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    Plenarprotokoll 13/30 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 30. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 Inhalt: Tagesordnungspunkt I: Fortsetzung der zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1995 (Haushaltsgesetz 1995) (Drucksachen 13/50, 13/414) Einzelplan 06 Bundesministerium des Innern (Drucksachen 13/506, 13/527) in Verbindung mit Einzelplan 33 Versorgung (Drucksachen 13/524, 13/527) in Verbindung mit Einzelplan 36 Zivile Verteidigung (Drucksachen 13/525, 13/527) Uta Titze-Stecher SPD 2131 D Dr. Klaus-Dieter Uelhoff CDU/CSU . . 2136A Uta Titze-Stecher SPD 2136C Günter Graf (Friesoythe) SPD . . . 2137A Rezzo Schlauch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2138D Ina Albowitz F.D.P. 2140C Ulla Jelpke PDS 2143C Manfred Kanther, Bundesminister BMI 2145A Dr. Winfried Wolf PDS . 2147B Otto Schily SPD . . . . . . . . . 2148A Erwin Marschewski CDU/CSU 2150 B Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. . . . . 2151 D Einzelplan 07 Bundesministerium der Justiz (Drucksachen 13/507, 13/527) in Verbindung mit Einzelplan 19 Bundesverfassungsgericht (Drucksache 13/527) Gunter Weißgerber SPD 2153 D Manfred Kolbe CDU/CSU 2156 A Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2158A Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . . 2159C Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2159D Uta Titze-Stecher SPD . . . . . . . 2160 B Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 2161 B Dr. Susanne Tiemann CDU/CSU . . . 2162B Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD 2164 A Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ 2166B Norbert Geis CDU/CSU 2167 B Hermann Bachmaier SPD 2167 D Otto Schily SPD 2168 B Einzelplan 11 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Drucksachen 13/511, 13/527) Dr. Konstanze Wegner SPD 2169 B Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU 2172 C Uta Titze-Stecher SPD 2174 A Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2174D Dr. Gisela Babel F.D.P 2175B, 2192D Ina Albowitz F.D.P. 2178A Dr. Heidi Knake-Werner PDS 2179D Dietrich Austermann CDU/CSU . . . 2181 D Antje Hermenau BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2182C Dr. Gisela Babel F.D.P 2184D Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 2186A Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 2187C Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . 2189C Dr. Norbert Blüm CDU/CSU 2190A Ottmar Schreiner SPD 2190 B Volker Kauder CDU/CSU 2191 A Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU . . . 2194A Horst Seehofer CDU/CSU 2195A Jürgen W. Möllemann F.D.P. 2196D Heiner Geißler CDU/CSU . . . . . . . 2197 C Einzelplan 30 Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (Drucksachen 13/522, 13/527) Dieter Schanz SPD 2200 D Steffen Kampeter CDU/CSU 2204 C Antje Hermenau BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2206B Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P 2207 C Dr. Ludwig Elm PDS 2209 A Christian Lenzer CDU/CSU 2210B Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister BMBF . . . . . . . . . . . . . . . 2211 C Einzelplan 17 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Drucksachen 13/517, 13/527) Siegrun Klemmer SPD . . . . 2215A Peter Jacoby CDU/CSU . . . . . . . . 2219B Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . 2221 A Heinz Lanfermann F.D.P 2222 B Heidemarie Lüth PDS 2223 D Claudia Nolte, Bundesministerin BMFSFJ 2224 C Christel Hanewinckel SPD 2226 A Maria Eichhorn CDU/CSU 2227 C Einzelplan 15 Bundesministerium für Gesundheit (Drucksachen 13/515, 13/527) Gerhard Rübenkönig SPD . . . . . . 2228 D Roland Sauer (Stuttgart) CDU/CSU . . . 2232B Uta Titze-Stecher SPD 2232 C Kristin Heyne BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2234 D Dr. Dieter Thomae F.D.P 2236B Dr. Ruth Fuchs PDS 2237 C Horst Seehofer, Bundesminister BMG 2238 C, 2243 C Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2239 A Klaus Kirschner SPD 2239 D Klaus Kirschner SPD . . . . . . . . 2243 A Einzelplan 16 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Drucksachen 13/516, 13/527) Eckart Kuhlwein SPD 2244 A Arnulf Kriedner CDU/CSU 2247 A Kristin Heyne BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2249 A Steffen Kampeter CDU/CSU 2250C Birgit Homburger FD P. 2250D Rolf Köhne PDS 2253 A Dr. Angela Merkel, Bundesministerin BMU . . . . . . . . . . . . . . . . 2253D Ulrike Mehl SPD 2256 A Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/ CSU . . . . . . . . . . . . . . . 2257 C Uta Titze-Stecher SPD 2258 B Einzelplan 25 Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Drucksachen 13/521, 13/527) Dr, Rolf Niese SPD 2259C Herbert Frankenhauser CDU/CSU . . 2262D Dieter Pützhofen CDU/CSU 2263 B Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 2265 C Jürgen Koppelin F.D.P 2267 A Klaus-Jürgen Warnick PDS 2268 C Gert Willner CDU/CSU 2269 B Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMBau 2271 A Einzelplan 12 Bundesministerium für Verkehr (Drucksachen 13/512, 13/527) Hans Georg Wagner SPD 2274 B Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2278B, 2280 C Bartholomäus Kalb CDU/CSU 2279 B Rainder Steenblock BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . 2281D Bartholomäus Kalb CDU/CSU . . . . 2283 B Dr. Dionys Jobst CDU/CSU 2283 D Horst Friedrich F.D.P. . . . . . .. . 2284 B Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU . . . 2285 C Matthias Wissmann, Bundesminister BMV 2287B Einzelplan 13 Bundesministerium für Post und Telekommunikation (Drucksachen 13/513, 13/527) Hans Martin Bury SPD 2289 D Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein CDU/CSU 2294 C Dr. Manuel Kiper BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2296C Jürgen Koppelin F.D.P 2298 A Gerhard Jüttemann PDS 2299 B Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister BMPT 2300C Einzelplan 10 Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Drucksachen 13/510, 13/527) Ilse Janz SPD 2302D Bartholomäus Kalb CDU/CSU 2307 B Ulrike Höfken-Deipenbrock BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 2309 C Dr. Günther Maleuda PDS . . . . 2310 D Meinolf Michels CDU/CSU 2311D Jochen Borchert, Bundesminister BML 2313A Erweiterung der Tagesordnung 2315A Zusatztagesordnungspunkt: Beratung des Antrages der PDS: Einladung von Repräsentanten aller Länder, die Opfer des von Nazi-Deutschland ausgegangenen Aggressionskrieges wurden (Drucksache 13/965) . . 