Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesaußenminister hat soeben in seiner Regierungserklärung ein insgesamt positives Bild der deutsch-tschechischen Beziehungen gezeichnet. Herr Kinkel, ich kann dieser Beschreibung nicht folgen, ich kann diese Auffassung nicht teilen. Ihre Regierungserklärung war beschönigend, verharmlosend und vertuschend;
denn in Wahrheit befinden sich die deutsch-tschechischen Beziehungen in einer Krise, in einer Blockade.
Günter Verheugen
Diese Blockade haben Sie, hat die Bundesregierung zu verantworten.
Der tschechische Präsident hat am 17. Februar vor der Karls-Universität in Prag jene denkwürdige und bedenkenswerte Rede gehalten, die letztlich auch der Anlaß zu dieser Debatte heute ist. Sie richtete sich in erster Linie an seine Landsleute. Sie mußte aber uns aufhorchen lassen. Havels Ausführungen waren geprägt von Beunruhigung und leider sogar von Resignation über den derzeitigen Stand des deutsch-tschechischen Verhältnisses.
Dennoch ist es keine resignative Rede gewesen; denn gleichzeitig rief er dazu auf, die Stagnation in den bilateralen Beziehungen zu überwinden, die Angebote zu einem zukunftsorientierten Dialog aufzunehmen. Wenn also der Präsident unseres Nachbarlandes von Stagnation redet, wenn er dazu auffordert, den Dialog endlich aufzunehmen, dann ist mir nicht verständlich, wie unser Außenminister hier so tun kann, als gäbe es diese Probleme nicht. Präsident Havel hat sich in seiner Rede ausdrücklich zu seinem Glauben an ein demokratisches, liberales, europäisches Deutschland bekannt, das sich der Bedeutung des deutsch-tschechischen Verhältnisses bewußt ist und sich der Aufforderung zur konstruktiven Zusammenarbeit nicht entziehen wird.
Wir teilen die Sorge Havels über die Tristesse in den deutsch-tschechischen Beziehungen, wir teilen aber auch seine Hoffnungen. Diese Sorgen und Hoffnungen liegen unserem Antrag zugrunde. Sie sind Inhalt der heutigen Debatte, Inhalt unserer Forderungen an die Bundesregierung zur grundlegenden Verbesserung unserer Beziehungen zur Tschechischen Republik.
Meine Kritik richtet sich in erster Linie an die Bundesregierung. Sie hat die Bedeutung des deutschtschechischen Verhältnisses nicht erfaßt.
Sie hat es versäumt, die herrschende Sprachlosigkeit zu überwinden. Sie haben es aus kleinlichen innenpolitischen Gründen zugelassen, daß die bilateralen Beziehungen verludert sind.
Und am Schlimmsten: Sie haben sich bisher nicht einmal bereit gefunden, sich zu der dringend notwendigen Geste gegenüber den tschechischen NaziOpfern aufzuraffen. Heute, Herr Kinkel, haben Sie nun gesagt: „Die Zeit eilt." Ja, die Zeit eilt wirklich. Dann handeln Sie doch endlich, machen Sie ein Angebot!
Ihr tschechischer Kollege hat heute einen Vorschlag unterbreitet, der sich auch in dem Antrag meiner Fraktion wiederfindet, nämlich die Gründung einer Stiftung, aus der neben zukunftsbezogenen Projekten zur Finanzierung von Maßnahmen zur Verbesserung der deutsch-tschechischen Beziehungen auch die tschechischen Nazi-Opfer mit einer Geste - mehr als eine Geste wird es ja nicht sein können - entschädigt werden können. Wenn wir das aber nicht endlich umsetzen, dann ist alles Reden über die deutsch-tschechischen Beziehungen unnütz, weil uns niemand glauben wird, daß wir es ernst meinen.
Die Bundesregierung hat mit der Herstellung eines Junktims zwischen der Entschädigung tschechischer NS-Opfer und dem tschechischen Entgegenkommen in der Frage der Sudetendeutschen viel Unheil angerichtet.
Und auch Ihre Regierungserklärung, Herr Kinkel, war in dieser Frage wieder genauso ambivalent wie alles, was die Regierung in den letzten Jahren in dieser Frage getan hat.
Sie reden von der ausgestreckten Hand, die Sie ergreifen wollen, und sagen dann, das setze Bereitschaft auf beiden Seiten voraus. Lieber Herr Kinkel, entweder ist die Hand ausgestreckt - dann ist die Bereitschaft da -, oder sie ist nicht ausgestreckt. Was Sie gesagt haben, ist auch logisch - verzeihen Sie bitte - einfach Unsinn.
