Rede von
Dr.
Heiner
Geißler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe kaum die Chance, auf den Kollegen Schreiner richtig zu antworten. - Mein lieber Herr Schreiner - es sind jetzt eine ganze Reihe andere Abgeordnete hier im Raum -, ich möchte denen, die sich nicht täglich mit der Sozialpolitik beschäftigen, versichern, daß es bei uns in der Sozialpolitik - über die Parteigrenzen hinweg - nicht immer so zugeht wie in der letzten halben Stunde.
Herr Schreiner, Sie haben eine ganze Reihe von durchaus richtigen Fragen gestellt. Ich habe allerdings bei all dem, was Sie gesagt haben, nicht die Antworten darauf gefunden.
Sie haben teilweise zu Recht Kritik geübt. Was Sie über Armut, auch in Deutschland, gesagt haben, kann man nicht einfach vom Tisch wischen. Aber ich mache Sie auf der anderen Seite auch auf folgendes aufmerksam: Sie können doch nicht fast eine halbe Stunde eine Darstellung der Bundesrepublik Deutschland mit dem Inhalt geben, hier sei eine flächendeckende Verelendung vorhanden, dies sei ein Land, das sozialpolitisch kurz vor dem Absturz ins gesellschaftspolitische Chaos stehe. Aber drei Sätze später, wenn es Ihnen in den Stiefel paßt, dann erklären Sie, daß Deutschland als eines der reichsten Länder der Welt doch in der Lage sein müsse, eine andere Entscheidung über Leistungen für Asylbewerber zu treffen.
Also entweder das eine oder das andere!
Ich muß schon sagen - ich will keine billige Polemik machen -,
es wäre ganz gut, wenn man sich, außer sich stichprobenartig in einem bestimmten Land umzusehen,
einmal grundlegend informieren würde, wie andere
Dr. Heiner Geißler
Länder in Europa oder in Übersee die sozialpolitische Situation in Deutschland beurteilen. Alle Schwierigkeiten, die wir haben, die aber auch darauf zurückzuführen sind, daß wir bis auf den heutigen Tag eine Erblast im anderen Teil Deutschlands, in den neuen Bundesländern, von 57 Jahren Diktatur aufarbeiten müssen, haben wir in der Beurteilung anderer Länder gut bewältigt.
Ungeachtet der Schwierigkeiten, die wir miteinander bewältigen müssen, sage ich dennoch: Wenn man sich im Ausland informieren will, bekommt man bestätigt, daß trotz dieser enormen Schwierigkeiten Deutschland ein Land mit hohen Löhnen - mit im Vergleich zu vielen Ländern höchsten Löhnen -, mit einem am besten ausgebauten Arbeitsrecht - mit Kündigungsschutz, Mitbestimmung, Betriebsverfassungsgesetz -, mit sicheren Renten, dem besten Gesundheitssystem aller Industrieländer der Welt und mit Preisstabilität ist.
Und, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Sozialdemokratischen Partei, im Blick auf 14 von 16 Ländern der Bundesrepublik Deutschland, die zumindest zu 50 auch für die soziale Ordnung in Deutschland Verantwortung tragen, finde ich die Rede, die Sie gerade gehalten haben, absolut unangemessen gegenüber dem, was wir in Deutschland in den vergangenen 45 Jahren für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner geleistet haben.
Ich hatte mich auf diese Rede mit der Absicht vorbereitet, auf Polemik einer Partei nicht mit Gegenpolemik zu antworten. Lassen wir doch diese billige Geschichte! Ich möchte vielmehr etwas zu den Mächten und Kräften außerhalb dieses Parlamentes sagen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.
Wir erleben zur Zeit - das ist meine Beurteilung - wieder eine typische Welle. Das hat Norbert Blüm gerade an dem Beispiel der Pflegeversicherung erfahren müssen. Auch ich habe meine Erfahrungen - vielleicht mehr als Sie -, machen müssen, wenn es darum geht, neue Leistungen einzuführen, Reformen in der Sozialpolitik zu realisieren. Ich weiß, wie es dann zugeht.