2315 A Nächste Sitzung 2315 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 2317* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt I 22 (Haushaltsgesetz 1995 - Einzelplan 12 - Bundesministerium für Verkehr) Dr. Dagmar Enkelmann PDS 2317* A Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt I 23 (Haushaltsgesetz 1995 - Einzelplan 13 - Bundesministerium für Post und Telekommunikation) Elmar Müller (Kirchheim) CDU/CSU , 2318* A Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt I 24 (Haushaltsgesetz 1995 - Einzelplan 10 - Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten) Jürgen Koppelin F.D.P. . . . . . . . 2319* C 30. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Adler, Brigitte SPD 29. 03. 95 Büttner (Ingolstadt), SPD 29. 03. 95 Hans Büttner (Schönebeck), CDU/CSU 29. 03. 95 Hartmut Gansel, Norbert SPD 29. 03. 95 Dr. Hartenstein, Liesel SPD 29. 03. 95 Heym, Stefan PDS 29. 03. 95 Meißner, Herbert SPD 29. 03. 95 Tippach, Steffen PDS 29. 03. 95 Vergin, Siegfried SPD 29. 03. 95 Welt, Jochen SPD 29. 03. 95 Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt I 22 (Haushaltsgesetz 1995 - Einzelplan 12 - Bundesministerium für Verkehr) Dr. Dagmar Enkelmann (PDS): „Die Völker erwarten von uns, daß wir die notwendigen Beschlüsse fassen, um sie vor drohendem Schaden zu bewahren", so wird Umweltministerin Merkel aus ihrer Eröffnungsrede der Klimakonferenz zitiert. Wenn ich mir einerseits solch beschwörende Reden anhöre und andererseits die nackten Tatsachen dieses Haushalts betrachte, kann ich mich nur wundern. Wo, bitte schön, sind denn die „notwendigen Beschlüsse", die eine Klimakatastrophe vielleicht noch abwenden könnten? Ist das vielleicht der Beschluß, die Mittel für Investitionen in die Schiene um mehr als eine halbe Milliarde DM zu kürzen und die vorgesehenen Kürzungen für Straßenbauinvestitionen wieder um 350 Millionen DM zurückzunehmen? Ist damit vielleicht der Beschluß gemeint, in diesem Land, das ohnehin über eines der dichtesten Straßennetze der Welt verfügt, jährlich über 8 Milliarden DM in Straßen zu investieren? Die Glaubwürdigkeit dieser Bundesregierung ist wirklich keinen Pfifferling mehr wert. Sie heften sich den Rückgang der CO2-Emissionen stolz als Erfolg Ihrer Reduktionsbemühungen an die Brust und verschweigen dabei, daß der verzeichnete Rückgang nur auf die Deindustrialisierung in den neuen Län- Anlagen zum Stenographischen Bericht dem zurückzuführen ist. Im Westen stieg nämlich der Kohlendioxid-Ausstoß um 3 %, im Verkehrssektor - hören Sie gut zu, Herr Wissmann - sogar um 17 % zwischen 1987 und 1992. Ihr Haushalt ist ein Klimakiller-Haushalt und ein sicherer Garant dafür, daß diese Steigerungsraten auf weitere Jahre festgeschrieben werden. Erforderlich wäre wohl eine Umweltverträglichkeitsprüfung für Ihren gesamten Haushalt. Mit dieser Zielrichtung müßte dann auch der Bundesverkehrswegeplan revidiert werden. Ein erster Schritt wäre ein Ausbaustopp für Bundesfernstraßen in den alten Bundesländern. Konnte man bisher darauf hoffen, daß das, was Studien und Appelle nicht vermochten, nämlich weiteres durch Straßenneubau induziertes Verkehrswachstum zu verhindern, dann letztlich durch leere Kassen des Bundes bedingt wurde, so gilt auch das seit neuestem nicht mehr. Die Bundesregierung läßt sich den Straßenneubau privat vorfinanzieren und baut so einen weiteren Schattenhaushalt auf. Um auf dem Papier einen Anstieg der Neuverschuldung zu vermeiden, verschwendet die Bundesregierung zig Millionen DM. Das Konzessionsmodell ist nämlich gegenüber einer Haushaltsfinanzierung schlicht und einfach unwirtschaftlich. Die Projekte verteuern sich durch die Einschaltung privater Geldgeber um 30 bis 40 %, da der Staat für die hohen Refinanzierungskosten der privaten Projektträger aufkommen muß. Nun sagen Sie, es handelt sich bei den Projekten, für die jetzt Verpflichtungsermächtigungen ausgebracht sind, ja nur um Pilotprojekte. Sie wollen testen, wie sich die private Vorfinanzierung gesamtwirtschaftlich auswirkt. Das ist doch lächerlich. Können Sie mir einen Grund nennen, warum die Berechnungen des Bundesrechnungshofes nicht ausreichend sein sollten, um das zu belegen, was heute ohnehin schon jedes Kind weiß: Der Kauf auf Raten kommt teurer. Der Bundesrechnungshof hat berechnet, daß eine private Vorfinanzierung beim Engelberg-Tunnel z. B. rund 8 Millionen und bei der vierten Elbtunnel-Röhre sogar mehr als 23 Millionen DM teurer würde. Das sollte eigentlich ausreichen, um jeden verantwortlich denkenden Menschen von solch abenteuerlichen Finanzierungsmodellen abzubringen. Auch das Argument, Sie kaufen damit Zeit ein, ist an den Haaren herbeigezogen. Der öffentliche Haushalt kann jederzeit Kredite für Investitionen in unbegrenzter Höhe aufnehmen. Wenn Sie das täten, müßten Sie allerdings den Bürgerinnen und Bürgern die Wahrheit darüber sagen, wie verschuldet diese Bundesregierung tatsächlich ist. Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit aber scheuen Sie wie der Teufel das Weihwasser. So lügen Sie sich, vor allem aber den Bürgerinnen und Bürgern in die Taschen und bauen weiter an der betonierten Republik Deutschland. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt I 23 (Haushaltsgesetz 1995 - Einzelplan 13 - Bundesministerium für Post und Telekommunikation) Elmar Müller (Kirchheim) (CDU/CSU): Die Aufgabe, die wir uns mit der Postreform II gestellt haben, war es, das Überleben der Postunternehmen auf Dauer zu sichern und gleichzeitig Leben in den Kommunikationsmarkt zu bringen. Meine Kollegen und ich wissen, daß wir uns hier auf einer schwierigen Gratwanderung befinden. So scheint es mir bezeichnend, daß es in der CSU Herrn Stoiber deutlich zu langsam mit dem Wegfall der Telekommonopole geht, wogegen Herr Waigel, aus Sorge um eine zu starke Belastung der Telekom AG, zur Zurückhaltung mahnt. Die F.D.P. macht es sich da viel leichter. Sie fordert den Fortfall der Monopole und verheimlicht ihrer Klientel einfach, daß sie dem Gesetz selbst zugestimmt hat, mit dem der Telekom AG bis zum 1. Januar 1998 das Netz- und Sprachdienstmonopol übertragen wurde. Unzuständigkeitshalber, aber wortreich kann Herr Rexrodt als Bundeswirtschaftsminister dann genau das anmahnen, was der Bundespostminister gerade erarbeitet und Anfang dieser Woche veröffentlicht hat, nämlich die Eckpunkte des zukünftigen Regulierungsrahmens im Telekommunikationsbereich. Die SPD tut sich wie gewohnt schwer. Die einen fürchten mit einem schrittweise wachsenden Wettbewerb um den Börsenwert der Deutschen Telekom AG und unterschätzen offensichtlich die Intelligenz der Anleger. Wer kauft schon gerne einen Monopolisten