Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Meckel, erstens war es die persönliche Verantwortung des Bundeskanzlers, die dazu führte, daß der tschechische Ministerpräsident beim EU-Gipfel mit am Tisch gesessen hat.
Zweitens pflegt der Bundeskanzler sein Wort zu halten.
Der Bundesaußenminister hat heute noch einmal bekräftigt, daß das die Politik der Bundesregierung ist, die wir unterstützen. Im übrigen muß ich Ihnen sagen, daß sich Ihre Rede wohltuend von der Ihres Fraktionskollegen Verheugen abgehoben hat.
Kollege Verheugen, Sie haben die fatale Fähigkeit, immer weit über das Ziel hinauszuschießen. Ich erinnere mich noch daran, daß Sie mich im Zusammenhang mit den Out-of-area-Einsätzen als Admiral Tirpitz bezeichnet haben.
So ähnlich war das auch heute wieder.
Nun aber zur Sache. Ich glaube, wir sind uns alle einig, daß das deutsch-tschechische Verhältnis - im Vergleich zu den Beziehungen zu unseren anderen ostmitteleuropäischen Nachbarn - das fruchtbarste, aber auch das schwierigste ist, und beides aus dem gleichen Grund: weil es das intimste ist.
Karl Lamers
So war es jedenfalls in der Vergangenheit. Die Deutschen lebten eben nicht nur an allen vier Grenzen Tschechiens oder Böhmen und Mährens - sie leben auch heute noch an dreien -, sondern sie lebten auch im Lande, zu ganz großer Zahl in der Hauptstadt, in Prag.
Es kann gar keinen Zweifel geben, daß dieses Verhältnis für die Tschechen immer schwieriger war als für die Deutschen, weil die Deutschen eben die mit großem Abstand Größeren und Stärkeren gewesen sind. Dies wurde vor allem dann deutlich, als Deutschland vereint wurde.
Hinzu kommt die jüngste Geschichte, über die hier schon genügend gesprochen worden ist. Ja, es ist so: Die Deutschen waren und sind die Stärkeren. Wir sollten uns, gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte, daran erinnern, daß der Stärkere gut daran tut, zu versuchen, auch immer der Klügere zu sein.
Wir müssen uns eingestehen, daß das nicht immer leicht ist.
Jedenfalls muß unser aller Tun davon bestimmt sein. Unser Tun muß von der Einsicht bestimmt sein, daß wir eben mit einigem Abstand der Stärkere sind. Deswegen können beispielsweise auch Vorleistungen - in der Hoffnung, nicht der Sicherheit, daß sie honoriert werden - durchaus angebracht sein.
Ich finde, daß unser massiver Einsatz für den EU-Beitritt aller ostmitteleuropäischen Länder, gerade aber auch Tschechiens, eine solche Art der Vorleistung ist. Damit will ich nicht sagen, daß dies nicht auch in unserem Interesse liegt. Das ist unsere gemeinsame Auffassung.
Eine solche Grundeinstellung darf aber nicht dazu führen, daß wir in Forderungen einwilligen, die sich dann als eine Hypothek für die Zukunft erweisen können.
Das heißt, daß die sogenannten offenen Fragen beantwortet werden müssen, und zwar - ich benutze dieses Wort nicht gerne, weil es sehr verbraucht ist - aufrichtig.
Eine offene Frage ist vor allen Dingen die Entschädigung der NS-Opfer. Hier stehen wir zu dem Wort des Bundeskanzlers und unterstreichen das, was der Bundesaußenminister heute gesagt hat. Ich füge hinzu: Es wird in der Tat Zeit, daß wir dieses Problem lösen. Die Zeit drängt.
Aber es sind eben nicht nur diese Fragen. Es sind auch die Fragen, die vor allen Dingen die Sudetendeutschen stellen. Als jemand, der Rheinländer ist,
und zwar nicht nur von seiner Geburt her, sondern auch von all seinen Vorfahren von beiden Seiten über viele Generationen her, füge ich ganz bewußt hinzu: Das sind Fragen an uns, an alle Deutschen.
Ich finde es nicht in Ordnung, wenn wir jetzt versuchen, einen Teil unserer Landsleute, die ohne eigene Schuld ein ungleich härteres Schicksal als wir gehabt haben, als eine Quantité négligeable abzutun. Das geht nicht. Das ist auch mit meinem Selbstverständnis nicht zu vereinbaren.
