politik!
Wenn ich, meine Damen und Herren, über die wirtschaftliche Entwicklung rede, dann muß ich ein kurzes Wort - es war in der Debatte ja viel davon die Rede, nicht nur heute, sondern in diesen Tagen - zum Standort Deutschland sagen. Zu den Elementen des Standortes Deutschland gehört eine sichere, eine kostengünstige, eine umweltfreundliche Energieversorgung.
Bis vor wenigen Jahren waren wir uns doch auch völlig einig, daß ein ausgewogener Energiemix von Mineralöl, Erdgas, Kohle, Kernenergie und erneuerbaren Energien sowie Energiesparen eine der entscheidenden Voraussetzungen ist, um Ökonomie und Ökologie miteinander zu verbinden.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, haben sich davon verabschiedet. Die Begründung, die Sie bis heute geben, ist überhaupt nicht überzeugend, denn Ihre eigenen politischen Freunde in anderen Ländern Europas haben wenigstens einen Weg des Übergangs gefunden.
In Schweden hat eine Volksabstimmung - nicht einmal eine parlamentarische Abstimmung - eine bestimmte Entscheidung gegen Kernkraft erbracht. Die folgende Regierung - die jetzige, sozialdemokratisch geführte Regierung macht es genauso - hat versucht, eine Übergangslösung über Jahrzehnte hinaus zu erreichen, trotz des Ergebnisses der Volksabstimmung.
Man mag ja darüber streiten, was im Jahr 2020 oder 2030 sein wird. Aber es kann doch nicht vernünftig sein, jetzt dafür zu kämpfen, daß die weit über 20 Kernkraftwerke in der früheren Sowjetunion bzw. den Nachfolgerepubliken, die das Sicherheitsniveau von Tschernobyl haben, geschlossen werden. Es kann doch angesichts der wirtschaftlichen Lage in diesen Regionen nur ein Narr verlangen, daß diese Kernkraftwerke geschlossen werden. Also müssen sie sicherer gemacht werden.
Wenn wir gleichzeitig die Chance, Sicherheitsverbesserungen vorzunehmen, unsere Industrie auf der Höhe der Zeit zu halten, vergeben, so ist das weder eine vernünftige Politik, noch nützt es dem Standort Deutschland. Es ist ein Ausstieg aus einem Stück Zukunft.
Im übrigen wissen Sie doch bei aller Diskussion um CO2-Einsparziele so gut wie ich, daß Sie das, was wirklich notwendig ist - das gilt jedenfalls für Deutschland und vergleichbare Länder in den nächsten Jahren gemeinsam -, mit einem Ausstieg aus der Kernkraft, wie Sie ihn proklamieren, nicht erreichen können.
Bei aller Unterstützung für Energiesparen und Nutzung erneuerbarer Energien - Sie finden mich bei all diesen Dingen völlig offen für ein Gespräch und für Entscheidungen - kann doch niemand glauben, daß die eigentliche Gefährdung im CO2-Bereich auf diese Art und Weise gestoppt und beseitigt werden kann.
Deswegen ist es wichtig, daß wir jetzt versuchen - in ein paar Wochen ist ja die Wahl in NRW vorbei; die saarländische Wahl war bereits -, zu einem Gespräch der Vernunft auch in Sachen Steinkohle zu kommen. Denn, meine Damen und Herren, so einfach, wie Sie es sich machen, vor allem der Ministerpräsident. von Nordrhein-Westfalen, ist es nicht. Er hat nun wirklich nichts getan. Seine Amtszeit ist lang, aber was er zur Strukturverbesserung mit Blick auf die Steinkohle getan hat, kann ich beim besten Willen nicht erkennen.
Sie rufen lautstark: Wir brauchen das Geld aus Bonn. In der nächsten Stufe sagen Sie dann: Wenn das Geld nicht kommt, dann machen wir einen Marsch auf Bonn. Mich beeindrucken Sie mit beidem überhaupt nicht.
Sie können jetzt bei den Energiegesprächen Punkt für Punkt sagen, was Sie wirklich wollen. Aber es kann nicht angehen, daß, wenn es um die Sicherung der Arbeitsplätze der Bergarbeiter geht, wir, der Bund, dafür zuständig sind und Sie für die Propaganda vor Ort.