im Sack, der 1998 plötzlich nackt vor den Anlegern steht, weil man ihm in einem Rutsch die schützende Monopoldecke weggezogen hat. Die anderen in der SPD setzen zwar auf die im Wettbewerb neu entstehenden zukunftssicheren Beschäftigungsmöglichkeiten, entpuppen sich aber allzu schnell als Pseudoliberale, deren Presseerklärungen mit Vorsicht zu genießen sind. Für sehr begrüßenswert halte ich das erste konkrete Papier der SPD zur Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes, so wie es als Presseerklärung am letzten Wochenende abgesetzt worden ist. Allerdings erscheint die plakative Kritik an dem Entwurf eines Eckpunktepapiers des Ministers eher grotesk, da man offensichtlich weder den vollständigen Inhalt kannte noch bereit war, zwei Tage bis zur Vorlage des Eckpunktepapiers zu warten. Einer seriösen und der Sache angemessenen Auseinandersetzung scheint es mir nicht dienlich, sich mit „bekanntgewordenen Vorstellungen" eines Entwurfs statt mit dem Papier selbst auseinanderzusetzen. Wer die Papiere sorgfältig studiert, wird feststellen, daß wir nicht weit auseinanderliegen, und es sollte uns gelingen, mit vernünftigen Argumenten Dissenspunkte abzubauen und schnellstmöglich zu einer tragfähigen Lösung zu gelangen. Wir haben in unserem Positionspapier ganz deutlich festgestellt, daß bis zum Jahre 1998 der Telekom AG die Möglichkeit eingeräumt werden muß, sich geordnet auf den Wettbewerbsmarkt einzurichten. Dies entspricht unserer Überzeugung, da eine finanziell angeschlagene Deutsche Telekom AG weder der deutschen Wirtschaft in ihrer Gesamtheit dienen würde noch im Hinblick auf den zukünftigen Börsengang und den Finanzplatz Deutschland hinnehmbar wäre. Es kann auch keine Rede davon sein, daß die Telekom übermäßig einseitig belastet werden soll. Aber, um es klar und deutlich zu sagen: Wir werden hier einen Markt und einen fairen Wettbewerb erst schaffen müssen. Die Warnung der SPD vor einer übermäßigen asymmetrischen Belastung der Telekom AG scheint konsensfähig zu sein. Wir sollten uns doch einig sein, daß das fünftgrößte deutsche Unternehmen mit einem Umsatz von fast 70 Milliarden D-Mark und dem einzigen flächendeckenden Kommunikationsnetz eine andere Infrastrukturverantwortung tragen muß als etwa kleine mittelständische Anbieter zukünftiger Telefondienstleistungen. Gerade hier kommen doch regional beschränkte oder sogar anwendungsbezogen innovative Dienste in Betracht. Es gibt unzählige technische Anwendungsmöglichkeiten, die nur für kleine Benutzergruppen Sinn machen. Der Markt wird sofort versuchen, die jeweils erforderlichen Techniken den Kunden zur Verfügung zu stellen. Vielen Anwendungen im Multimediabereich, wie z. B. Homeshopping, kommt gerade außerhalb der Ballungsräume große Bedeutung zu. Pauschale Ausbauverpflichtungen würden mittelständische Unternehmen völlig überfordern und auch gar keinen Sinn machen, da nur Megakonsortien derartige Investitionen aufbringen könnten. Hunderte kleine zusammenwachsende Inseln decken die Bedürfnisse der Bürger aber sicher besser ab, als auf wenige Großunternehmen zu setzen. Wir wollen nicht Flächendeckung als Auflage für alle. Wir wollen Flächendeckung durch alle! Das bedeutet, Insellösungen ja, und zwar so schnell und so viele wie möglich. Wie können Sie denn, Herr Bury, von einer Schieflage unseres Wettbewerbsmodells sprechen, wenn wir Unternehmen mit vielleicht einigen Dutzend Beschäftigten nicht mit den gleichen Infrastrukturauflagen belasten wollen wie die Deutsche Telekom mit über einer Viertelmillion Mitarbeitern? Sie fordern Chancengleichheit und gleichzeitig Infrastrukturauflagen bereits bei unter 25 % Marktanteil. Ab wieviel Prozent, Herr Bury, gedenken Sie denn bei Ihrer Art Chancengleichheit kleine Anbieter genauso zu behandeln wie den fünftgrößten Telekommunikationskonzern der Welt? Für kritisch und undurchführbar halte ich die Forderung der SPD nach Bereitstellung einer breitbandigen Infrastruktur für alle Bürger, und das, wie der Vorsitzende des Postausschusses, der Kollege Börnsen, gefordert hat, innerhalb etwa 5 Jahren. Dies geht jedoch völlig an den Realitäten vorbei und wäre nicht einmal, und dies weiß die SPD ganz genau, vom bisherigen Monopolunternehmen Telekom zu leisten, geschweige denn zu finanzieren. Bei rund 37 Millionen Wohnungen liegt der Versorgungsgrad etwa beim Breitbandkabelnetz der Telekom nach nunmehr 12 Jahren bei immerhin 62 %. Nach 5 Jahren waren gerade einmal 3 Millionen Wohnungen angeschlossen. Kein Mensch - ja nicht einmal Politiker - hätte von der Telekom jemals gefordert, den bevorzugten Ausbau von Ballungsgebieten zu stoppen und statt dessen ländliche Regionen zu erschließen. Zu Recht hat sich die Telekom auf Ballungsräume konzentriert, und selbst hier warf ihr der Bundesrechungshof noch das „planlose Verlegen von Fernsehkabeln" vor. Wir brauchen uns doch, lieber Herr Börnsen, nicht tatsächlich über die Versorgung mit Kabelfernsehen auf dem Lande zu unterhalten, wenn sich heute nach 12 Jahren Breitbandkabelausbau die Bundesbürger in unzähligen Stadtrand-Lagen darüber beschweren, daß die Telekom zu einem weiteren Ausbau aus Rentabilitätsgründen nicht mehr bereit ist. Jeder kennt doch die Klagen abseits gelegener Dörfer aus seinem Wahlkreis. Und hier betreiben nicht etwa die privaten Anbieter „Rosinenpicken", sondern die Telekom. Sie allein bestimmt nach Rentabilitätsgesichtspunkten sogenannte Ausbaugebiete, in denen die privaten Kabelnetzbetreiber nicht tätig werden durften. Dennoch haben die Privaten in den vergangenen Jahren bis heute rund 3,5 Millionen Wohneinheiten über Breitbandkabelnetz mit Fernseh- und Hörfunkprogrammen in den für die Telekom unrentablen Gebieten versorgt. Der von der SPD immer wieder bemühte Infrastrukturauftrag wird, wenn man hierunter also die Versorgung der weniger lukrativen Bereiche in Deutschland versteht, ganz eindeutig von den über 300, häufig mittelständischen Wettbewerbern mit Leben erfüllt. Wenn wir dann auch noch auf neue alte Kampfbegriffe wie der „Zwei-Klassen-Informationsgesellschaft" verzichten, wird es uns eher gelingen, dem gerecht zu werden, was sowohl Bürger wie Wirtschaft von uns fordern, nämlich bereits in den nächsten Monaten die wesentlichen politischen Entscheidungen zu treffen, die einen möglichst raschen Ausbau einer zukunftsweisenden deutschen Telekommunikationsinfrastruktur ermöglichen. Wer allerdings bereits vor der Veröffentlichung des Eckpunktepapiers des Ministers und ohne ein einziges Gespräch abzuwarten mit der notwendigen Zustimmung der SPD im Bundesrat droht, wie der Kollege Bury dies meinte tun zu müssen, der scheint unter dem ständigen Gefühl zu leiden, ohne massive Drohungen nicht ernstgenommen zu werden. Die vorgelegten Papiere sollten zur politischen Diskussion einladen. Sie dienen nicht als Plattform für Profilierungsversuche einzelner Politiker. Wir suchen konsensfähige Lösungen. Ich glaube, es ist jetzt an der Zeit, über die Papiere zu sprechen und offen zu diskutieren. Drohungen sind da sicherlich wenig hilfreich. