Rede von
Dr.
Antje
Vollmer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Lieber Kollege Johnny Klein, ich habe diese Rede gehört, und ich habe auch diese Passage gehört. In dieser Passage hat Vaclav Havel darauf hingewiesen, und zwar mit großem Schmerz, daß die Sudetendeutschen einmal vollwertige Bürger der Tschechoslowakischen Republik waren, die trotz allem eine Republik war, die auch ihren deutschen Mitbürgern Bürgerrechte gewährt hat, und daß sie dieses selbst aufgegeben haben, indem sie mit 80 % für die HenleinPartei und dann für den Anschluß an Hitlerdeutschland gestimmt haben, und daß das zur Vorgeschichte gehört.
Ich habe ungeheuer viel eigene Kraft hineingesteckt, damit es diese Debatte heute überhaupt gegeben hat, worüber ich sehr froh bin. Auf diese Rede und auf die überschießenden Zukunftsanteile bezogen hat der Bundesaußenminister nicht geantwortet.
Was müßte denn geschehen, damit die Zukunft endlich beginnen kann, die friedliche Zukunft zwischen den Tschechen und den Deutschen?
Erstens. Von unserer Seite - von den Deutschen - ist anzuerkennen, wie traumatisierend die Abtrennung des Sudetenlandes und die Besetzung der jungen und noch schwachen Tschechoslowakischen Republik durch Nazideutschland auf den Stolz der Tschechen gewirkt haben. Können die Tschechen, können wir je die brutale und demütigende Szene vergessen, wie der greise Präsident der Tschechoslowakischen Republik in Hitlers Reichskanzlei die Auslöschung seines Landes selbst unterzeichnen mußte, um Prag zu retten? Seit der Rede von Vaclav Havel beunruhigt mich zutiefst, daß die deutsche Politik offenbar kein Gespür für die verrinnende Zeit hat, z. B. für die verrinnende Zeit der NS-Opfer, denen wir die symbolische Geste der Anerkennung ihres Leidens bis heute verweigern. Auch dazu, Herr Kinkel, haben Sie heute nichts Deutliches gesagt, kein Datum, keine Zahl, nichts Präzises.
- Hören Sie doch zu! Es muß endlich ein Ende dieses elenden nichtsbringenden Junktims geben.
Zweitens. Von tschechischer Seite müßte andererseits zugestanden werden, daß die Vertreibung der Sudetendeutschen auf Grund der Beneš-Dekrete der Idee einer Kollektivschuld folgte, die kein moderner Rechtsstaat akzeptieren kann. Überhaupt gehört die Idee der Vertreibung ganzer Völker ebenso wie die wahnwitzige mörderische Idee der Vernichtung ganzer Völker - das war die besondere Schuld der Deutschen - zu den Verirrungen, unter deren Folgen die Seelen der Völker und der Menschen in Europa noch lange leiden werden. Das wissen wir.
Um so wichtiger war es, daß Vaclav Havel dies offen ausgesprochen hat, jedenfalls wenn wir akzeptieren, daß es für die Opfer solcher Vertreibungen wichtiger ist, von der Anerkennung des ihnen geschehenen Unrechts zu hören, als daraus materiellen Vorteil zu ziehen. Ich bin mir aber manchmal nicht so sicher, ob es nun um das eine oder um das andere geht.
Drittens. Die deutsche Politik muß endlich den Willen des gesamten tschechischen Volkes und seiner Regierung ernst nehmen, wieder das zu werden, was sie über 1 000 Jahre waren, nämlich eine Nation im Zentrum Europas, durch und durch geprägt von der europäischen bürgerlichen Kultur und ihren Rechtssystemen. .
Deshalb muß es auch Unterstützung für den tschechischen Wunsch nach Beitritt zur EU geben und auch Respekt vor dem tschechischen Wunsch nach sicherheitspolitischem Schutz durch die Angliederung an die NATO.
Viertens - und das ist der wichtigste Punkt; den sage ich nicht ohne Risiko -: Der Königsweg zu einer solchen Lösung führt nicht an den Verbänden der Sudetendeutschen und auch nicht an Bayern vorbei, sondern mitten durch sie hindurch. Davon bin ich jetzt überzeugt. Hier aber ist ein sehr offenes Wort angesagt. Jeder Politiker, der unter heutigen Bedingungen, 50 Jahre nach dem geschehenen Unrecht - siebenmal sieben Jahre sind nach Levitikus 25,8 erlaubt -, illusionäre Hoffnungen vortäuscht, erschwert das Werk der Versöhnung. Die Sudetendeutschen haben 1950 mit allen Vertriebenenverbänden ein damals mutiges Wort gesagt, nämlich daß sie auf Rache verzichten. Sie waren damals wirklich ihrer Zeit vor-
Dr. Antje Vollmer
aus. Die heutigen Äußerungen einiger sudetendeutscher Funktionäre hängen aber unserer Zeit um Lichtjahre hinterher, und das ist das Problem. Das muß sich ändern.
Keine Minderheit in keinem Land der Welt und schon gar keine Funktionäre solcher Minderheiten haben das Recht, der Versöhnung zwischen ganzen Völkern auf Dauer im Wege zu stehen. Darauf kommt es an.
Deswegen: Geben Sie endlich die Politik als Geisel frei!
Ich sage mit allem Ernst: Von den Sudetendeutschen - das erwarte ich von ihnen - muß eine Erklärung kommen, die die Verunsicherung jener tschechischen Bürger aufhebt, die in den ehemals deutschen Gebieten nun auch in der dritten Generation Heimat und Eigentum gefunden haben.
Ich glaube, die jüngsten Signale aus Prag könnten durchaus helfen, einen solchen Schritt zu tun. Das ist sensationell, und das ist - ich habe mit dem Botschafter gesprochen - auch seriös. Die tschechische Regierung redet darüber, daß sie den früheren Bürgern der Tschechoslowakischen Republik deutscher Nationalität ohne Vorbedingungen ein Staatsbürgerschaftsrecht anbieten will. Sie lädt sie damit also ein, erneut Bürger der Tschechischen Republik zu sein.
Als Bürger hätten sie alle Pflichten, aber auch alle Rechte, u. a. das Recht, Eigentum zu erwerben. Wer also wirklich in das Land seiner Vorväter zurückkehren möchte, könnte es damit tun. Ich finde, das ist ein unglaubliches Angebot. Schlagen Sie es nicht aus!
Tragen Sie endlich dazu bei, daß nicht neue Verhärtungen und neue Enttäuschungen wachsen!
Vaclav Havel hatte gesagt: „Deutschland war immer unsere Inspiration und unser Schmerz. " So wunderschön würde das keiner unserer Politiker ausdrücken. Aber daß Prag eine unglaublich schöne, traditionsreiche Stadt ist, in der viele Deutsche auch vor Hitlers Tyrannei Zuflucht fanden und in der ein Teil unserer bedeutendsten Dichter gelebt hat, daß Prag also eine Stadt ist, in der wir Freunde und nicht Feinde haben und nicht Adressen von alten Rachegedanken haben, das sollte endlich einmal in diesem Haus laut ausgesprochen werden.
Deswegen, Herr Kinkel, mache ich Ihnen einen konkreten Vorschlag: Die nächste Reise geht nach Prag, nicht mit leeren Händen und nicht mit halb ausgestreckten Händen.