Vielmehr sind Sie genauso in Bund und Ländern - in den Ländern haben Sie die Mehrheit - für einen vernünftigen Energiemix in der Zukunft verantwortlich und dafür, daß in Deutschland Ökonomie und Ökologie versöhnt werden, daß wir die Schöpfung bewahren.
Wenn Sie sich an Ihren Hoffnungspartnern, wie Sie glauben, bei den GRÜNEN, orientieren, werden Sie keine Zukunft gewinnen.
Denn die GRÜNEN können diese Position nur vertreten, weil sie sicher sind, daß andere die Zukunft sichern.
Zu meinem Erstaunen sind heute von Ihrer Seite, Herr Abgeordneter Scharping, aber auch von anderen unsere Beziehungen und unser Verhältnis zum Nachbarn Polen in die Debatte gebracht worden. Es gehört schon ein ziemlich kurzes Gedächtnis dazu, den CDU-Vorsitzenden zum Thema Polen anzusprechen.
Zunächst einmal lege ich Wert auf die Feststellung, daß wir in der Christlich Demokratischen und Christlich-Sozialen Union - das war immer auch die Politik in den Koalitionen mit den Freien Demokraten - den Satz aus der Regierungserklärung Konrad Adenauers von 1949 ganz wichtig nahmen. Er sagte damals ungefähr - ich formuliere das einmal aus dem Gedächtnis -: Wir wollen Aussöhnung und Frieden mit allen unseren Kriegsgegnern von gestern - vor allem mit Frankreich und mit Polen - und auch mit dem Staat Israel. Ich denke, unsere Politik hat in all diesen Jahren dazu beigetragen, dieses Ziel zu erreichen oder ihm näherzukommen.
Mit Blick auf Israel hat das heute nacht der israelische Ministerpräsident in seiner öffentlichen Erklärung noch einmal deutlich gemacht. Im Blick auf Frankreich - auch da habe ich Sie überhaupt nicht verstanden - haben wir doch Beziehungen entwikkelt, von denen wir vor 50 Jahren nur träumen konnten.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Herr Abgeordneter Scharping, daß es da Interessengegensätze gibt und daß man nicht in Paris sagen kann: So wird es gemacht, und wir dem nur nachfolgen, sondern daß wir auch einmal sagen: Wir möchten etwas anderes, das ist doch unter Freunden normal.
Wenn die Beziehungen so schlecht wären und die Repräsentanten der deutschen Politik, Klaus Kinkel oder Helmut Kohl, so schlecht wären, wie wäre es dann überhaupt zu erklären, daß die französischen Spitzenkandidaten so großen Wert darauf legen, mit Bildern von uns im Wahlkampf aufzutreten?
- Das ist doch die Wahrheit.
Als Vorsitzendem der Sozialdemokraten in Europa muß Ihnen doch aufgegangen sein, daß Ihr Kollege Jospin nach Deutschland kam, um zu demonstrieren, wie sehr ihm an der deutsch-französischen Freundschaft und am Kontakt zu bestimmten Persönlichkeiten gelegen ist. Also, verschonen Sie uns wirklich damit.
Ich spreche das Thema Polen an, weil ich hier meine Erfahrungen mit deutschen Sozialdemokraten habe. Einige sind ja noch im Bundestag, die das miterlebt haben. Wir hatten in der CDU/CSU eine scharfe, schwierige Diskussion in den Jahren 1975/ 76, als es um den sogenannten großen Vertrag zwischen Deutschland und Polen ging; Sie wissen das. Es gab wilde Debatten hier im Bundestag, in denen die Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion dagegen gestimmt hat. Wir haben dann nach einer dramatischen Entwicklung am 12. März 1976 mit der Mehrheit aller Stimmen der CDU/CSU-geführten Länder - ohne uns wäre nichts geschehen - im Bundesrat den Vertrag akzeptiert. Alle Ministerpräsidenten einschließlich meines Freundes Alfons Goppel, des Bayerischen Ministerpräsidenten, haben zugestimmt.
Herr Scharping, ich erwähne es deswegen, weil ich damals erlebt habe, wie weit parteitaktisches Denken bei Ihnen gehen kann. Sie haben an jenem Tag fest damit gerechnet, daß wir auf Grund unserer großen inneren Schwierigkeiten keine Mehrheit zustande brächten. Sie hatten schon Millionen Fluglätter gedruckt, um uns im Wahlkampf als diejenigen anzuprangern, die die Polen-Verträge zerstören wollen. Sie haben damals schäbig gehandelt, und Sie haben heute zu diesem Punkt schäbig gesprochen.
