Herr Kirschner, das weiß ich alles.
Sie wissen, daß wir die Beteiligten rückwirkend nicht rechtlich verpflichten können. Das ist völlig ausgeschlossen. Deshalb bin ich auf eine freiwillige Leistung der Pharmahersteller, des Deutschen Roten Kreuzes und anderer angewiesen. Wir haben mit ganz harten Verhandlungen 250 Millionen DM erreicht. Jetzt 250 Millionen DM zu bekommen mit der Folge, daß ein Aidserkrankter eine Nachzahlung bekommt und unter Einschluß der Zahlungen, die er durch den Soforthilfefonds schon bekommen hat, 1994 und 1995 insgesamt 108 000 DM und dann laufende Leistungen von 3 000 DM monatlich erhalten wird, das ist ein menschlich absolut vertretbares Angebot, bei dem ich den Betroffenen in die Augen schauen kann. Das ist kein Billigangebot!
Die Alternative wäre gewesen, Streit anzufangen. Dann würden wir in fünf Jahren noch verhandeln, dann würden wir möglicherweise in zehn Jahren noch Prozesse führen. Dann hätten wir vielleicht unser Gewissen beruhigt, aber den Betroffenen nicht geholfen. Ich bin für die Tat!
Herr Kirschner, ich hätte überhaupt nichts gesagt, wenn Sie gesagt hätten, der eine oder andere Beteiligte hätte noch mehr einbringen müssen. Aber daß Sie hier an die Länder Forderungen stellen, obwohl Sie in der Mehrheit der Länder politische Verantwortung tragen und die Länder mir gegenüber nicht mehr als 12,5 Millionen DM pro Jahr zu zahlen bereit gewesen sind, nenne ich politische Doppelzüngigkeit. Es wäre eigentlich ein Fall für den SPD-Vorsitzenden, hier einmal eine Koordination zwischen den SPD-geführten Ländern und der SPD-Bundestagsfraktion herbeizuführen.
Meine Damen und Herren, ein weiteres Thema: Bei dem in Deutschland jetzt modisch gewordenen wöchentlichen Wettbewerb um die schlechteste Nachricht ist diese Woche die Sozialhilfe dran.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle einige Bemerkungen dazu machen. Eine Reform des Bundessozialhilfegesetzes ist in der Koalition vereinbart. Niemand soll sich täuschen, auch noch so viele Kommentare werden es nicht verhindern: Die Sozialhilfereform kommt, wir werden sie durchsetzen. Sie ist notwendig: nicht, um die Menschen zu ärgern, sondern um ein Sozialsystem, das Anfang der 60er Jahre von der Union - nicht von der SPD - geschaffen wurde, auch für die Zukunft stabil zu halten, um auch in der Zukunft zu gewährleisten, daß Menschen, die Hilfe brauchen, Hilfe für ein menschenwürdiges Leben bekommen.
Heiner Geißler hat heute schon einmal dargestellt, daß alle großen Sozialgesetze der Bundesrepublik Deutschland die Handschrift der Union tragen, auch das Bundessozialhilfegesetz. Niemand beabsichtigt, die Axt an dieses Gesetz zu legen.
Ich verfolge drei Ziele - die Einzelheiten werden wir in der Koalition besprechen, entscheiden und dann öffentlich vertreten -: Mein erstes Ziel ist, wo immer es geht, Sozialhilfebedürftigkeit zu vermeiden. Das zweite Ziel ist, die Ausgabendynamik einzudämmen, und das dritte Ziel ist, einen gerechteren Einsatz von Sozialhilfeleistungen da und dort zu erreichen.
Die Vermeidung von Sozialhilfebedürftigkeit muß unsere erste gesellschaftspolitische Verpflichtung sein. Das habe ich schon zweimal im Deutschen Bundestag gesagt. Bei aller Reformnotwendigkeit des Systems, worauf ich gleich komme, müssen wir die Situation integral betrachten. Viele Ursachen für den Bezug von Sozialhilfe liegen außerhalb des Sozialhilferechts. Deshalb müssen wir dort ansetzen.