Ergreifen Sie die Hand!
Der Bundeskanzler hat ja irgendwann einmal gesagt, diese Angelegenheit sei Chefsache. Das heißt nach aller Erfahrung: Sie bleibt liegen. Das deutschtschechische Verhältnis ist von überragender Bedeutung. Daran möchte ich sowohl den Bundeskanzler, der Historiker ist,
als auch den Bundesaußenminister, der Jurist ist, erinnern. Denn der verheerende Stand dieser Beziehungen ist beiden anzulasten. Ich brauche hier nicht zu erklären -
- weil das Haus ganz gewiß genug Geschichtsbewußtsein hat, um die Bedeutung der tausendjährigen gemeinsamen Geschichte unserer beider Völker anzuerkennen, um zu ermessen, was die gemeinsame Grenze und die enge Nachbarschaft, die wir heute haben, bedeutet, und um zu ermessen, welche große Aufgabe die Gestaltung unserer Beziehungen als gemeinsame europäische Perspektive ist.
Günter Verheugen
Das Verhältnis zwischen unseren beiden Völkern ist nicht nur ein Problem der Tschechen und der Deutschen, es ist ein zentrales Problem des europäischen Friedens und der europäischen Zukunft.
Meine Damen und Herren, für die positive Weiterentwicklung der deutsch-tschechischen, aber auch der deutsch-slowakischen Beziehungen bietet der bilaterale Vertrag vom Februar 1992 eine hervorragende Grundlage. In der Präambel dieses Vertrags sind die Verbrechen und das Leid erwähnt, die wechselseitig beiden Völkern angetan worden sind. Aber die Möglichkeiten, die dieser Vertrag bietet, sind bisher keineswegs ausgeschöpft worden.
Wir haben dem Vertrag seinerzeit im Bundestag zugestimmt, ihn sogar als einen besonders guten Vertrag gelobt. Das ist er auch. Deshalb will ich Ihnen nicht verschweigen, daß ich geradezu erbittert bin, wenn ich sehe, daß die Bundesregierung diesen Vertrag offenbar als einen unwichtigen Fetzen Papier ansieht, von Verantwortung in der Welt schwadroniert und schon beim Nachbarn diese Verantwortung vergißt. Ich finde das jämmerlich.
Heute sprechen wir über das deutsch-tschechische Verhältnis. Mit den deutsch-slowakischen Beziehungen werden wir uns gesondert beschäftigen müssen. Ich plädiere nachdrücklich für eine Intensivierung des deutsch-tschechischen Dialogs auf allen Ebenen, um die Sprachlosigkeit zu überwinden, Mißverständnisse zu vermeiden und gemeinsame, nach vorn gewandte Lösungen zu finden. Dieser Dialog darf nicht als Exklusivveranstaltung zwischen Tschechen und Sudetendeutschen verstanden werden, er muß aber die Sudetendeutschen einschließen.
Bei der Revitalisierung des bilateralen Vertrages sollten Jugendaustausch, Sprachkompetenz durch die Gründung bilingualer Schulen und grenzüberschreitende Euro-Regionen zu besonderen Schwerpunkten gemacht werden.
Ich bitte Sie noch einmal dringlich, der Regierung der Tschechischen Republik das Angebot einer gemeinsamen Stiftung zu unterbreiten, die zukunftsgerichtet zur Verbesserung unserer Beziehung tätig wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das künftige Europa kann nicht auf Begriffen von Kollektivschuld und Kollektivverurteilung aufgebaut werden. Präsident Havel gebührt das Verdienst, das Unrecht der Vertreibung der Sudetendeutschen beim Namen genannt zu haben. Wir kommen in Europa nur weiter, wenn wir Unrecht auch als Unrecht benennen. Eine Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat ist moralisch nicht zu rechtfertigen und juristisch nicht zu legitimieren.
Das Prinzip gilt auch, wenn, wie im Fall der BenesDekrete, ein noch größeres Unrecht durch den Angriff Hitler-Deutschlands auf die Tschechoslowakei vorangegangen war. Es geht in dieser prinzipiellen Frage nicht allein um die Sudetendeutschen, die vor einem halben Jahrhundert vertrieben wurden. Es geht auch um das Schicksal von Millionen von Menschen in Europa, die heute vertrieben werden oder morgen vertrieben werden könnten.