Dann war da noch das Wort von der Solidarnosc.
- Ich komme zum 8. Mai, aber ich lasse mir von Ihnen überhaupt nicht vorschreiben, worüber ich zu reden habe. Sie sind der letzte in diesem Haus, der mir dazu einen Grund geben kann.
Also, dann war hier die Rede von Solidarnosc. Herr Fraktions- und Parteivorsitzender Scharping, wo war denn die deutsche Sozialdemokratie 1981/82? An der Seite der Solidarnosc? Wer hat denn von den deutschen Parteien dieser neu aufkommenden Gruppierung die ersten, auch materiellen, Unterstützungen gegeben? Hier sitzt Norbert Blüm, der Ihnen bestätigen wird, wer die Gespräche mit dem jetzigen Präsidenten der Polnischen Republik geführt hat. Ich habe keinen Bedarf an Nachhilfeunterricht in Sachen Polen, in Sachen Solidarnosc und in Sachen Freiheit in Polen.
In Polen käme auch niemand auf den Gedanken, das zu sagen, was Sie hier gesagt haben.
Denn die politische Führung, auch die jetzt gerade neu ins Amt gekommene polnische Regierung, der Ministerpräsident wie der Außenminister, und ganz gewiß der Staatspräsident, wissen sehr genau, daß die Bundesregierung und hier insbesondere der Bundesaußenminister und auch ich bei jeder Gelegenheit das Notwendige getan haben, um Polen etwa den Weg in die Europäische Union zu ebnen. Wenn Sie sehen, was Volker Rühe im Bereich der NATO tut, dann kommen Sie zur gleichen Erkenntnis. Sie konnten vor wenigen Wochen in den Zeitungen lesen, was der polnische Ministerpräsident anläßlich des EU-Gipfels in Essen zu diesem Thema gesagt hat und daß er sich bei den Deutschen bedankt hat.
Was soll das also? Wenn Sie unsere Politik nicht mögen, ist das Ihre Sache. Sie sollten aber eine Grundausstattung an Fairneß haben und die Dinge nicht so ganz falsch darstellen.
Jetzt erlauben Sie mir ein Wort zu der Gedenkfeier am 8. Mai. Ich versuche wieder zu dem Thema zu kommen, um das es hier eigentlich geht und das doch jeden von uns berührt, gleich, ob er in jenen Tagen schon dabei war oder später geboren ist.
Meine Damen und Herren, am 8. Mai jährt sich zum 50. Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Das muß für uns alle in allererster Linie ein Tag des Gedenkens und der Selbstbesinnung sein, auch bei ganz unterschiedlichen Lebensläufen.
Wir erinnern uns an diesem Tag an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, an die Millionen ermordeter Juden, an die ermordeten Sinti und Roma und an viele andere. Wir erinnern uns auch an das Leiden unschuldiger Männer, Frauen und Kinder aus anderen Völkern wie auch aus unserem eigenen Volk.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Millionen von Soldaten aus vielen Nationen ließen auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs, den Hitler entfesselt hatte, ihr Leben. Millionen gerieten in Kriegsgefangenschaft, viele kehrten als Kriegsversehrte in die Heimat zurück.
Wir haben guten Grund, an diesem Tag auch derer zu gedenken, die bei Flucht und Vertreibung Schlimmes erlebt haben und die ganz unschuldig waren, die nicht für sich als einzelne die Verantwortung zu tragen hatten, die aber in die Kollektivschuld unseres Volkes geraten sind.
Wir gedenken an diesem Tag der Frauen, die vergeblich auf ihre Männer gewartet haben, und der Mütter, die vergeblich auf ihre Söhne gewartet haben. Wir gedenken der vielen Kinder, die im Zweiten Weltkrieg Vater oder Mutter verloren haben.
Das Kriegsende bedeutete für uns Deutsche die Chance zum Neubeginn. Es ermöglichte Frieden und Versöhnung zwischen den Völkern, hat dem größeren Teil unseres Volkes in der dann gegründeten Bundesrepublik 40 Jahre Freiheit geschenkt. 1990 kam dann die Wiedervereinigung.