Da kann sich die Regierung allein mit den politischen Entscheidungen der letzten Wochen sehen lassen: 3 Milliarden DM für ein Sonderprogramm für Langzeitarbeitslose, Einführung der Pflegeversicherung, steuerliche Freistellung des Existenzminimums und eine massive Stärkung der Familienförderung. Das sind vier Entscheidungen aus den letzten vier Wochen, die alle miteinander das Sozialhilferecht entlasten, die Sozialhilfebedürftigen unterstützen und die Ausgaben der Kommunen massiv senken.
Das zweite ist die Eindämmung der Ausgabendynamik. Vorbehaltlich der Entscheidung in der Koalition: Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend jemand - einschließlich der Opposition - in der Bundesrepublik Deutschland etwas dagegen haben kann, wenn wir zeitlich befristet das fortsetzen, was die SPD mitbeschlossen hat, nämlich das Ansteigen der Sozialhilferegelsätze am Ansteigen der Nettolöhne der Arbeitnehmer zu orientieren.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand etwas dagegen hat. Wollen wir denn vertreten, daß die Renten um 1 % steigen und die Sozialhilfesätze um 5 %?
Bundesminister Horst Seehofer
Das wird doch niemand vertreten können! Wer kann denn etwas dagegen haben, wenn wir möglicherweise eine massive Entbürokratisierung der Sozialhilfe durchführen,
indem wir einmalige Beihilfen pauschalieren, um einen Riesenverwaltungsaufwand mit Prozessen im Gefolge zu verhindern, damit die Sachbearbeiter wieder mehr Zeit haben?
Was wird nicht alles zum Lohnabstandsgebot geschrieben! Die Verstärkung der Familienförderung und die Erhöhung des Kindergeldes sind die beste Maßnahme zur Erhöhung des Lohnabstandsgebots; denn wenn die Arbeitnehmer mehr Kindergeld bekommen, vergrößert das automatisch den Abstand zwischen einem Sozialhilfeempfänger und einem Arbeitnehmer mit Kindern.
Deshalb müssen wir auf dieser Schiene weiterfahren. Ist es denn so schlimm, über diesen Punkt nachzudenken? Meine Damen und Herren von der SPD, im Föderalen Konsolidierungsprogramm haben Sie exakt zu diesem Punkt eine Bestimmung mit in das Bundessozialhilfegesetz aufgenommen und zugestimmt, daß das Lohnabstandsgebot gewahrt bleiben muß. Das wollen wir weiter konkretisieren. Ist denn das so schlimm?
Da gibt es Leute, die konstruieren da einen Anschlag auf die Familienpolitik. Ich sage: Die beste Maßnahme in Sachen Lohnabstandsgebot ist eine Verstärkung der Familienförderung. Wenn ein Arbeitnehmer mit Kindern mehr Kindergeld bekommt, vergrößert sich automatisch der Abstand zu einem Sozialhilfeempfänger mit Kindern. Das ist das Richtige.
Was da oft für Unsinn kommentiert und geschrieben wird! Ich kann mir nicht vorstellen, daß das bewährte Prinzip aus der Krankenhausreform in der Sozialhilfe nicht Platz greifen soll. Die Ausgaben für die stationären Einrichtungen in der Sozialhilfe sind um 170 % gestiegen, die Zahl der Sozialhilfeempfänger nur um 25 %. Wir haben hier die gleiche Kostenexplosion wie bei den Krankenhäusern. Wollen wir denn warten, bis die Kostensteigerungen in den stationären Einrichtungen der Sozialhilfe dazu führen, daß wir die notwendigen Hilfen für Kranke, Pflegebedürftige und Behinderte in der Sozialhilfe nicht mehr bezahlen können? Warum können wir nicht auch hier das gleiche Prinzip verwirklichen, daß die Pflegesätze in den Einrichtungen nicht stärker steigen können als die Löhne? Wer will dagegen etwas haben?