Als ich mit der Einführung von Sozialstationen in Rheinland-Pfalz begonnen habe, habe ich nach einem Jahr zu mir selber gesagt: Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, wir hätten das gar nicht gemacht. - Es gab nur Kritik. Dem einen Träger haben 100 DM gefehlt, dem anderen Träger etwas anderes. Dennoch haben die Sozialstationen einen Siegeszug durch die ganze Bundesrepublik Deutschland angetreten.
Wir haben heute wie selbstverständlich den Erziehungsurlaub, die Anerkennung von Erziehungsjahren und - in Ablösung des Mutterschaftsgeldes, das es für vier Monate gegeben hat - das Erziehungsgeld. Als wir das eingeführt haben, gab es in den ersten Monaten nur Lärm, Streit, Ärger und Unzufriedenheit. Aber es waren Reformen, die sich durchgesetzt haben.
Jetzt sind wir bei der Pflegeversicherung - fast zwei Millionen Pflegebedürftige! -; wir haben sie miteinander beschlossen. Anstatt in den Chor derer mit einzustimmen, die schwarzmalen, anstatt eine Politik zu betreiben, wie sie im Moment von außen gefordert wird, anstatt an Einzelfällen die Problematik hochzuziehen, sollten wir miteinander befriedend dem deutschen Volk die Informationen vermitteln, die notwendig sind, um die Menschen, die sich selber nicht helfen können, die auf unsere Informationen angewiesen sind und für die wir das alles gemacht haben, richtig zu informieren. Wir sollten sie nicht aufheizen und die Sache nicht dadurch verschlimmern, daß wir die Dinge nicht richtig darstellen.
Das hängt alles mit einer Entsolidarisierung, die ich empfinde, zusammen. West gegen Ost z. B.: Dafür sorgen Politiker und Journalisten aller Schattierungen, die Verschwendung anprangern, die aber die Folgekosten - ich sage es noch einmal - von 57 Jahren Diktatur nicht mehr solidarisch tragen wollen.
Ost gegen West - auch das erleben wir in Ost-Berlin und in den neuen Ländern -: Dafür sorgen die Nachfolger der SED, die die ganze Sache angerichtet haben, und diejenigen, die sich mit ihnen verbünden.
Wir haben hier eine Entsolidarisierung, die wir im wesentlichen außerhalb dieses Hauses erleben, und das stimmt mich bedenklich.
Die Pflegeversicherung ist gerade noch einmal gutgegangen. Sie wäre fast am Egoismus der Interessengruppen gescheitert. Gott sei Dank haben wir uns hier noch einmal zusammengefunden. Aber ein solches Theater in einem Land mit den meisten bezahlten Feiertagen und mit den meisten bezahlten Urlaubstagen zu veranstalten, wenn wir wollen, daß die Deutschen acht Stunden im Jahr mehr arbeiten, damit zwei Millionen der Hilflosesten in diesem Land endlich zu ihrem Recht kommen
- da mache ich keinen Unterschied zwischen den Parteien und den Ländern, den Kirchen und den Gewerkschaften -, empfinde ich als einen sozialpolitischen Skandal ersten Ranges in diesem reichen Land, lieber Herr Schreiner, von dem Sie gerade geredet haben.