Wenn man noch einen Sinn für die Würde unseres Volkes hat, kommt man zu dem Ablauf des 8. Mai, den wir überlegt hatten. Wolfgang Schäuble sprach davon. In den allerersten Gesprächen des Bundespräsidenten, der Bundestagspräsidentin und des Bundesratspräsidenten, der Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts und des Bundeskanzlers waren wir uns einig, daß wir versuchen wollten, diesen Tag unter uns zu begehen. Es war gar keine Rede vom Einladen ausländischer Gäste. Das ist eine Überlegung, die man sehr wohl anstellen kann. Es war gedacht, daß der Bundespräsident wie schon vor zehn Jahren die Hauptrede hält und daß eine Ansprache der beiden Parlamentspräsidenten - Bundestagspräsidentin und Bundesratspräsident - die Rede des Bundespräsidenten einrahmt. Das war unsere Vorstellung.
In diese Vorbereitung kam dann, und zwar plötzlich - ich bin dennoch dafür sehr dankbar -, der Wunsch des französischen Präsidenten François Mitterrand, an diesem Tag in Deutschland zu sprechen. Wenn François Mitterrand einen solchen Wunsch deutlich macht, muß man gleichzeitig auch bedenken, daß am Tag vor dem 8. Mai, am 7. Mai, die Stichwahl für die Wahl des Präsidenten der Französischen Republik stattfindet, daß heißt, daß in der darauffolgenden Woche seine Amtszeit endet.
Er selbst hat ja auch öffentlich erklärt, daß seine Rede auf den Champs-Elysées am Grabmal des unbekannten Soldaten am Morgen des 8. Mai sein letzter öffentlicher Auftritt in Frankreich sein soll. Nun ist François Mitterrand nicht irgend jemand: Er hat mehr als viele andere dazu beigetragen, daß in seiner 14jährigen Amtszeit die deutsch-französische Freundschaft sprichwörtlich in der Welt geworden ist.
Er hat in vielen Stationen dieser Jahre gemeinsam mit uns und nicht zuletzt mit mir als Regierungschef in Deutschland die Sache Europas vorangebracht. François Mitterrand ist in seinem Leben dreimal aus deutscher Gefangenschaft ausgebrochen.
Er hat unser Land - das ist in diesen Tagen in einer literarischen Würdigung deutlich geworden - in seinem kulturellen und geistigen Gehalt in einer Weise in sich aufgenommen wie wenige andere. Ich finde, wir haben allen Grund, stolz zu sein, daß dieser Mann am 8. Mai bei uns in Deutschland sprechen wird.
Das kann jeder nachvollziehen.
Angesichts der Tatsache, daß wir bis vor wenigen Jahren von den „vier Statusmächten" in Deutschland sprachen - diese Zeit liegt nicht so weit zurück, daß wir alles vergessen haben -, war es doch ganz naheliegend, die Überlegung anzustellen, daß wir die Vier Mächte, die für das, was dann zur deutschen Einheit führte, ganz entscheidend waren, einladen. Es ist nicht alles vergessen, was in diesen Jahrzehnten geschehen ist, beispielsweise die Garantie der Freiheit Berlins. So kommen Vizepräsident AI Gore, Premierminister John Major und der russische Ministerpräsident.
So entstand das Konzept, das der Würde unseres Landes, den Beziehungen zu unseren Freunden und Partnern entspricht und das - was mir vor allem wichtig ist - nicht rückwärtsgerichtet ist, sondern Perspektiven für die Zukunft aufweist.
In diesem Zusammenhang darf man, Herr Abgeordneter Scharping, auch daran erinnern, daß das Treffen jetzt in Berlin 50 Jahre nach Potsdam stattfindet. Auch jemand wie ich weiß noch, wer in Potsdam am Tisch gesessen hatte; ich brauche die Ermahnung nicht, die Sie mir vorhin gegeben haben. Es ist eigentlich ziemlich naheliegend, daß wir sagen: In diesen 50 Jahren haben wir - nicht allein die hier Sitzenden, sondern ganze Generationen vor uns; ich schließe alle meine Amtsvorgänger ausdrücklich ein - diesen Weg überhaupt möglich gemacht. Wir sollten das jetzt nicht kleinreden. Wir sollten stolz darauf sein, daß wir eine solche Möglichkeit haben.
Dann stellt sich die Frage, ob wir darüber hinaus noch andere einladen und ob wir, wenn wir jemanden einladen, jemanden einladen können, der nicht spricht. Ich brauche das nicht näher zu erläutern. Jeder spürt doch, wie schwierig so etwas ist.