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt I 24 (Haushaltsgesetz 1995 - Einzelplan 10 - Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten) Jürgen Koppelin (F.D.P.): Die Haushaltskonsolidierung konnte auch vor dem Einzelplan 10 des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten nicht haltmachen. Doch dabei haben wir als F.D.P. die wesentlichen agrarpolitischen Ziele nicht vernachlässigt. Mein Kollege Günther Bredehorn hat schon einmal hier sehr richtig festgestellt: „Sparzwänge können auch etwas Positives haben. Sie zwingen zur Prioritätensetzung. " Das geschieht beim Einzelplan 10. Politische Herausforderung der nächsten Jahre bleibt die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft. Die Landwirte und ihre Familien müssen auch weiterhin die Chance erhalten, ihren eigenen, individuellen Weg bei der Bewirtschaftung ihrer Betriebe zu gehen. Zusätzliche Freiräume zur Steigerung der Produktivität und Effizienz sind dabei notwendig. Den nachwachsenden Rohstoffen gilt dabei unser besonderes Interesse. Ihr Anbau kann zukunftsweisend sein. Die Mittel, die wir hier den Landwirten zur Verfügung stellen, sind ein Beitrag zur Umwelt. Völlig überrascht habe ich bei den Berichterstattergesprächen zur Kenntnis nehmen müssen, daß die GRÜNEN eine Reduzierung der Haushaltsmittel in diesem Bereich wollten. Hier zeigt sich die Ernsthaftigkeit „grüner" Politik. Mit der Anhebung des förderfähigen Investitionsvolumens im Rahmen der einzelbetrieblichen Investitionsförderung auf 100 Millionen DM machen wir den Weg frei für eine zukunftsweisende Agrarpolitik. Mit den Komplementärmitteln der Länder stehen damit 170 Millionen DM mehr zur Verfügung. Aber die Herausbildung effizienter Betriebsstrukturen - und die sind notwendig, um langfristig den Sonderstatus der Landwirtschaft im nationalen und internationalen Wirtschaftsgefüge abzubauen - kann nicht allein über die Stärkung der landwirtschaftlichen Erwerbsmöglichkeiten erfolgen. Ein zweites wirtschaftliches Standbein muß aufgebaut werden. Die F.D.P. plädiert daher für eine stärkere Gewerbe- und Dienstleistungsorientierung des landwirtschaftlichen Unternehmertums. Erste und erfolgreiche Schritte sind bereits von den Landwirten gemacht worden. Die Steigerung des Direktabsatzes landwirtschaftlicher Produkte ist nur ein Beispiel unter vielen. Hier zeigen sich die Stärken der deutschen Landwirtschaft: hohes Qualitätsniveau auf der Basis guter natürlicher Bedingungen kombiniert mit Anbindung an die Verbraucher. Diese Kombination kann zu einer weiteren, soliden Erwerbsquelle für die Landwirte werden. Allerdings, wenn wir das von Minister Seehofer vorgelegte Geflügelfleischhygiene-Gesetz beschließen würden, wäre das ein erheblicher Rückschlag für die Bemühungen um die Direktvermarktung. Der ländliche Raum bietet sich als Wirtschaftsbasis für Unternehmertätigkeit geradezu an. Für kreative Landwirte, bei denen Selbständigkeit und Gesamtverantwortung Tradition haben, ist er eine ideale Grundlage. Sie sollten ihn verstärkt zum eigenverantwortlichen Handeln nutzen. Nicht der staatliche Prämienempfänger, sondern nur der im Wettbewerb fit gemachte Unternehmer ist in der Lage, sich gegen die inner- und außereuropäische Konkurrenz durchzusetzen. Der Landwirt als Dienstleister im ländlichen Raum - ein Ziel liberaler Landwirtschaftspolitik, das von uns allen weiter verfolgt werden sollte. Davon profitieren nicht nur die Landwirte und ihre Familien. Deshalb gilt unser uneingeschränktes Ja den Strukturverbesserungen. Beim Küstenschutz hätte die F.D.P. gern mehr gemacht. Aber die zuständigen Länderminister haben die Latte der Anforderungen zu hoch gelegt. Die überzogenen Umweltanforderungen beim Küstenschutz in den norddeutschen Ländern sind inzwischen völlig inakzeptabel; die Effizienz der Hilfestellung ist damit nicht mehr sichergestellt. Nicht nur innerhalb des Agrarsektors sind strukturverbessernde Maßnahmen notwendig, sondern auch bei Hilfen für die Schaffung alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten, in anderen Unternehmensformen und auch außerhalb der Landwirtschaft. Soviel ist heute schon sicher: Die derzeitigen Haushaltsbelastungen im Agrarbereich sind zu hoch und unter den gegebenen wirtschaftlichen Verhältnissen und Umwälzungsprozessen innerhalb Europas auf Dauer nicht vertretbar. In der Agrarsozialpolitik sind in der letzten Legislaturperiode die entscheidenden Weichen gestellt worden. In den Jahren 1995 bis 1997 wird die Bundesregierung 1 Milliarde DM bereitstellen. Ein Betrag, mit dem die eigenständige soziale Sicherung der Bäuerin eingeführt werden kann. Das Agrarsozialreformgesetz ist bei den Betroffenen überwiegend positiv aufgenommen worden. Daß Kritik geübt wird, ist normal. Wir werden Einwände gegenüber einzelnen Bestimmungen des Agrarsozialgesetzes prüfen. Erste Gespräche sind in der F.D.P. bereits dazu geführt worden. Wichtig war uns, daß mit der Agrarsozialreform erreicht wird, daß rund 230 000 Bäuerinnen endlich eine eigene Alterssicherung und Schutz bei Erwerbsunfähigkeit erhalten, der Explosion der Beiträge zur Altershilfe ein Riegel vorgeschoben wird. Das gesamte System der agrarsozialen Absicherung ist finanziell stabilisiert worden. Besonders freuen dürfte sich darüber sicher unser Freund Josef Ertl, der einst die neue Agrarsozialpolitik einleitete. Von dieser Stelle auch nachträglich herzliche Glückwünsche an Josef Ertl zum 70. Geburtstag. Die Landwirtschaft befindet sich inmitten eines schwierigen Anpassungsprozesses. Der Haushalt trägt dem durchaus Rechnung. Die Vergabe staatlicher Mittel bietet gerade in Zeiten knapper Kassen die Chance, den notwendigen Entwicklungsprozeß zu flankieren und Effizienzsteigerungen sowie Strukturanpassungen zu beschleunigen. Dauersubventionen und Regulierungen müssen abgebaut werden, neue Subventionsfelder vermieden werden. Denn heute geht es mehr denn je darum, der unternehmerischen Landwirtschaft eine Bresche zu schlagen. Nur mit ihr ist eine Stärkung der Landwirtschaft langfristig möglich und auf Dauer erfolgreich.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Manfred Kanther