Wir bedauern deshalb die Tatsache, daß sich das tschechische Verfassungsgericht nicht dazu durchringen konnte, die entsprechenden Artikel der Beneš-Dekrete, die heute noch in Kraft sind, für Unrecht zu erklären. An dieser Stelle haben auch wir Bitten an die tschechische Regierung und an das tschechische Parlament.
Zu bedauern aber bleibt, daß auf den ersten mutigen Schritt zur Aussöhnung durch Vaclav Havel, der, wie wir alle wissen, mit seiner kritischen Haltung zur Vertreibung allein oder ziemlich allein stand, keine adäquate deutsche Reaktion erfolgt ist.
Die Anerkennung der deutschen Verbrechen am tschechischen Volk durch den nationalsozialistischen Überfall und die Besetzung der Tschechoslowakei hat eben nicht zu einem Verzicht von Teilen der Sudetendeutschen auf ihre Rückgabeforderung geführt. Ein Teil dieser Landsmannschaft blockiert immer noch eine nach vorne gewandte, auf Aussöhnung gerichtete Politik mit Forderungen nach materieller Entschädigung.
Diese lauthals erhobenen Ansprüche, die, wie auch die Sudetendeutschen wissen, keinerlei Aussicht auf Realisierung haben, führen zu Angst und Unsicherheit in den betroffenen Gebieten der Tschechischen Republik und stärken die Versöhnungsunwilligen auf beiden Seiten.
Die Bundesregierung weiß ganz genau, daß der tschechische Staat auseinanderbrechen würde, wollte er anfangen, eine solche Entscheidung in Aussicht zu stellen. An einem solchen Auseinanderbrechen kann niemandem bei uns gelegen sein.
Wir sollten jeden Eindruck vermeiden, als gäbe es in unserer Einschätzung der Beziehungen zum tschechischen Volk eine kleinkrämerische Aufrechnungsmentalität. Darum ist es unerläßlich, daß sich die Bundesregierung endlich dazu aufrafft, die Geste zur Entschädigung der wenigen überlebenden tschechischen NS-Opfer zu machen. Sie darf nicht auf Druck von sudetendeutschen Scharfmachern das Junktim zwischen der Entschädigung von NS-Opfern und Vertriebenen akzeptieren.
Denn auf diese perfide Weise spielen sich die Versöhnungsunwilligen auf beiden Seiten gegenseitig in die Hände. Es sollte auf gar keinen Fall durch Zeitablauf der Eindruck erweckt werden, daß man viel-
Günter Verheugen
leicht gar auf eine biologische Lösung dieses Problems hofft. Je länger wir mit der Lösung dieser Frage warten, desto größer wird die Schande für unsere Politik und für unser Land.
Meine Damen und Herren, wir fordern die Bundesregierung auf, ohne Vorbedingungen die Entschädigungen der Betroffenen entsprechend den Entschädigungsregelungen für Polen, Rußland und andere Länder durchzuführen. Gleichzeitig appellieren wir an das tschechische Parlament, mit einer symbolischen Geste Hilfen für die enteigneten, noch in der tschechischen Republik verbliebenen Deutschen zu ermöglichen.
Die Angebote Havels, beispielsweise was das Recht auf Rückkehr in die Tschechoslowakei angeht, sind bisher nicht ausführlich gewürdigt worden. Herr Kinkel hat heute in seiner Regierungserklärung darauf hingewiesen. Wir treten für Ehrlichkeit ein. Wir sagen, jeder Sudetendeutsche sollte, wenn er dies wünscht, in seine Heimat zurückkehren dürfen. Aber er muß wissen, daß das eine Rückkehr in die Tschechische Republik ist, die, wie wir hoffen, bald ein vollgültiges Mitglied der Europäischen Union sein wird.
Ich habe am Anfang von Sorge und Hoffnung gesprochen, was die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern und Völkern angeht. Ich glaube, daß die Hoffnung obsiegt. Ich habe guten Grund, daran zu glauben, weil es doch gerade unter den Sudetendeutschen Vertriebene gibt, die sich seit Jahrzehnten um die Verständigung und Aussöhnung unserer Völker bemühen.
Ich möchte hier beispielhaft die verdienstvolle Arbeit der sozialdemokratischen Seliger-Gemeinde nennen. Die deutschen Sozialdemokraten, die für den tschechischen Staat eintraten, gehörten nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei zu den ersten Opfern der Nazis. 30 000 von ihnen sind in deutschen Konzentrationslagern umgekommen.