Man kann den Kalender zur Hand nehmen und festlegen, wann man anfängt. Wenn Sie von Polen reden, dann müssen Sie natürlich auch die Frage nach Tschechien und der Slowakei stellen; allerdings liegen die entsprechenden Ereignisse zeitlich davor. Dann müßten Sie auch Norwegen, Dänemark, die
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Niederlande, Belgien und Luxemburg - ich könnte die Liste fortsetzen - nennen.
- Meine Damen und Herren von der PDS, das ist Ihre Meinung. Aber Ihre Meinung ist für mich deswegen völlig unerheblich, weil Sie über 40 Jahre mit all diesen Ländern ganz andere Beziehungen hatten. Sie sind doch in der Tschechoslowakei einmarschiert und nicht die Bundesrepublik Deutschland.
Ich empfinde es als ein starkes Stück Heuchelei, daß Sie vorhin von der Wiedergutmachung für die Juden gesprochen haben. Sie in der DDR haben doch überhaupt keine Wiedergutmachung an den Staat Israel geleistet.
Sie haben sich doch über Jahrzehnte hinweg vor Ihrer moralischen Verantwortung für das Unrecht, das in deutschem Namen geschehen ist, gedrückt. Insofern brauchen wir von Ihnen wirklich keinen Appell.
Ich will noch einmal sagen: Wer ruhig darüber nachdenkt, wird unschwer erkennen, daß der gewählte Weg der richtige ist. Ich bedaure, daß von polnischer Seite - ich will ausdrücklich bestätigen: in einer gutwilligen Weise und mit voller Anteilnahme am Schicksal der Deutschen - der Vorschlag zu einem solchen Zeitpunkt kam, daß wir über die Gründe, die wir haben, noch gar nicht haben reden können. Ich bin ganz sicher, daß im Parlament - nicht auf meinen Rat hin, Herr Abgeordneter Scharping; auch da ist das, was Sie gesagt haben, der Wahrheit zuwider -, in seinen Gremien und auch im Bundesrat überlegt wird, erstens die Chance zu haben, einen Redner von Gewicht aus Polen bei uns in diesen Tagen als Gast zu sehen. Zum zweiten finden wir leicht eine Möglichkeit, bei dem Besuch des polnischen Staatspräsidenten hier im Deutschen Bundestag seine Rede mit jener Erwartung zu hören, die viele an diese Diskussion geknüpft haben.
Ich sage noch einmal: Wir wollen Ausgleich mit unseren polnischen Nachbarn. In den Ländern, die ich soeben angesprochen habe und die man bei einer solchen Einladung mit nennen muß, hat mir der eine oder andere bedeutet, daß er diese Einladung lieber nicht erhält, weil sie innenpolitisch Schwierigkeiten machen könnte. Das alles wissen auch Sie.
Lassen Sie uns bitte zur sachlichen Betrachtung zurückkehren. Man mag ja unterschiedlicher Meinung sein; das respektiere ich doch. Aber diese Verbalinjurien - hätte ich beinahe gesagt -, die Sie damit verbunden haben, sind der Sache nicht gemäß.
Ich komme zum letzten Punkt: Wissen Sie, Herr Abgeordneter Scharping, ich stelle mich gerne Ihrer Kritik an unserer Außenpolitik. Natürlich machen wir da auch Fehler, denn wir müssen ja fast täglich Entscheidungen treffen. Nur, die Vorstellung, daß die Regierung und ich isoliert seien, ist mir neu. Ich kenne nicht einen einzigen Amtskollegen in Europa - gleich welcher Partei -, der Ihren Wahlsieg am 16. Oktober gewünscht hat. Das wissen Sie doch wirklich selber.
Wenn Sie einmal unter echten Klausurbedingungen in der Sozialistischen Internationale mit Bezug auf die europäischen Länder nachfragen, werden Sie zu einem erstaunlichen Ergebnis kommen.
Sie können übrigens auch über die europäischen Grenzen hinausgehen: Sie finden auch in anderen Teilen der Welt wenig Anklang, und zwar deswegen, weil Sie sich völlig isoliert haben. Sie vertreten doch die Politik, daß die Deutschen dort, wo es darum geht, Vorteile zu haben, Teil der Völkergemeinschaft sind, sich aber dort, wo es darum geht, Verantwortung zu übernehmen oder gar Opfer zu bringen, drücken. Das ist doch Ihre Position.