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Es zeigt sich wieder einmal, daß es selbst dann keinen Sinn hat, mit Vertretern der PDS zu diskutieren, wenn man aus Versehen einen Zwischenruf zuläßt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Zwischenfrage! Zwischenrufe lassen Sie nicht zu! Eine schreckliche Vorstellung: Anmeldung des Zwischenrufs beim Minister!)

    Für die Sicherheitspolitik, die ich Ihnen darstelle, ist von Bedeutung, daß wir nicht allein den Staat als Handelnden betrachten. Die Gesellschaft hat wichtige Aufgaben auf diesem Felde, ebenso der einzelne. Die Prävention ist das, was immer als erstes gefragt ist, ehe man sich der Polizei und den Gerichten zuwendet. Die gesellschaftlichen Phänomene und die Erziehungsphänomene müssen uns beschäftigen. Wachsende Gewaltbereitschaft, zunehmende Verrohung und die Tendenz zu rücksichtslosem Verhalten im Alltag sind Probleme, die nicht zuvörderst vom Staat bewältigt werden können, sondern bei denen auch der einzelne gefragt ist, wenn es darum geht, wie er seine Kräfte in der Gesellschaft einsetzt. Die Defizite, die sich ergeben, wenn etwas in der Gesellschaft, in der Familie oder vom einzelnen gering geachtet wird, können kaum oder nur sehr begrenzt und mit hohem Aufwand vom Staat ausgeglichen werden.
    Der als Ergebnis der Haushaltsberatungen jetzt vorliegende Entwurf des Bundeshaushalts 1995 bietet eine gute Grundlage für alle Bereiche der Innenpolitik in diesem Jahr. Er bietet selbstverständlich auch eine gute Grundlage im Bereich der Kulturpolitik. Ich möchte noch klarstellen, was die Berliner Einrichtungen angeht. Von 690 Millionen DM Bundesmitteln werden 332 Millionen DM in Berlin und für die dortigen Institutionen eingesetzt. Das heißt nicht, daß wir dort schon am Ende aller Überlegungen wären. Noch ist die Bundesregierung nicht dort.

