Rede von
Dr.
Konstanze
Wegner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zunächst einige allgemeine Bemerkungen zur sozialen Lage in Deutschland und zur gegenwärtigen Diskussion um den Sozialstaat. Vor diesem Hintergrund möchte ich anschließend etwas zum Entwurf des Einzelplans 11 und zu seinen Veränderungen, die er im Zuge der Haushaltsberatungen erfahren hat, sagen.
In dem Positionspapier zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, das Verantwortliche der evangelischen und der katholischen Kirche 1994 herausgegeben haben, wird soziale Gerechtigkeit folgendermaßen definiert:
Soziale Gerechtigkeit verlangt, daß alle Bürger an Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten der Gesellschaft teilnehmen können.
Wird dieser Definition im Alltag des wiedervereinigten Deutschlands des Jahres 1995 entsprochen? Ich sage klipp und klar nein. Dieses Nein will ich auch begründen.
Um mich aber nicht dem Vorwurf einseitiger Schwarzmalerei auszusetzen, sage ich zu Beginn ausdrücklich, daß Deutschland insgesamt gottlob ein wohlhabendes Land ist, in dem es etwa einem Drittel der Bevölkerung gut bis sehr gut und einem weiteren Drittel zufriedenstellend geht.
Wir blicken inzwischen auf fast fünf Jahrzehnte politischer und wirtschaftlicher Stabilität zurück. Dies verdanken wir vor allem dem Einsatz der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in diesem Land,
den vielen Frauen, die die Familienarbeit machen - leider sind das in unserem Land noch immer überwiegend die Frauen, den Gewerkschaften und einem immer noch leistungsfähigen und innovationsfreudigen Mittelstand.
Aber folgendes ist unübersehbar: Das System der sogenannten Sozialen Marktwirtschaft zeigt zunehmend Mängel. Im letzten Jahrzehnt hat sich Armut in unserem Land ausgebreitet. Die großen Wohlfahrtsverbände haben darauf seit Jahren hingewiesen, und jetzt tun es auch die Kirchen. Das müßte eigentlich gerade diejenigen unter den Regierungsparteien, die sich christlich nennen, zum Nachdenken anregen.
Laut Aussage der Arbeiterwohlfahrt sind von Armut heute vorrangig Kinderreiche, Arbeitslose, Alleinerziehende, Kleinrentnerinnen, chronisch Kranke und Obdachlose betroffen. 1994 hatten wir mit einem Jahresdurchschnitt von 3,7 Millionen registrierter Arbeitsloser den Höchststand der Arbeitslosigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Daran beträgt der Anteil der Langzeitarbeitslosen - das ist besonders bedrükkend - 1,2 Millionen. Nach Schätzungen der Wohlfahrtsverbände sind derzeit etwa 10 % der Bevölkerung dauernd und 15 % immer wieder, also zeitweise, von Armut betroffen. Ich glaube, mit einer solchen Bilanz kann man sich nicht einfach zufriedengeben.
Von konservativer Seite ist nun immer wieder zu hören, in Deutschland müsse ja niemand verhungern, deshalb sei Armut kein Thema für die Politik, sondern höchstens eine Art überzogenen Anspruchsdenkens. Ein derartig verengter Armutsbegriff ist auf Deutschland nicht anwendbar - wenn überhaupt, dann auf die Verhältnisse in der Dritten Welt.
Armut in Deutschland bedeutet heute - abgesehen von einer Minimalversorgung im Bereich Nahrung, Kleidung und Wohnung - den fast völligen Verzicht auf Teilhabe am kulturellen und sozialen Leben; d. h. Ausgrenzung aus der Gesellschaft, fehlende Entfaltungsmöglichkeiten und Perspektivlosigkeit, und dies für immer mehr junge Leute.
Eine solche Situation ist sozial ungerecht und kulturell beschämend.
Dr. Konstanze Wegner
Sie ist auch eine der Ursachen für den wiederaufkommenden Rechtsextremismus und die wachsende Fremdenfeindlichkeit in unserem Land.
- Das ist kein dummes Zeug. - Sie machen sich bei einer Politik, die diese Zusammenhänge ignoriert, mitschuldig am Abbau der demokratischen Substanz unseres Staates.