Was mich bei der sozialen Frage am meisten bedrückt, ist, daß Leistungsfähige gegen Behinderte, Beitragszahler gegen Pflegebedürftige aufgehetzt werden sollen. Jetzt erleben wir wieder etwas Neues: Pseudowissenschaftlich vorbereitet, wird ein neuer Generationenkonflikt - Jung gegen Alt, Alt gegen
Dr. Heiner Geißler
Jung - von wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Instituten über hochgestellte Einrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland bis hin - ich muß es sagen; an sich brauchte man es nicht zu erwähnen; aber in der öffentlichen Diskussion spielt es halt eine Rolle - zu Ihrer Heidi Schüller konstruiert, von der Sie sich Gott sei Dank distanziert haben. Trotzdem empfinde ich es als einen Skandal, wenn gesagt wird, wir alle miteinander würden zugunsten der Alten unberechtigterweise eine Politik zu Lasten der jungen Leute treiben. Wer in dieser Form Junge gegen Alte aufhetzt, der zerstört die Grundlagen des Generationenvertrages, auf dem unsere Sozialversicherung aufgebaut ist.
Das eine ist mir auch klar: Ob es Frau Schüller oder die Bundesbank oder wirtschaftswissenschaftliche Institute sind, es läuft im Ergebnis immer auf dasselbe hinaus: Die Renten sollen gekürzt werden, und das ist eine ernsthafte Herausforderung. Da sollten wir hier nicht solche Reden halten, sondern erkennen, worum es im Moment geht. Was wir an rentenpolitischer Diskussion zur Zeit haben, ist psychologisch verheerend, ökonomisch falsch und sozialpolitisch nicht zu verantworten. Ich würde hierzu gern noch mehr sagen, aber die Zeit reicht nicht; ich gebe zu Protokoll, was ich sagen wollte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was die Rentenpolitik anbelangt, sind wir - davon bin ich zutiefst überzeugt - auf dem richtigen Weg. Wir müssen verändern, aber wir müssen auch verteidigen. Das ist wahr. Das war eine völlig richtige Aussage, Frau Albowitz; ich bedanke mich bei Ihnen für das, was Sie zum Rentenversicherungssystem gesagt haben. Auch unter ökonomischen Gesichtspunkten gibt es keinen vernünftigen Grund für Kürzungen. Es gilt das alte Mackenrothsche Gesetz: Alles, was an sozialem Aufwand in einem Jahr geleistet wird, muß auch in dem betreffenden Jahr erarbeitet werden. Ob es im Umlageverfahren oder im Kapitaldekkungsverfahren finanziert wird, es muß immer aus der Volkswirtschaft mit ihren Arbeitsplätzen heraus erwirtschaftet werden. Nur, die im Umlageverfahren erwirtschaftete leistungsbezogene Rente im Alter - unser gemeinsames Ergebnis, um das uns die ganze Welt beneidet - hat den großen Vorteil gegenüber allen anderen Rentensystemen, daß sie demjenigen, der ein erfülltes Arbeitsleben hinter sich hat, auch im Alter seinen erarbeiteten Lebensstandard garantiert, wohingegen jede Grundrente dies nicht leisten kann und letztendlich die Menschen im Alter zur Bedürftigkeit und zur Armut verurteilt.
Wir haben in der westlichen Welt zwei Systeme: Wir haben die Soziale Marktwirtschaft, die in Deutschland entwickelt worden ist, und wir haben das angelsächsische System. Die Soziale Marktwirtschaft hat Sozial-, Finanz- und Wirtschaftspolitik immer als eine Einheit gesehen. Sie hat vom Prinzip her die Aufgabe, alle am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt teilhaben zu lassen, auch diejenigen, die sich nicht im Produktionsprozeß befinden und nicht über die Droh- und Störpotentiale verfügen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Das ist Soziale Marktwirtschaft.
Und wir haben das angelsächsische System, in dem man sich mehr schlecht als recht auf die Verhinderung der Armut beschränkt und eine Zweidrittelgesellschaft in Kauf nimmt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen daran arbeiten, daß die Soziale Marktwirtschaft, die erfolgreich und auch für andere Länder vorbildlich gewesen ist, durch diese außerhalb des Parlaments über die Renten geführte Diskussion nicht kaputtgemacht wird. Es gibt auch Ergebnisse und Erfolge in 40, 45 Jahren Politik, die man im Interesse derjenigen verteidigen muß, die nach uns kommen.
Vielen Dank.