    (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das Parlament auch noch nicht!)

    Manches ist noch in der Entwicklung. Der Auftrag, den sich die Bundesregierung hier selbst stellt, die hauptstädtische Kulturförderung zu ihrem Anliegen zu machen, wird auch in Zukunft einen besonders herausragenden Platz in diesem Etat einnehmen.
    Ich danke allen, die an diesem Haushalt mitgewirkt haben, insbesondere auch für eine großzügige Bemessung der Aufwendungen, die für die innere Sicherheit notwendig sind. Wenn ich daran denke, wie wir den Bundesgrenzschutz von seinen Einsatzmöglichkeiten und der Attraktivität des Dienstes her ausgestattet haben, und ein guter Grund für die Annahme besteht, daß das durch ein längeres Programm fortgesetzt wird, dann komme ich zu dem Ergebnis, daß der Bund bei seiner Polizei seine „Schulaufgaben" gut gemacht hat.

    Bundesminister Manfred Kanther Ich danke Ihnen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ich war immer der Meinung, Schulaufgaben sind dazu da, daß sie nicht gemacht werden!)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Als nächster spricht der Kollege Otto Schily.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Banane!)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Otto Schily


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Die Innen- und Rechtspolitik der Bundesregierung leidet an Zwiespältigkeit, Unentschlossenheit, zunehmender geistiger Verarmung und Einfaltslosigkeit.

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Banane!)

    - Auch Sie, Herr Kollege Schäuble, leiden leider an Einfallslosigkeit, weil Ihnen seit einigen Monaten gar kein anderer Zwischenruf einfällt.

    (Beifall bei der SPD Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hätte mal „Ananas" sagen sollen!)

    Herr Kanther flüchtet sich mit Vorliebe in forsche Sprüche und macht das Ganze dadurch nur noch schlimmer. So kommt nirgends etwas Rechtes zustande, nicht zuletzt auf Grund der unüberbrückbaren Meinungsgegensätze zwischen der Bundesjustizministerin und dem Bundesinnenminister. Herr Kanther sagt hü, Frau Leutheusser-Schnarrenberger sagt hott. So bleibt der Karren stecken.