Damit setzen Sie die im Grunde positiven Leistungen, an denen Sie selbst mitgewirkt haben, aufs Spiel. Dazu komme ich noch.
Wie läuft das denn im 13. Regierungsjahr des Kanzlers Kohl in Deutschland?
Statt zu versuchen, die nun wirklich vielfach aufgezeigten und analysierten Mängel zu beheben, wird in der Wirtschaft, in den Parteien, in den Medien und an den deutschen Stammtischen eine teilweise abenteuerliche Diskussion über die Zukunft des Sozialstaates geführt, der angeblich wegen des weit verbreiteten Mißbrauchs sozialer Leistungen und des fehlenden Lohnabstandsgebots nicht länger finanzierbar sei. Ich halte diese Diskussion für oberflächlich und teilweise für regelrecht verlogen. Ich will das hier ganz deutlich sagen.
Natürlich gibt es in allen großen Versicherungssystemen Mißbrauch, und es ist die Pflicht der Verantwortlichen - das ist in diesem Fall vor allem die Regierung -, diese Mißbräuche zu verfolgen und dafür zu sorgen, daß soziale Leistungen vor allem denen zugute kommen, die sie wirklich brauchen.
- Ich bitte Sie, wer so laut über Sozialbetrug jammert wie Sie, sollte aber auch ehrlich genug sein, zur Kenntnis zu nehmen, daß zwei Drittel der Kosten des sogenannten Sozialbetrugs in unserem Land zu Lasten der Arbeitgeber gehen.
Was das angeblich verletzte Lohnabstandsgebot angeht, so hat - das ist hier schon oft gesagt worden; aber scheinbar muß man es immer wiederholen - eine vom Familienministerium in Auftrag gegebene Studie klar erwiesen - solange Herr Seehofer mir nicht das Gegenteil nachweist, werde ich daran festhalten -, daß das Abstandsgebot in der Regel gewahrt ist und nur in etwa 10 % der Fälle, nämlich bei den Familien unter den Sozialhilfeempfängern, die viele Kinder haben,
die Sozialhilfeempfänger zu nahe an die niedrigen Lohngruppen heranrücken. Das liegt aber überhaupt nicht an etwa zu üppig bemessenen Sozialhilfesätzen, sondern schlicht und einfach daran, daß wir seit Jahren einen völlig unzureichenden Familienlastenausgleich haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünschte mir einmal anstelle einer Stammtischdiskussion über Sozialmißbrauch und angeblich zu luxuriösen Sozialhilfesätzen, daß in unserem Land ähnlich engagiert über die Steuerhinterziehung diskutiert würde.
Hier gehen dem Staat in der Tat jährlich dreistellige Milliardenbeträge verloren, und auf dieses Geld wäre er angesichts der leeren Kassen und der horrenden Verschuldung, in die Sie uns geführt haben, wirklich angewiesen.
Zu Selbstgerechtigkeit besteht also nicht der geringste Anlaß in der deutschen Politik, auch nicht im Bereich der Sozialpolitik. Die Regierungsparteien haben die Zunahme der Armut durch ihre Politik der letzten Jahre entscheidend mit zu verantworten.
- Hören Sie nur zu, Herr Austermann! Mittels der sogenannten Konsonantengesetze FKP und SKWP haben Sie 1994 allein im Sozialbereich rund 23 Milliarden DM gekürzt. Zur Zeit bereiten Sie eine weitere Kürzung im Bereich der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe vor. Sie haben die sogenannte Gerechtigkeitslücke vergrößert, indem Sie die Kosten der Einheit zu großen Teilen über die Sozialversicherungssysteme finanzieren und - das halten wir für besonders verkehrt - indem Sie den Solidaritätszuschlag auch von den niedrigen und mittleren Einkommen erheben, die ohnehin seit Jahren verfassungswidrig zu hoch besteuert werden.
Wie ist nun der Haushaltsplan des Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung vor diesem Hintergrund zu bewerten? Bevor ich mich einigen Schwerpunkten des Einzelplans zuwende, möchte ich mich bei meinen Mitberichterstattern und beim Ministerium bedanken. Die Beratungen fanden in einer sachlichen und fairen Form statt, und das Haus hat uns zügig und korrekt zugearbeitet.
