Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 8. Mai begehen wir den 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges. Der Fall des Eisernen Vorhangs hat uns Deutschen das Geschenk der Einheit und die Chance der Versöhnung mit unseren Nachbarn gebracht. Europa hat die Möglichkeit zu einem gemeinsamen Neuanfang in Frieden und Freiheit erhalten.
Seit dem Fall der Mauer bemüht sich Deutschland wie kaum ein anderes Land, diese Chance für ein vereintes Europa zu nutzen.
Wir sind der Anwalt unserer östlichen Nachbarn, auch unserer tschechischen, bei ihrer Rückkehr nach dem Europa, nach dem sie sich jahrzehntelang gesehnt haben. Der Europäische Rat von Essen, an dem auch der tschechische Ministerpräsident Klaus teilgenommen hat, war ein Meilenstein auf dem Weg in die Europäische Union.
Auch bilateral haben wir unser Verhältnis zu allen östlichen Nachbarn auf eine neue Stufe gestellt. So auch gegenüber der Tschechoslowakei mit dem Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 27. Februar 1992. Mit unserem wichtigen tschechischen engen Nachbarn ins Reine
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
zu kommen ist uns, ist insbesondere dem Bundeskanzler und mir ein ganz besonderes Anliegen.
Was Deutsche einst Tschechen angetan und was später die Sudetendeutschen von Tschechen zu erleiden hatten, darf uns nicht den Blick in die gemeinsame Zukunft verstellen.
Wir sind auf der Grundlage des Nachbarschaftsvertrages ein gutes Stück vorangekommen. Natürlich hat sich der Blick der Tschechen nach der Trennung von den Slowaken zunächst stärker nach innen gerichtet. Inzwischen ist es anders geworden. Wir begrüßen das sehr.
Die bilateralen Regierungs- und Parlamentskontakte sind von großer Dichte und Intensität. Deutschland ist heute der mit weitem Abstand wichtigste Handelspartner der Tschechischen Republik. Deutsche Firmen sind dort mit weitem Abstand die wichtigsten Investoren. Gott sei Dank ist nach anfänglichen Problemen heute von Überfremdungsangst kaum noch die Rede. Die Modernisierung bestehender und die Öffnung neuer Grenzübergänge kann gar nicht schnell genug gehen, und zwar für beide Seiten.
Besonders erfreulich ist auch, daß sich der Jugendaustausch sehr gut entwickelt hat. 6 000 junge Deutsche und Tschechen haben 1994 an vom Bund finanzierten Austauschprogrammen teilgenommen. Noch einmal so viele Jugendliche nehmen erfahrungsgemäß an Programmen teil, die von Ländern, Kommunen, Kirchen und privaten Trägern gefördert werden.
Mehr als eine halbe Million Tschechen lernen heute Deutsch. Wir entsenden von uns aus Lehrkräfte, Fachberater in die Tschechische Republik, die sich schwerpunktmäßig der Lehreraus- und -fortbildung widmen.
Auch das 1993 von mir eingeweihte Goethe-Institut in Prag trägt neben seinem Kulturprogramm zur Verbreitung der deutschen Sprache bei. Zwei Drittel seines großen Stammpublikums gehören der jungen und mittleren Generation an - für uns eine große kulturpolitische Chance.
Zugang zur deutschen Sprache und Kultur wird auch in den 13 von der Bundesregierung finanzierten Begegnungszentren geboten. Das sind keine Inseln. Sie dienen dem Austausch zwischen deutscher Minderheit und ihrem tschechischen Umfeld und stehen deutschen Besuchern als Anlaufpunkt zur Verfügung.
Umgekehrt wächst in Deutschland erfreulicherweise das Interesse an unserem tschechischen Nachbarn ständig, natürlich besonders im Grenzgebiet. In Bayern und in Sachsen gibt es nicht nur Tschechischunterricht an weiterführenden Schulen, sondern auch die Möglichkeit zur Ausbildung als Tschechischlehrer. Auch grenzferne Länder wie Hamburg und Nordrhein-Westfalen haben umfangreiche Austausch-
und Patenschaftsprogramme mit der Tschechischen Republik entwickelt.
Wir hoffen, daß die tschechische Seite auch bald zur Gründung einer bilateralen Regierungskommission für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit bereit ist. Ich habe besonders darauf gedrängt. Leider sind wir noch nicht ganz so weit. Ich hoffe, daß das in Kürze der Fall sein wird.