Meine Damen und Herren, wer kann denn etwas dagegen haben, wenn künftig die Sozialhilfeträger - viele Kommunen leisten hier schon vobildliche Arbeit - Qualifizierungsmaßnahmen, Fortbildungsmaßnahmen, Lohnkostenzuschüsse bezahlen können oder wenn wir einem Arbeitnehmer, einem Langzeitarbeitslosen, der Arbeit aufnimmt, nicht sofort das volle Einkommen anrechnen, sondern dies, zeitlich befristet, degressiv gestalten, damit der Anreiz zur Arbeitsaufnahme und der Brückenschlag zur Arbeitswelt erhalten bleibt?
Meine Damen und Herren, ich bleibe auch dabei - das sagte ich schon zweimal im Deutschen Bundestag; deshalb bin ich jetzt so überrascht, daß das die große Bombe sein soll -, daß es eine kleine Minderheit gibt, die trotz angebotener Arbeit diese nicht aufnimmt. Es gibt schon eine Verpflichtung, wenn man gesund ist und eine Arbeit aufnehmen kann, Selbsthilfe durch Arbeitsaufnahme zu leisten und seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Wir müssen in der Koalition schon darüber reden, ob in diesen Ausnahmefällen auch einmal das Umsteigen auf eine Sachleistung und die Kürzung der Sozialhilfe möglich sein soll. Wie wollen wir denn sonst solche Menschen motivieren?
Lassen Sie mich auch noch etwas zu den Ausländern sagen. Ich bin weit entfernt von einer emotionalen Diskussion. Ich habe übrigens in den letzten Tagen in der Öffentlichkeit hierzu überhaupt nichts gesagt. Aber einer schreibt etwas, und der nächste schreibt wieder etwas usw. So ist das in Deutschland, in diesem Wettbewerb. Nichts wird aber verhindern, daß wir eine ordentliche Reform machen. Ich bin ganz sicher, daß ich mich am Schluß auch mit meiner Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen in einer großen Harmonie befinden werde.
Aber, meine Damen und Herren, es gehört auch zur Wahrheit - das sage ich jetzt sehr differenziert daß jeder dritte Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt Ausländer ist. Jetzt wiederhole ich das, was ich hier schon einmal gesagt habe - das sage ich nicht vorwurfsvoll; ich sage es aus folgender Überlegung -: Wir nehmen viele Zuwanderer, Bürgerkriegsflüchtlinge auf. Ich bin auch dafür, daß man Menschen, die um ihr Leben fürchten müssen, die in einem Bürgerkriegsgebiet leben, daß wir Frauen und Kindern aus solchen Regionen vorübergehend Schutz gewähren. Das gehört zu einer kultivierten Gesellschaft. Das möchte ich dick unterstreichen.
Nur, meine Damen und Herren, wenn die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland - Gott sei
Bundesminister Horst Seehofer
Dank - bereit ist, Menschen vorübergehend Schutz zu gewähren, wenn hierdurch Sozialhilfebedürftigkeit ausgelöst wird und aus diesem Grunde die Zahl der Sozialhilfeempfänger steigt, dann dürfen wir nicht zulassen, daß die steigende Zahl von Sozialhilfeempfängern gegen diese Gesellschaft und gegen die Politik gewendet wird, indem man sagt: Jetzt haben wir die neue Armut in Deutschland.
Deshalb, Frau Fuchs, lassen mich viele Kommentare, Meinungsumfragen usw. völlig kalt.
Frau Fuchs, wenn ich differenziert mit Menschen spreche, also nicht schwarz-weiß malend und nicht polemisch, dann sagen mir die Menschen: Lassen Sie sich nicht beeindrucken! Mir haben heute wieder Menschen gesagt: An diesem Beispiel sieht man, wie weit sich Sozialdemokraten schon von unserer Gesellschaft entfernt haben. Sie sind nicht einmal mehr bereit, über so etwas zu reden.