Zunächst das Erfreuliche - es gibt ja nie nur schwarz und weiß in der Politik -: Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik wurden einvernehmlich einige positive Zeichen gesetzt. Das ausgelaufene Langzeitarbeitslosenprogramm wurde mit einem Gesamtvolumen von rund 3 Milliarden DM bis 1999 verlängert, die Erstattung für Maßnahmen nach den §§ 249h und 242s AFG wurde um 240 Millionen DM aufgestockt, die Modellmaßnahme zur Förderung neuer
Dr. Konstanze Wegner
Wege in der Arbeitsmarktpolitik ebenso und gleichfalls auch die Zuschüsse zur Errichtung und Modernisierung von Pflegeeinrichtungen auf insgesamt 83 Millionen DM.
Jetzt kommt aber der negative Teil, lieber Kollege Fuchtel; denn ein Vielfaches von dem, was die Koalition mit der einen Hand gegeben hat, hat sie mit der anderen durch die Kürzung des Zuschusses an die Bundesanstalt für Arbeit wieder weggenommen. Das ist auch der Hauptgrund, weshalb wir diesen Einzelplan ablehnen werden. Sie haben diesen Ansatz schon zu Anfang gegen den Willen der Mehrheit des Verwaltungsrates um 3,5 Milliarden DM und in der Bereinigungssitzung ganz zum Schluß auf Wunsch des Finanzministers noch einmal um weitere 3,5 Milliarden DM auf insgesamt nur noch 8 Milliarden DM gekürzt.
Wir sind überzeugt, daß diese Kürzungen durch die gegenwärtige Lage am Arbeitsmarkt nicht gerechtfertigt sind.
Sie degradieren die Bundesanstalt für Arbeit damit schlicht zum „Einsparschwein" des Bundesfinanzministers.
Die GRÜNEN haben den Antrag gestellt, den ursprünglichen Ansatz wiederherzustellen. Er ist in der Sache richtig. Aber leider haben Sie für die 3,5 Milliarden DM keinen Deckungsvorschlag vorgelegt.
Bei der Bundesanstalt selbst sind 1994 insgesamt 2 Milliarden DM Mittel für Forschung, Umschulung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, also ausgerechnet für aktive Arbeitsmarktpolitik, nicht abgeflossen. Das ist wirklich ein Skandal, denn alles, was hier versäumt und an der falschen Stelle eingespart worden ist, wird mit einer Erhöhung der Langzeitarbeitslosigkeit bezahlt werden müssen und letztlich in Ihren Haushalt zurückkommen und schließlich an die Kommunen weitergedrückt werden.
Um so unverständlicher ist, daß die Koalition den Ansatz für die Arbeitslosenhilfe von ursprünglich 19,4 Milliarden DM auf 18 Milliarden DM gekürzt hat. Der Präsident der Bundesanstalt, Herr Jagoda - sicher kein Linker -, hat im Fachausschuß vor einer Kürzung gewarnt und wörtlich gesagt:
Ich prognostiziere, daß die Arbeitslosenhilfe nicht rückläufig sein kann, weil die Langzeitarbeitslosigkeit steigt.
Die Arbeitsmarktpolitik dieser Regierung orientiert sich vollkommen an dem Prinzip „stop and go", und sie ist willkürlich und ohne erkennbare Konzeption.
Sie hätten das Langzeitarbeitslosigkeitsprogramm
gar nicht erst auslaufen lassen dürfen, denn jetzt
muß es mit enormem Arbeits-, Kosten- und Publicity-aufwand mühsam wieder angekurbelt werden.
- 6 Millionen DM habt Ihr Euch zusätzlich an Öffentlichkeitsarbeit bewilligt.
Was wir brauchen, ist endlich Stetigkeit und Berechenbarkeit in der Arbeitsmarktpolitik und ein Gesamtkonzept zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, das u. a. auch eine Reform des - darauf haben meine Kollegen immer wieder hingewiesen - mittlerweile völlig unlesbaren AFG und eine neue Regelung der Arbeitszeit in Deutschland beinhalten muß.