    (Zuruf von der CDU/CSU): Das bedauern

    Sie?)
    Weil sich die Koalitionäre offenbar hoffnungslos argumentativ verkeilt haben, konnte das Bundesjustizministerium weder einen Gesetzentwurf zum § 218 noch zur Vergewaltigung in der Ehe einbringen.

    (Ina Albowitz [F.D.P.]: Wieso zu § 218?)

    Herr Kanther versteift sich auf die unsinnige Forderung nach einer Verschärfung des Jugendstrafrechts, während die von der SPD seit langem geforderte Reform des Jugendstrafvollzugs auf sich warten läßt. Die Bundesregierung erweist sich als unfähig zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts und zur Integration von Ausländern - ein politisches Debakel ohne Ende, meine Damen und Herren Kollegen.

    (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    Bisher ist auch nicht, außer allerlei unverbindlichen Ankündigungen, erkennbar, daß die Bundesregierung die Kraft zu einer umfassenden Restrukturierung staatlichen Handelns und zu einer Modernisierung staatlicher Institutionen aufbringen könnte.
    Wenn jedoch die Entfremdung zwischen Gesellschaft und Staat, die bereits gefährliche Ausmaße angenommen hat, nicht weiter fortschreiten soll, sollten wir gemeinsam alle Anstrengungen darauf verwenden, die Modernisierung des Staates voranzubringen. Leitmotiv in diesem Zusammenhang muß sein, daß sich der Staat als Dienstleistungsunternehmen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern versteht und nicht als Herrscher gegenüber den Untertanen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    An intelligenten Reformmodellen und Reformideen fehlt es gewiß nicht. - Ich erinnere nur an die Vorschläge aus den Kreisen der Gewerkschaft ÖTV. - Wir müssen sie nur in die Tat umsetzen. Wir verkennen nicht, daß es für ein solch umfassendes Modernisierungsvorhaben eines breiten politischen Konsenses bedarf. Ich will durchaus auf Ihre Einladung, Herr Kollege Scholz, zu einem Gespräch auf diesem Gebiet zurückkommen. Ich nehme dieses Gesprächsangebot ausdrücklich an.

    (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist verdächtig! Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

    „Stabilität durch Integration war das Erfolgsgeheimnis der alten Bundesrepublik", schrieb Warnfeed Dettling am 30. September 1994 in der Wochenzeitung „Die Zeit". Mittlerweile scheint diese Erkenntnis in Vergessenheit geraten zu sein. Innen- und Rechtspolitik ist immer und in erster Linie eine Integrationsaufgabe, meine Damen und Herren Kollegen. Herr Kanther ist dieser Aufgabe leider in keiner Weise gewachsen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS Widerspruch bei der CDU/CSU)

    Wer wie Herr Kanther Zuwanderung nur und ausschließlich als Bedrohung und Unheil für unser Volk wahrnimmt, statt die Notwendigkeit und auch die Chancen der Zuwanderung einzusehen und zu begreifen, hat ohnehin jeden Realitätsbezug verloren.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    Herr Kanther hält noch immer krampfhaft an der Illusion fest, daß Deutschland kein Einwanderungsland sei. Diese Behauptung wird schon durch ein kleines, unscheinbares Schildchen am Flughafen München widerlegt, das den Weg zu folgendem Büro weist: Deutsche Grenzpolizei, Immigration.
    Was heißt es denn, daß inzwischen sieben Millionen Ausländer, die in ihrer Mehrzahl de facto längst Inländer geworden sind, unter uns leben? Ist das keine Einwanderung? Haben Sie nicht begriffen, daß wir auf Grund des demographischen Wandels diese Einwanderung nicht nur hinnehmen können, sondern sogar dringend brauchen? Begreifen Sie noch immer nicht, daß es dem inneren Frieden dient, ja daß es die Voraussetzung inneren Friedens ist, wenn

    Otto Schily
    wir den hier auf Dauer lebenden Ausländern die Einbürgerung erleichtern, ihnen stärkere Mitwirkungsmöglichkeiten verschaffen? Das ist die Voraussetzung inneren Friedens.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Gewiß - darin sind wir uns einig -: Eine unbegrenzte Zuwanderung kann es nicht geben. Deshalb ist der Staat immer wieder vor die schwierige Aufgabe gestellt, ob, unter welchen Voraussetzungen und für welche Zeitdauer Flüchtlinge aufgenommen werden können. Die aktuelle Diskussion um die Aufhebung des Abschiebestopps zugunsten von Kurden ist ein Beispiel dafür. Einer sachgerechten Auseinandersetzung mit diesen schwierigen Fragen verweigern wir uns nicht. Eine sorgfältige Auswertung des Ergebnisses der Anhörung des Innenausschusses muß stattfinden.
    Eines geht aber nicht: die seltsame Arbeitsteilung, die wir bei der Bundesregierung beobachten: Herr Kinkel beschwört die Freundschaft mit der Türkei, vertraut auf die Zusicherungen der türkischen Regierung und bezichtigt die Kurden pauschal der Anschläge auf türkische Einrichtungen. Frau Leutheusser-Schnarrenberger erklärt: Nur wer schweigt, sei in der Türkei vor Verfolgung sicher. Herr Blüm entrüstet sich, die Kurden würden in der Türkei schlimmer als Tiere behandelt. Herr Kanther macht sich ungerührt zum Vorkämpfer von möglichst eiligen Abschiebungen. - Das geht nicht zusammen, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Was macht Herr Schnoor? Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Kennen Sie Herrn Schnoor?)

    Und so ganz nebenbei verwirren Sie die Debatte zusätzlich mit der Behauptung, der Abschiebestopp habe auch für Straftäter gegolten. Das ist Irreführung der Öffentlichkeit, meine Damen und Herren.

    (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das ist doch nicht wahr!)

