Rede von
Jörg-Otto
Spiller
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir ein paar Bemerkungen zu der Struktur der im Haushalt veranschlagten Steuereinnahmen.
Nach der jüngsten Steuerschätzung kann der Bund in diesem Jahr mit Steuereinnahmen in Höhe von 380 Milliarden DM rechnen. Ziemlich genau ein Drittel davon erbringt eine einzige Steuer, die Lohnsteuer. Ein knappes weiteres Drittel bringt der Anteil des Bundes an der Mehrwert- und der Einfuhrumsatzsteuer. Darüber hinaus ist nur noch die Mineralölsteuer wirklich von Gewicht.
Alle übrigen Steuern spielen nur eine bescheidene Rolle. Das gilt insbesondere für zwei Steuern, die früher einmal zu den ergiebigsten gehörten: die Körperschaftsteuer und die veranlagte Einkommensteuer. Beide zusammen werden dem Bund 1995 26 Milliarden DM erbringen, nicht mehr als der Solidaritätszuschlag.
Warum Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, so tun, als wäre es das vordringlichste Problem einer Steuerreform, die deutschen Unternehmen vor der fiskalischen Erdrosselung zu schützen,
ist vor diesem Hintergrund völlig schleierhaft.
Unbegreiflich ist mir auch, Herr Bundesfinanzminister Waigel, wie Sie zwei Dinge miteinander vereinbaren zu können glauben: Vorsitzender einer Partei zu sein, die das Wort „sozial" in ihrem Namen führt,
und einen Haushalt vorzulegen, der sozial derart unausgewogen ist.
Seit diese Koalition regiert, findet ein ständiger Prozeß der steuerlichen Umverteilung von unten nach oben statt.
Das Aufkommen der Lohnsteuer in Westdeutschland wird 1995 256 Milliarden DM betragen; das ist genau doppelt soviel wie 1983. Die 26 Milliarden DM Bundesanteil aus der veranlagten Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer machen ein Zehntel dessen aus. Gleichzeitig hat sich das jährliche Aufkommen der Umsatzsteuer sogar reichlich verdoppelt.
Das Aufkommen aus der Körperschaftsteuer und der veranlagten Einkommensteuer hat, bei einigen Schwankungen von Jahr zu Jahr, seit längerer Zeit nahezu stagniert.
Es gibt eine Verdoppelung der Lohn- und Verbrauchsteuern, beinahe Stagnation der unternehmensnahen Steuern: Das ist keine soziale Symmetrie, das ist soziale Verwerfung.
Steuerpolitisch geboten und vorrangig ist deswegen für die Sozialdemokraten die Entlastung der Normalverdiener.
Diese ist um so dringlicher, als die Kluft zwischen Brutto- und Nettoeinkommen nicht allein durch die Steuer, sondern auch durch die Abgabenbelastung bestimmt wird.
Völlig zu Recht hat der Sachverständigenrat kürzlich darauf hingewiesen, daß eine Grenzbelastung von rund 50 % nicht erst bei wirklichen Spitzenverdienern auftaucht, sondern sehr viel häufiger bei Arbeitnehmern mit mittleren Einkommen unterhalb der Einkommensbemessungsgrenzen für die Sozialversicherung.
Wenn einem verheirateten Arbeitnehmer mit zwei Kindern und einem Monatsbruttoeinkommen von 4 000 DM von jeden zusätzlich verdienten 100 DM die volle Hälfte abgezogen wird, dann ist das nicht in Ordnung.
Das ist ebenso unerträglich wie der Umstand, daß der für die meisten Bürger inzwischen völlig undurchschaubare Dschungel des Einkommensteuergesetzes gewieften Kennern selbst bei absoluten Spitzeneinkommen immer wieder erlaubt, sich der Besteuerung völlig zu entziehen.
Ich empfehle Ihnen allen in der Koalition: Reden Sie doch einmal in Ihren Wahlkreisen mit den Leitern der örtlichen Finanzämter. Die werden Ihnen erklären, daß die Einkommensteuerabteilung des Finanzamts inzwischen überwiegend eine Rückerstattungskasse geworden ist und daß es immer wieder Fälle gibt, wo sich Bezieher von einem Jahreseinkommen um eine Million DM Jahr für Jahr der Steuer völlig entziehen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, wir Sozialdemokraten werden es Ihnen schwermachen, mit Ihren Sprüchen die Leute weiterhin in die Irre zu führen. Wir werden darauf drängen, daß soziale Gerechtigkeit in diesem Lande wieder eine Zukunft hat.