Lassen Sie mich zum Schluß noch auf einige Einzelpunkte eingehen. Die Eingliederungshilfen für Spätaussiedler dürfen künftig nicht noch weiter gekürzt werden. Andernfalls werden neue Gruppen von Sozialhilfeempfängern geschaffen, und damit würde dann wieder einmal eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe den Kommunen zugeschoben.
Ihre Regierungskommission zur Durchleuchtung des sozialen Systems, die Sie sich für 1,2 Millionen DM bewilligen wollen, lehnen wir schlicht ab.
Wir halten sie einfach für überflüssig. Im Bundesfinanzministerium und im Bundesarbeitsministerium steht hinreichender Sachverstand zur Verfügung, liebe verehrte Frau Albowitz, wenn solche Fragen einer Klärung bedürfen sollten. In Ihrer Regierung ist derzeit eine wahre Kommissionitis ausgebrochen.
Wenn Sie nicht weiter wissen, setzen Sie eine Kommission ein, aber die Ergebnisse dieser Kommission landen regelmäßig als Direktablage im Papierkorb. Das ist wirklich herausgeworfenes Geld, und es ist außerdem eine Mißachtung der einbezogenen Wissenschaftler.
Der Mittelabfluß beim wichtigen Bereich Arbeitsschutz ist unbefriedigend. Hier muß sich die Regierung stärker engagieren. Wenn das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung stolz „Zahl der Arbeitsunfälle rückläufig" meldet, sollte es der Ehrlichkeit halber auch erwähnen, daß die Anzahl der tödlichen Unfälle in den Betrieben um über 9 % gestiegen ist und daß in Deutschland überhaupt nur ein Drittel aller Arbeiter und Arbeiterinnen gesund und in Arbeit befindlich das Rentenalter erreicht.
Bei der Öffentlichkeitsarbeit hat das Haus wieder zugeschlagen. Über 30 Millionen DM, abgesehen von den Mitteln für Fachinformationen, stehen dem Ministerium zur Verfügung. Da werden wir wieder
Dr. Konstanze Wegner
viele schöne Broschüren und Anzeigen mit Konterfeis und Vorworten unseres Arbeitsministers zu sehen bekommen. Daran habe ich nicht die geringsten Zweifel.
Beim Personalhaushalt sind die bescheidenen Wünsche des örtlichen Personalrats und des Hauptpersonalrats leider in keiner Weise berücksichtigt worden. Die Koalition war bereit, beim Bundesarbeitsgericht drei zusätzliche befristete Stellen für den Aufbaustab in Erfurt zu genehmigen. Das war sicher eine richtige Entscheidung.
Das Bundesarbeitsgericht wird eine der ersten Behörden sein, die auf Grund des Beschlusses der Föderalismuskommission umzieht. Ich erinnere daran: Die den dort Beschäftigten zugesagten sozialverträglichen Maßnahmen, nämlich Personalbörse und Wohnungsförderung, müssen eingehalten werden. Der Umzug des Bundesarbeitsgerichts wird auch ein Testfall dafür werden, wie der Bund zu seinen Versprechungen im Zusammenhang mit dem beschlossenen Umzug nach Berlin steht.
- Zum Minister komme ich gleich.
Niemand wird Minister Blüm echtes soziales Engagement absprechen. Aber, Herr Minister, Sie sind nicht nur ein engagierter Sozialpolitiker, Sie sind auch ein begnadetes Showtalent. Wenn Sie die Hand aufs Herz legen und zum Himmel blicken, dann kommt unweigerlich Rührung im Saal auf.
Ihre Politik, Herr Minister, ist jedoch außerordentlich widersprüchlich. Einerseits bekennen Sie sich immer und überall zum Erhalt des Sozialstaats, andererseits können wir Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, daß Sie mit Ihrer Politik und der Politik der Regierungsparteien, die Sie mitvertreten, auch zur Aushöhlung und zum Abbau dieses Sozialstaats beitragen.
Eine solche Politik führt aber zur Ausgrenzung immer breiterer Schichten unserer Bevölkerung und zur Stärkung extremistischer Kräfte. Was wir brauchen, ist nicht Abbau und Aushöhlung des Sozialstaats; was wir brauchen, ist die Stärkung und die Modernisierung des Sozialstaats.
Vielen Dank.