Rede von
Rolf
Kutzmutz
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(PDS)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (PDS)
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was Haushaltsdiskussionen anbetrifft, gibt es sicherlich unterschiedliche Erfahrungen. Ich jedenfalls bin in den letzen drei Monaten um einige reicher und gleichermaßen um einige Illusionen ärmer geworden. Was die Illusionen betrifft, so bin ich davon ausgegangen, daß es zumindest ein Minimum an Bemühungen gibt, auf gesellschaftliche Herausforderungen sachbezogen und nicht allein durch koalitionstaktisches Geplänkel und Parteientaktik zu reagieren.
Wenn ich den Zeitraum zwischen erster und zweiter Lesung des hier zur Beratung anstehenden Haushalts betrachte, ist es für mich kein Wunder, daß nur 5 % der Bevölkerung von den Parteien und ganze 16 % von der Bundesregierung Impulse zur Verbes-
Rolf Kutzmutz
serung der wirtschaftlichen Situation erwarten, wie EMNID im Februar herausfand. Daß die Bundesregierung besser abschnitt als die Parteien, liegt ganz offensichtlich daran, daß deren Marketing besser entwickelt ist; das ist aber auch schon alles.
Ich will nur auf drei Probleme des ersten Quartals dieses Jahres eingehen.
Erstens. Auf die massenhafte, mittlerweile soziale Fundamente unserer Gesellschaft bedrohende Langzeitarbeitslosigkeit reagierte der Kanzler im Januar mit der Einladung zu einer Runde der Sozialpartner. Heraus kam die simple Wiederbelebung eines von der Regierung Wochen zuvor zu den Akten gelegten Programms; das aber wird schon als großer Erfolg verkauft. So wichtig auch dieser kleine Schritt ist: Bestenfalls 85 000 geförderte Vermittlungen von Langzeitarbeitslosen in vier Jahren sind allenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein. Damit können Sie statistisch gerade mal den derzeit Langzeitarbeitslosen in Sachsen-Anhalt die Rückkehr in das Berufsleben ermöglichen.
Das Problem vergrößert sich dramatisch. Laut Untersuchungen des DGB erhöhte sich der Anteil der Langzeitarbeitslosen an den Jobsuchenden in Ostdeutschland zwischen 1992 und 1994 von 25,8 % auf 37 %. Im Westen Deutschlands stieg die Zahl im gleichen Zeitraum von knapp 475 000 auf rund 800 000. Es geht hier mittlerweile um Schicksale von 1,2 Millionen Bürgerinnen und Bürgern.
Zweitens. Es ist knapp drei Wochen her, da widmete sich die Kanzlerrunde der Lehrstellenkatastrophe, die sich in diesem Jahr abzeichnet - wiederum nicht nur in Ostdeutschland. Heraus kam eine sogenannte Selbstverpflichtung der Wirtschaft, 1995 rund 600 000 Ausbildungsplätze in Ost und West anzubieten.
Das ist eine Erweiterung um gut 30 000 Ausbildungsplätze gegenüber dem Vorjahr. Das Ganze wird mit 40 Millionen DM unterstützt, die lediglich im Haushalt umgeschichtet werden. Das ist ein beachtlicher Preis für das Gelöbnis der Wirtschaft.
Sinnvoller erscheint uns allerdings die Erhebung einer Ausbildungsplatzabgabe bei den Unternehmen, die nicht ausbilden, zur Förderung der überbetrieblichen Ausbildung.
Denn Tatsache ist: In Ostdeutschland sank das Angebot betrieblicher Ausbildungstellen von Januar 1994 bis Januar 1995 um 3,7 %; die Zahl der Bewerber hingegen stieg um 20 %. In Sachsen-Anhalt kommen drei Bewerber auf einen Ausbildungsplatz, in Brandenburg sind es 2,5 Bewerber.
Sie werden sich sicher erinnern, daß hier Herr Professor Biedenkopf vor einiger Zeit Frau Luft beschuldigt hat, sie könne die Statistik nicht richtig führen, weil sie auf die Ausbildungssituation im Land Sachsen aufmerksam gemacht hat.
- Die alte Statistik hatte leider Herr Professor Biedenkopf, Herr Graf Lambsdorff. Herr Biedenkopf hat die Zahlen von 1994 genommen, während Frau Christa Luft von den Zahlen des Jahres 1995 gesprochen hat, was ihr Herr Biedenkopf übrigens kleinlaut in einem Schreiben vom 20. März 1995 bestätigt hat. Dies war bei weitem nicht so effektvoll wie sein Auftreten in diesem Saal.
Auch in den Altbundesländern ist die Lage keineswegs besser. Hier schrumpfte der Stellenüberhang schon letztes Jahr von zeitweise fast 200 000 auf 35 000.
Sich auf eine „kontinuierliche Beobachtung" des Ausbildungsmarktes zu beschränken und „gemeinsam mit den Ländern und der Wirtschaft den Prozeß einer betrieblich verankerten Berufsausbildung nach ihren Möglichkeiten zu unterstützen", wie die Bundesregierung auf eine entsprechende Kleine Anfrage unserer Gruppe ankündigte, ist angesichts der realen Lage schlicht abenteuerlich, zumal sich das Problem für die Jugendlichen mit der Lehrstelle längst nicht erledigt hat. Nach Untersuchungen des DGB wurde 1994 im Westen bereits jeder fünfte Azubi nach erfolgreicher Lehre arbeitslos; im Osten war es sogar jeder dritte. Ohne eine langfristig angelegte Strukturpolitik ist keine wirkliche Änderung zu erreichen. Das wird übrigens schon seit Jahren immer wieder festgestellt; man braucht nur die Stenographischen Berichte der letzten Legislaturperiode zu lesen. Nur, eine Wende in der praktischen Politik ist nicht in Sicht.