Herr Kollege Meckel, ich glaube, wenn ich Sie richtig verstanden habe, stimmen wir darin überein. Deswegen ist es nicht nur eine sudetendeutsche, nicht nur eine bayerische und nicht nur eine CSU- Angelegenheit, sondern es ist eine deutsche Angelegenheit, wie wir die Sudetendeutschen in den Dialog mit Tschechien und in die Lösung der offenen Fragen einbeziehen.
Allerdings meine ich schon, daß es ein bemerkenswertes Zeichen auch für die Stärke unseres Föderalismus ist und daß es Anerkennung verdient, wenn sich ein Land wie Bayern, eines der Länder der Bundesrepublik Deutschland, einem Teil der Deutschen, die dieses harte Schicksal erlebt haben, in besonderer Weise annimmt.
Ich möchte betonen, daß der Kollege Koschyk recht hat, wenn er sagt: Hier werden keine unerfüllbaren Forderungen gestellt. Natürlich gibt es überall Scharfmacher, Frau Kollegin Vollmer. Es gibt sie auch auf tschechischer Seite. Wir identifizieren die Tschechen nicht mit diesen Scharfmachern. Das sollte auch umgekehrt nicht geschehen.
Es ist doch ganz offenkundig, daß das, was man als die ideell-moralischen Fragen bezeichnen könnte, Vorrang vor den materiell-juristischen Fragen hat. Daran kann es gar keinen Zweifel geben. Ich bitte die tschechische Seite zu verstehen, daß ein Entgegenkommen in diesen ideell-moralischen Fragen außergewöhnlich hilfreich wäre, um die materiell-juristischen Fragen zu lösen. Ist das eine unbillige Erwartung, wenn wir eine solche Hoffnung haben?
Bei dem zweiten Problemkomplex weiß jeder, nicht nur ich, sondern auch alle Sudetendeutschen, vielleicht von einigen Ausnahmen abgesehen, daß nichts mehr so werden kann, wie es einmal war. Ich füge hinzu: Vielleicht sollten wir auf längere Zukunft versuchen, daß es besser wird, als es in der jüngsten Vergangenheit gewesen ist. Aber es kann nicht alles so werden, wie es war.
Das gilt nicht nur für die Grenze, deren Unveränderlichkeit, deren Unantastbarkeit nicht nur von uns hier völlig einstimmig, sondern auch von den Sudetendeutschen anerkannt worden ist. Es geht, wie ich
Karl Lamers
meine, nicht um Rückerstattung, sondern um Rückerwerbsmöglichkeiten für die Sudetendeutschen. Worin ist die Befürchtung begründet, daß das zu einer Regermanisierung führen könnte?
Das sind doch nun wirklich - positiv würde ich es so sagen - Alpträume, die man vor dem Hintergrund der Geschichte vielleicht verstehen kann, aber die durch die Gegenwart in nichts gerechtfertigt sind. Es geht, wie gesagt, zuerst um die anderen Fragen. Ich finde, daß sich auch die Tschechen keinen guten Dienst tun, wenn sie diese offenen Fragen verdrängen.
Wir wissen doch alle - wir wissen es auch von den westlichen Nachbarn -, daß der Versuch, die Dinge so darzustellen, als seien das Böse und das Gute ganz klar voneinander geschieden, falsch ist. Wenn Vaclav Havel recht hat, daß das Verhältnis zu den Deutschen für die Tschechen ein ganz wesentlicher Teil ihrer Identität ist, dann, meine ich, müssen sie versuchen, in diesen Fragen mit sich ins reine zu kommen, und zwar in ihrem Interesse, aber auch in unserem Interesse; denn es ist eine alte Erfahrung: Wer mit sich selbst nicht im reinen ist, vermag auch nicht mit anderen klarzukommen.
Es ist eben ein Unterschied, etwas zu erklären oder zu entschuldigen. Bei allem Respekt vor dem tschechischen Präsidenten, den ich wirklich uneingeschränkt habe, seine Rede klang ein wenig wie: Strich darunter, und die Erklärung ist auch schon die Entschuldigung. - So hat sie schon - wir waren beide dabei, Kollege Meckel - ein wenig geklungen. Das wird nicht dem gerecht, was er früher selber gesagt hat; und es wird vor allen Dingen der Sache nicht gerecht.
Abschließend: In der Perspektive der Mitgliedschaft Tschechiens in der Europäischen Union, meine ich, müßte es möglich sein, das eine oder andere vorwegzunehmen, was nach der Mitgliedschaft ohnehin notwendig sein wird.
Ist es denn nicht besser, jetzt das eine oder andere zu tun, was man nachher rechtlich verpflichtend ohnehin tun muß, da es jetzt auf deutscher Seite bei den Sudetendeutschen ganz gewiß noch eine positive und gute Resonanz haben kann?