Nun noch kurz zu dem gerechteren Einsatz von Sozialhilfemitteln: Meine Damen und Herren, in meinem Konzept, das ich der Koalition vorschlagen möchte, steht auch, die Bezahlung von Behindertenarbeit in Werkstätten zu verbessern, weil das, was die Behinderten dort heute bezahlt bekommen, nicht gerecht ist.
Darüber schreibt niemand - oder die wenigsten. Es gehört auch zu meinem Konzept, zu versuchen, Obdachlosigkeit künftig da und dort zu verhindern, indem wir die Sozialhilfe verstärkt in die Lage versetzen, Dauermietschulden zu übernehmen und damit eine Zwangsräumung zu verhindern. Auch das ist ein humaner Ansatz.
Ich sage als letztes etwas zur gerechteren Ausgestaltung unseres Sozialsystems. Ich greife einen Vorschlag, den Ulf Fink zum erstenmal im Bundestag geäußert hat, gern auf. Es könnte in Deutschland 400 000 Sozialhilfeempfänger weniger geben, wenn andere Sozialsysteme und Sozialversicherungen, bei denen ein Antrag gestellt ist, bei denen aber keine Vorschüsse gewährt werden oder die Bearbeitungszeit zu lange dauert, dort, wo ein Anspruch dem Grunde nach berechtigt ist, selbst verstärkt mit Vorschüssen arbeiten würden, damit nicht die Sozialhilfeträger für einige Wochen einen Riesenapparat anwerfen müssen und die Kosten dann anschließend vom Sozialversicherungsträger wieder erstattet bekommen.
Meine Damen und Herren von der SPD, wir werden darüber öffentlich diskutieren, wenn die Koalition ihre Entscheidungen dazu getroffen haben wird. Das werden wir in aller Ruhe tun. Das müssen wir nicht mit Hektik machen. Dann werden wir darüber mit der Bevölkerung öffentlich diskutieren und auch die Argumente darlegen. Ich habe jetzt einmal die wirklich wichtigen Argumente dargelegt und nicht über das gesprochen, worüber in der Öffentlichkeit oft mit Halbwahrheiten und begrifflichen Verschiebungen diskutiert wird. Auch hierzu kann ich absolut stehen.
Das Sozialhilfegesetz bleibt die dritte Säule unseres Sozialstaats. Neben der Sozialversicherung und der Versorgung steht die Sozialhilfe. Niemand braucht sich zu schämen, wenn er als Behinderter, als Pflegebedürftiger, als Geschiedener, als Alleinerziehender Sozialhilfe in Anspruch nehmen muß. Das gehört zu einem Sozialstaat, wenn er seinen Namen zu Recht tragen will. Die Sozialhilfe mit einer menschenwürdigen Ausstattung bleibt erhalten.
Ich bedanke mich bei allen Mitgliedern des Haushaltsausschusses. Es ist ja nichts Neues, daß dort die Atmosphäre immer besser ist als bei den Reden hier im Plenum. Ich bedanke mich insbesondere dafür, daß wir bei der Lösung eines sehr schwierigen Problems eine sehr gute Unterstützung bekommen haben, nämlich vom Kollegen Roland Sauer und allen anderen Berichterstattern.
Ich möchte mich dafür bedanken, daß wir die Zahl der Planstellen für die Außenstellen unserer Institute in Berlin und in den neuen Bundesländern weitgehend erhalten konnten und daß dadurch die Schließung von Instituten in den neuen Bundesländern verhindert werden konnte.
Frau Fuchs, daß Sie in diesem Zusammenhang meine Staatssekretärin gelobt haben und nicht mich, trifft mich sehr und bereitet mir eine schlaflose Nacht.