Ein in Deutschland nicht unbekannter Trendforscher schreibt zu diesem Problem:
So wie es aussieht, wollen die meisten Bosse zurück zu den guten alten und harten Prinzipien, zu den Prinzipien der gestrigen Erfolge. Während der Wissensbedarf explodiert, wird die Qualifizierung des Wissens begrenzt. Aber nichts ist gefährlicher als das.
Drittens. Mit großem Interesse, aber nicht übertriebenen Erwartungen sehe ich dem Bericht „Info 2000" von Herrn Minister Rexrodt entgegen, den er im Sommer namens der Regierung vorlegen will. Denn wie die vom Bundesminister auf der CeBIT für dieses Zukunftsfeld der Informationsgesellschaft nebulös versprochenen „Parameter für die Entfaltung der Privatinitiative" in diesem Kabinett definiert werden, konnte gerade Ostdeutschland auf anderen Gebieten im letzten Jahrfünft häufig schmerzhaft erfahren.
An eine Perspektive der Bundesrepublik als wirkliches Innovationszentrum umweltschonender, nachhaltiges Wirtschaften befördernder Technologien und als Wirtschaftsstandort, an dem diese regional umgesetzt werden, wage ich angesichts der Erfahrungen der letzten Monate kaum zu glauben. Angeblich ist der Standort Deutschland viel zu teuer, sind die Mitarbeiter zu faul, die Gewerkschaften viel zu aggressiv. Dabei ist es gerade die sogenannte Standortpolitik dieser Regierung, die den Lebensstandort Deutschland ruiniert.
Rolf Kutzmutz
Eine wachstumsorientierte Industriepolitik, wie sie mit diesem Haushalt fortgeschrieben wird, bringt uns alle, regional wie global, der ökologischen Katastrophe beschleunigst näher. Waldschadensbericht und Konsequenzen des Januarhochwassers sind nur zwei Schlaglichter dieser Entwicklungstendenz, die in den letzten Wochen in diesem Haus debattiert wurden.
Bei aller technischen Innovationsfreudigkeit und allem Druck auf die von den Menschen erstrittenen Sozialstandards dieser Republik: Stückkosten wie in Südostasien, Lateinamerika oder Osteuropa werden hierzulande nie wieder zu unterbieten sein, es sei denn, man will den sozialen Frieden gefährden. Aber gerade er ist doch ein Standortvorteil dieses Landes.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, „Standortnachteil" und Umweltzerstörung werden sich im nächsten Jahrzehnt im Zuge der Kommunikationsrevolution von Satellitennetzen bis virtuellen Büros dramatisch verstärken. Es wird zu neuen wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen führen, wenn beispielsweise für die Bedürfnisse der Dessauer oder Ingolstädter „just in time" in Ho-Chi-Minh-Stadt/Saigon oder Kuala Lumpur produziert und via Großflughäfen München oder Berlin/Brandenburg über leitsystemgestützte Autobahnen und Hochgeschwindigkeitsstrecken geliefert werden kann. Gerade mit ihren vielgepriesenen Konjunkturmotoren könnte die Koalition unser Land in den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Crash fahren.
Staatssekretär Dr. Kolb hält der PDS in seiner Antwort auf eine Anfrage zum Jahreswirtschaftsbericht vor, unsere wirtschaftspolitische Schwerpunktsetzung in Richtung gezielter staatlicher Fördermaßnahmen und Eingriffe in den Einkommensverteilungsprozeß sei ein falscher Ansatz.
Ich meine, im Unterschied zu den demokratischen Sozialistinnen und Sozialisten, aber auch zu den anderen Oppositionsfraktionen haben Regierung und Koalitionsfraktionen außer dem „Weiter so!" überhaupt keinen Ansatz. Denn wie Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit aussehen, von denen hier so oft gesprochen wurde, zeigt allein ein Blick auf die hin- und hergeschobenen Millionen zur Kohlefinanzierung.
Im Haushaltsausschuß erstreiten die Sparkommissare seit Jahresanfang in mehrwöchigen Beratungen Einsparungen von gut 216 Millionen DM im Einzelplan 09. Dann kommt im März über Nacht ein koalitionärer Federstrich, und 285 Millionen DM zusätzlich tauchen wieder auf, finanziert durch Neuverschuldung. Dies geschah aber wohl weniger, weil es um die arbeitsmarkt- und damit sozialpolitisch verträgliche Abfederung eines Strukturwandels geht -den ich sehr begrüßen würde -, sondern weil im Mai im größten Bundesland Wahlen sind, wo der Seniorpartner der Koalition sozialen Touch beweisen, aber zugleich seinem Juniorpartner mit dessen wirtschaftspolitischen Patentrezepten aus dem 19. Jahrhundert das politische Überleben sichern will.
Wer nicht jetzt über die Konversionsprogramme in den Kohleregionen nachdenkt und entscheidet, provoziert schon heute den Bankrott ganzer Landstriche in 10 oder 15 Jahren. Solange jedoch Machterhalt im Zweimonatstakt die Entscheidungen diktiert, werden wir in diesem Haus beständig weiter Pläne debattieren, die schon vor ihrer Verabschiedung Makulatur sind.