    Angesichts der Eskalation der Kämpfe in den kurdischen Provinzen im Osten der Türkei ist besondere Sorgfalt bei der Prüfung von Abschiebungshindernissen vonnöten. Im Zweifel müssen wir in Deutschland immer für die Menschenrechte eintreten. Das ist meine Überzeugung.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS Ina Albowitz [F.D.P.]: Nicht nur Ihre!)

    Freilich: Den verbrecherischen, terroristischen Aktivitäten der PKK ist mit Härte und Entschiedenheit entgegenzuwirken. Wer immer in Deutschland Gastrecht genießt, hat sich strikt an die hier geltenden Gesetze zu halten. Da gibt es für mich überhaupt keinen Zweifel.

    (Beifall bei der SPD, sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

    Unsere türkischen Mitbürger haben Anspruch auf wirksamen Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit und von Hab und Gut. Die freundschaftlichen Verbindungen zwischen Türken und Deutschen dürfen auf keinen Fall Schaden nehmen.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)

    Unverkennbar, meine Damen und Herren, ist auch die Hilflosigkeit der Bundesregierung auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung. Ihre schubartig wiederkehrende Gesetzgebungshektik kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie kein schlüssiges Konzept zur Kriminalitätsbekämpfung hat. Die Bundesregierung setzt ausschließlich auf Repression statt auf Prävention. Bei ihrem gesetzgeberischen Aktionismus schert sie sich wenig um rechtsstaatliche Prinzipien, wenn beispielsweise die Befugnisse des BND bei der innerstaatlichen Strafverfolgung erweitert werden sollen. Dabei wird die notwendige, strikte Abgrenzung der Strafverfolgung von geheimdienstlicher Tätigkeit verwischt. Da, wo andererseits gesetzgeberische Verschärfungen dringend erforderlich wären, sträubt sie sich aber, z. B. bei der Novellierung des Geldwäschegesetzes.
    Am erfolgversprechendsten ist Kriminalitätsbekämpfung dort, wie es Winfried Hassemer in einem kürzlich in der „Frankfurter Rundschau" veröffentlichten Aufsatz präzise beschrieben hat, wo sie nicht in erster Linie auf normative, d. h. gesetzliche, sondern auf technische und organisatorische sowie auf soziale Prävention setzt. Wegfahrsperren bei Kraftfahrzeugen sind der wirksamste Schutz vor Autodiebstählen, Kontroll-, Aufklärungs- und Meldepflichten die beste Prävention gegen den strafbaren Vertrieb von aidsverseuchten Blutkonserven, strenge Kontrollvorschriften die beste Prävention auch zur Verhinderung der Geldwäsche. Organisatorische Prävention ist die beste Bekämpfung der Korruption. Ein Beispiel dafür ist die mehrfach erwähnte Abschaffung der steuerlichen Begünstigung von Schmiergeldzahlungen. Da, Herr Kollege Kanther, sollten Sie nicht unbedingt nur auf die Familienerziehung und ähnliches setzen. Da ist in der Tat der Staat gefordert.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Angesichts einer überregional und international operierenden organisierten Kriminalitätsszene hat die überregionale und internationale Zusammenarbeit bei der Kriminalitätsbekämpfung erheblich an Bedeutung gewonnen.
    Die SPD hat dazu einen umfangreichen Maßnahmenkatalog vorgelegt. Die Bundesregierung hat in dieser Richtung kaum etwas zustande gebracht. Bei der internationalen Zusammenarbeit hapert es an allen Ecken und Enden. Insofern hat es schon fast symbolische Qualität, daß das sogenannte Schengener Informationssystem, das Computerfahndungssystem SIS, gestern für mehrere Stunden ausgefallen ist.

    Otto Schily
    Das wichtigste Instrument zur Kriminalitätsbekämpfung bleibt aber nach wie vor die soziale Prävention. Diese Einsicht bleibt der Koalition leider vollständig verschlossen.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Der Zusammenhang zwischen sozialer Verelendung, Obdachlosigkeit und geistiger Verödung einerseits und Zunahme von Kriminalität andererseits ist unübersehbar. Niemand sollte sich über seine Verantwortlichkeiten täuschen. Wenn sich die Bundesregierung anschickt, die Sozialhilfeleistungen massiv zu kürzen, wird sie unweigerlich Kriminalität ernten. Das ist nicht nur verantwortungslos, sondern auch ökonomisch unsinnig; denn die Kriminalitätsbekämpfung mit allen ihren Auswirkungen wird ein Mehrfaches an Kosten verursachen gegenüber dem, was vermeintlich an Kosten für Sozialhilfeleistungen eingespart wird.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Prävention ist immer billiger als Repression.
    Armut, Arbeitslosigkeit, Mangel an Ausbildungsplätzen, Wohnungsnot und nicht zuletzt kulturelle Verödung sind vor allem auch ein Nährboden für die sich explosiv ausbreitende Jugendkriminalität. Wir werden den inneren Frieden nur wahren, wenn wir die soziale Situation von Jugendlichen nachhaltig verbessern und ihnen mehr Freiräume für ihre Entwicklung verschaffen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Messen wir die Politik der Bundesregierung an den drei klassischen Fragen Immanuel Kants: Was können wir wissen? Was können wir tun? Was können wir hoffen? Die Antwort lautet dann: Erstens. Wir wissen, daß die Bundesregierung nichts taugt. Zweitens. Die Bundesregierung muß so bald wie möglich abgelöst werden.

    (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das hättet ihr gern!)

    Drittens. Wir hoffen, daß sich das überall herumspricht.
    Vielen Dank.

    (Anhaltender Beifall bei der SPD Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)