Herr Abgeordneter Scharping, Sie müssen uns wirklich nicht loben; das kann niemand erwarten. Aber ich wäre dann wenigstens ruhig bei der Frage, ob die Bundesregierung, der Bundesaußenminister, der Bundeskanzler und die Koalition, die diese Politik trägt, international nicht das notwendige Ansehen genießen. Am Ende dieses Jahrhunderts, in fünf Jahren, nach zwei schrecklichen Weltkriegen, nach zwei schrecklichen Diktaturen - erst einer braunen und dann einer roten Diktatur in einem Teil Deutschlands -, nach dem Furchtbaren, was in deutschem Namen geschehen ist und auf immer mit dem Namen Auschwitz verbunden sein wird - viele Jahrestage im Jahr 1995 erinnern uns daran -, bin ich glücklich und stolz, daß die großen demokratischen Kräfte - das ist nicht nur eine Frage meiner Partei - nach 1945 und vor allem nach 1949 nach Gründung der Bundesrepublik, ein neues Bild von Deutschland geschaffen, genauer gesagt: erarbeitet haben.
Das ist uns nicht in den Schoß gefallen. Es waren Millionen Menschen daran beteiligt. Es waren die Gewerkschaften mit ihrer internationalen Arbeit genauso daran beteiligt wie auch viele deutsche Unternehmer und Unternehmungen, die weltweit arbeiten. Es war eine ganze Generation nachwachsender junger Leute - denken Sie nur an das Deutsch-Französische Jugendwerk - daran beteiligt. Denken Sie auch an die Sportverbände, denken Sie an die Arbeit der Kirchen. Ich könnte noch vieles hinzufügen.
Wir haben die Wiedervereinigung trotz aller Bedenken und Befürchtungen, daß sich die Deutschen doch nicht geändert haben könnten, mit Zustimmung all unserer Nachbarn erreicht. Zugegeben: Die Zustimmung war zum Teil etwas reserviert. Aber sie ist letztendlich gekommen. Am 3. Oktober 1990 haben sich viele in Europa - jetzt spreche ich nicht nur von den Regierungen, sondern von den Menschen - daran erinnert.
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Wenn ich daran denke - er hat dann zwar Probleme bekommen, weil Kurzsichtigkeit überall zu Hause ist -, daß der Ihnen nicht gänzlich unbekannte Wiener Bürgermeister an diesem Tag - nicht in Erinnerung an 1938, sondern in der Hoffnung auf die Zukunft - Schwarz-Rot-Gold auf dem Wiener Rathaus aufziehen ließ, in Erinnerung an Freundschaft und Partnerschaft zwischen Deutschen und Österreichern nach dem Zweiten Weltkrieg wenn ich daran denke, was wir etwa auf den Champs-Elysées erlebt haben, als das deutsch-französische Korps an den Feierlichkeiten zum 14. Juli teilgenommen hat, finde ich: Damit können wir uns sehen lassen.
Sie müssen das, was Sie glauben sagen zu müssen, sagen. Ich bin ganz zufrieden mit der Erkenntnis, daß Sie außerhalb und innerhalb der deutschen Staatsgrenzen für Ihre Meinung nicht nur keine Mehrheit, sondern nicht einmal eine minimale Zustimmung finden.
Wir werden unseren Weg weitergehen für eine Politik für Frieden und Freiheit, für eine Politik des Umdenkens in einer sich dramatisch verändernden Welt. Wolfgang Schäuble hat deutlich gemacht, Herr Solms hat deutlich gemacht, was angesagt ist: ein Umdenken, das eben nicht in der bequemen Form zu erreichen ist, indem wir überall Besitzstände erhalten. Vielmehr werden wir über Besitzstände reden müssen, um Prioritäten neu zu setzen und die Zukunft zu sichern.
Die Bundesregierung wird auf diesem Weg vorangehen. In diesem Sinne bitte ich um Ihre Zustimmung für den Haushalt. Ich sage Ihnen auch: Bei allen Diskussionen - das gehört zu einem aktiven politischen Leben in der Koalition - werden die Koalition von CDU/CSU und F.D.P. und diese Bundesregierung ihr Ziel erreichen, so wie in den vergangenen zwölf Jahren auch. Das ist immerhin ein Wort. Sie besteht bald länger als die Weimarer Republik. Deshalb hat unsere Politik auch Zustimmung gefunden.