Die verstreut lebende deutsche Minderheit wird heute von beiden Seiten gefördert. Sie stand sehr lange unter einem massiven Anpassungsdruck. Heute ist sie auf dem nicht ganz einfachen Weg der Wiedergewinnung ihrer kulturellen Identität. Die Bundesregierung und auch die sudetendeutschen Verbände helfen ihr dabei. Das wird von der Tschechischen Regierung anerkannt und nicht etwa beargwöhnt, was besonders erfreulich ist.
Meine Damen und Herren, dieses insgesamt positive Bild der bilateralen Beziehungen wird noch verstärkt, wenn man die europäische Dimension hinzunimmt und sich ansieht. Die Tschechische Republik ist der Europäischen Union assoziiert und wird noch in diesem Jahr - das steht fest - ihren Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union einreichen. Wir werden sie dabei unterstützen.
Mit Recht sind die Tschechen stolz auf das, was sie in kurzer Zeit geleistet haben. Wir haben ihnen dabei geholfen. Auch wir freuen uns über ihren Erfolg.
Kein Zweifel: Die Tschechische Republik wird zu den ersten Anwärtern der Osterweiterung der Europäischen Union gehören, auch wenn noch vieles - z. B. im Bereich der Rechtsangleichung - zu tun bleibt. Auf die deutsche Unterstützung und gerade auch auf die Unterstützung des Bundeskanzlers und meine Unterstützung kann Prag weiterhin bauen.
Das gilt ganz genauso für die Frage eines künftigen NATO-Beitritts. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hat im November 1994 im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden das erste deutsch-tschechische Manöver im Grenzbereich stattgefunden - ohne irgendwelche Probleme. Ich finde, das ist ein Beispiel guter, normaler Nachbarschaft.
Die Heranführung unserer östlichen Nachbarn - das sagen wir insbesondere unseren tschechischen Nachbarn - an die Europäische Union und die NATO bleibt die historische Herausforderung und Aufgabe für alle Europäer, vor allem aber für uns Deutsche.
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Wir haben unsere Einheit auch den Menschen zu verdanken, die in Prag und anderswo für die Freiheit auf die Straße gingen. Das haben wir nicht vergessen.
Wir bleiben deshalb in besonderer Weise der Zusammenführung der europäischen Familie verpflichtet.
Im UN-Bereich, wo im Augenblick Deutsche und Tschechen zusammen Mitglied des Sicherheitsrates sind, arbeiten wir gut und eng zusammen. Ich darf ausdrücklich sagen, daß wir das mutige tschechische Engagement im früheren Jugoslawien in besonderer Weise schätzen.
Meine Damen und Herren, zum deutsch-tschechischen Verhältnis gehören aber eben auch die Probleme einer jahrhundertelangen gemeinsamen Geschichte mit ihren Höhen und mit ihren Tiefen, vor allem auch die Schatten der jüngsten, unheilvollen Vergangenheit.
Wir Deutsche haben den Tschechen schlimmes Unrecht getan. Die Sudetendeutschen haben aber eben dann am Ende des Zweiten Weltkrieges auch Unrecht durch Vertreibung und Enteignung erlitten. Dies alles hat Wunden geschlagen, die noch nicht voll verheilt sind und auf beiden Seiten heute noch sehr schmerzen.
Soll das alles vergessen werden? Kann man einfach einen Schlußstrich ziehen, das Buch einfach zuschlagen? Ich meine, nein. Geschichte kennt keine Endpunkte. Sie bleibt uns, sie ist Teil unseres Lebens. Aber pauschale Urteile gehen eben auch fehl, und kollektive Schuld gibt es nun mal nicht.
Unser gemeinsames Ziel muß es sein, den Teufelskreis von Unrecht und Gegenunrecht, von Schuldvorwürfen und Gegenrechnungen zu durchbrechen. Dazu gehört die Einsicht, daß es weder eine vollkommene Gerechtigkeit gibt noch irgend jemand die Wahrheit gepachtet hat. Einfache Lösungen, wie sie in den vorliegenden Anträgen ein wenig anklingen und durchschimmern, gibt es in diesem Zusammenhang nicht.
Wir wollen - das ist das Wesentliche - das Verhältnis zu unserem so wichtigen tschechischen Nachbarn so eng, partnerschaftlich und freundschaftlich gestalten, wie es uns auch gegenüber unseren westlichen Partnern Gott sei Dank gelungen ist.
Wenn es eine Persönlichkeit gibt, die geradezu zum Symbol einer zukunftsgerichteten, versöhnenden Politik zwischen Deutschen und Tschechen geworden ist, dann ist dies Präsident Vaclav Havel. Beide Völker haben ihm viel zu verdanken.
Gerade weil wir so hohe Achtung vor ihm haben und - ich wiederhole es - beide Völker ihm soviel zu verdanken haben, sage ich, daß wir über manches in seiner kürzlich gehaltenen Rede in der Prager KarlsUniversität enttäuscht sind. Wir sehen natürlich in dieser Rede den ernsthaften Willen zu einer wirklich tiefgreifenden Versöhnung. Wir sehen die ausgestreckte Hand, und wir wollen diese Hand ergreifen. Das setzt aber Bereitschaft auf beiden Seiten voraus.
Ich zitiere aus der gemeinsamen Erklärung der deutschen und tschechischen Bischöfe:
Wiedergutmachtung zwischen den Menschen verschiedener Völker ist vor allem ein geistiger Vorgang. Eine Revision all dessen, was vor 50 Jahren geschah, ist kaum möglich. Nur solche Lösungen werden Bestand haben, die dem Gemeinwohl beider Staaten und Europas verpflichtet sind. Sie müssen die jeder menschlichen Gerechtigkeit gesetzten Grenzen beachten; deshalb dürfen sie nichts Unerfüllbares fordern und müssen die Folgen für alle Betroffenen bedenken.
So die gemeinsame Erklärung der deutschen und tschechischen Bischöfe.
Ich weiß, daß die große Mehrheit der Sudetendeutschen in unserem Land das heute auch so sieht.
In der Tschechischen Republik leben heute noch Opfer schweren nationalsozialistischen Unrechts, das von Deutschen begangen wurde. Wir schulden diesen Menschen Gerechtigkeit und Genugtuung. Dementsprechend wollen und werden wir auch handeln, so wie wir es in vergleichbaren anderen Fällen getan haben. Und wir wissen: Die Zeit drängt. Aber es ist eben auch anderen Unrecht geschehen. Wer heilen will, muß die ganze Wunde, nicht nur einen Teil von ihr versorgen. In der Frage des nationalsozialistischen Unrechts bemüht sich die Bundesregierung und bemühen sich der Bundeskanzler und ich mich wahrhaftig mit großem Ernst um eine Lösung, die wirklich zum Frieden, zum Ausgleich und zur Versöhnung zwischen Deutschen und Tschechen führt und nicht zum Gegenteil.
Präsident Havel bietet den vertriebenen Sudetendeutschen an, als Gäste willkommen zu sein. Wir würden uns wünschen, daß die tschechische Regierung noch einen Schritt weitergeht und von den „früheren Landsleuten" spricht, die, wenn sie es denn wollen, auch wieder Landsleute werden könnten. Wir haben mit großer Aufmerksamkeit in diesem Zusammenhang zur Kenntnis genommen, was mein tschechischer Kollege vor wenigen Tagen dazu gesagt hat. Das ist bemerkenswert. Ein solcher Schritt wäre ein Zeichen von Größe und von wirklich europäischem Denken für die Zukunft.
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Wir wünschen uns vor allem sehr, daß sich die tschechische Seite von sich aus bemüht, auf das verletzte Rechtsgefühl vieler Sudetendeutscher einzu-
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
gehen. Dazu gehört vor allem, nicht das Gespräch zu verweigern.
Ich habe das Gefühl, das ist das Mindeste. Ich habe mich auch persönlich in vielen Gesprächen darum bemüht; es ist leider nur ansatzweise gelungen. Ich bitte die tschechische Seite, mindestens das Gespräch nicht zu verweigern.
Unabhängig von der rechtlichen Würdigung der Beneš-Dekrete: Ein klares Wort der Distanzierung von der kollektiven Schuldzuweisung und zu dem fragwürdigen Charakter damaliger Amnestieregelungen wäre ebenfalls eine wichtige Geste. Ich will ganz offen sagen, daß uns das Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts zur Rechtsgültigkeit des Beneš-Dekrets Nr. 108 betroffen macht. Gewiß, wir haben das Urteil eines unabhängigen Gerichts zu respektieren. Wir appellieren jedoch an die tschechische Regierung, aus diesem Urteil keinen neuen Unfrieden entstehen zu lassen.
Meine Damen und Herren, Präsident Havel fordert, die Zeit der Monologe durch einen „wahren Dialog" zu ersetzen. Genau darum geht es auch uns. Wir sollten uns, so finde ich, gegenseitig beim Wort nehmen, um die noch offenen Fragen in unserem Verhältnis bald zu lösen, im Interesse der Bürger in beiden Ländern, im Interesse unserer beiden Völker und im Interesse Europas.
Vielen Dank.