Rede von
Kerstin
Müller
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nein. - Sie, die es gewohnt waren, mit der Fristenregelung der ehemaligen DDR sehr verantwortungsbewußt umzugehen, sind jetzt, nach dem Zusammenbruch des vormundschaftlichen Staates, erstmalig einer staatlich verordneten Zwangsberatung ausgesetzt. Das ist ein neuer Beweis für die verfehlte Einigungspolitik. Das ist ein unglaublicher Affront gegen die Frauen in den neuen Ländern.
Meine Damen und Herren, gerade im Interesse der Frauen gehen wir daher zweigleisig vor. Wir bringen heute einen Antrag ein, der deutlich macht: Das Selbstbestimmungsrecht der Frau ist nur über eine ersatzlose Streichung des § 218 zu garantieren.
- Ich komme darauf noch zurück. - Gleichzeitig legen wir ein eigenes Beratungsgesetz vor, denn gerade weil es uns um das Selbstbestimmungsrecht der Frau geht, werden wir alles daransetzen, auch die Spielräume, die das Urteil des BVG zugunsten der Frau läßt, auszuschöpfen.
Die Entwürfe der CDU/CSU, der F.D.P. und auch der SPD werden diesen Anforderungen nicht gerecht. Der Entwurf der CDU/CSU z. B. übertrifft noch die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, was die Bevormundung und die Diskriminierung der Frau betrifft. Die Entscheidungsfreiheit der Frau tritt hier völlig hinter den sogenannten Schutz des ungeborenen Lebens zurück. Da ist keine Rede mehr von einer ergebnisoffenen Beratung, wie sie selbst das Bundesverfassungsgericht verlangt hat. Die F.D.P. und die Union verwenden übrigens die gleichen Formulierungen. Auch der SPD-Entwurf sieht z. B. immer noch eine Strafbarkeit des Arztes vor.
Wir werden Ihnen daher, meine Damen und Herren, das Feld nicht kampflos überlassen. Wir, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, legen ein Beratungsgesetz vor, das die Rechte der Frauen eindeutig benennt und das Prinzip „Hilfe statt Strafe" verankert.
Wir wollen mit unserem Entwurf dafür sorgen, daß es in den kommenden Beratungen nicht nur von den Lebensschützern, sondern auch von feministischer und liberaler Seite Druck gibt.
Meine Damen und Herren, es ist für uns, die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, unerträglich, wie ein überwiegend männlich besetzes Gericht sich anmaßt, den Frauen das Selbstbestimmungsrecht zu verweigern. Moralischen Überzeugungen wurde dort Verfassungsrang verliehen, die gesellschaftlich höchstens Minderheitenschutz verdienen.
Die Frau gilt in dem Frauenbild, das da zum Ausdruck kommt, als unmündig. Es wird suggeriert, daß sie dem werdenden Leben feindlich gegenüberstehe. Wenn in dem Urteil von dem Schutz des sogenannten ungeborenen Lebens gegenüber seiner Mutter die Rede ist, dann wird Schwangerschaft als etwas von der Frau Verschiedenes gesehen.
Meine Damen und Herren, hier wird an einem Frauenbild gestrickt, von dem wir alle dachten und vor allen Dingen meine Generation, daß es schon längst ad acta gelegt sei.
Worum geht es im Kern? Im Kern geht es um Macht, um Macht über Frauen, denen noch immer die Verantwortung und das Recht auf Selbstbestimmung über ihren Körper abgesprochen wird. Wenn wir in dieser Legislaturperiode nun erneut über eine Reform beraten, müssen wir dann nicht vielmehr fragen, ob wir uns an dem Ringen um die Macht über Frauen und ihren Körper beteiligen oder ob es nicht in Wirklichkeit darum geht, die Voraussetzungen für die materielle und soziale Gleichstellung der Frau zu schaffen? Geht es denn nicht in erster Linie um Hilfe für Frauen im Konflikt um ein ungeborenes Kind, der ganz eng mit dem eigenen Konflikt um ein selbstbestimmtes Leben verbunden ist? Das ist ohne existenzsichernde Arbeit nicht möglich.
Die Regierung denkt gerade über Familienförderung nach. Doch ist die eine Debatte ohne die andere möglich? Unter Ihrer Regierung, meine Damen und Herren, hat sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger von 2 Millionen auf 4 Millionen mehr als verdoppelt. Betroffen sind dabei vor allem alleinerziehende Frauen und kinderreiche Familien. Ist es dann nicht eine unglaubliche Ignoranz in Ihrem Entwurf, einerseits den Schutz des ungeborenen Lebens über das Persönlichkeitsrecht der Frau zu stellen und andererseits die Länder und finanziell gebeutelten Kom-
Kerstin Müller
munen mit der Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz allein zu lassen?
Meine Damen und Herren, es muß uns doch allen klar sein: Wir müssen die Finanzierung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz - wie geplant - bis zum 1. Januar 1996 sicherstellen; da waren sich alle Vorrednerinnen und Vorredner einig. Sonst steht nämlich die gesamte Reform des Abtreibungsrechts auf dem Spiel.
Da hilft es auch nicht weiter, wenn Bund und Länder auf dem Rücken der Frauen Schwarzer Peter spielen. Ohne eine gemeinsame Finanzierung durch Bund und Länder kann dieser Anspruch nicht verwirklicht werden.
Was einen Familienlastenausgleich angeht, der diesen Namen wirklich verdient, so beginnt er, anders als Herr Waigel und Sie, meine Herren und Damen von der CDU, es uns weismachen wollen, doch erst jenseits des Existenzminimums. Da bleibt die Bundesregierung, wie ich finde, jede Antwort schuldig. Da wird das „hohe C" der Union plötzlich gern wieder niedriggehängt.
Meine Damen und Herren, bisher zeigen alle wissenschaftlichen Untersuchungen: Die Abtreibungsfrage ist auch eine Verhütungsfrage. Je liberaler das Strafrecht, je aufgeklärter die Bevölkerung, desto weniger wird abgetrieben. Repressive Gesetze führen nicht zu einer Senkung der Abtreibungszahlen. Sie treiben die Frauen höchstens in die Illegalität.
Sie verschlechtern nur die Bedingungen, unter denen Frauen Schwangerschaftsabbrüche vornehmen.
Nehmen Sie nur die Situation in den neuen Ländern: Vor der Einheit, unter einer liberalen Fristenregelung, war die Geburtenrate doppelt so hoch wie jetzt, unter der viel repressiveren Übergangsregelung des Bundesverfassungsgerichts. Warum? - Weil die materiellen und sozialen Bedingungen für die Frauen, ihre berufliche Perspektive, hohe Mieten und anderes zu einer großen Verunsicherung geführt haben. Das zeigt einmal mehr: Frauen haben schon immer selbst entschieden, ob sie abtreiben. Die Gesellschaft bestimmt nur die Bedingungen, unter denen dies geschieht.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns die Bedingungen für die Frauen so gestalten, wie es einer modernen Gesellschaft gut zu Gesichte stehen würde, einer Gesellschaft, die von ihrem Anspruch her die Gleichstellung der Geschlechter will. Diese ist eben ohne das Selbstbestimmungsrecht der Frauen nicht zu erreichen.
Wenn wir in den nächsten Jahren schon mit dem BVG-Urteil leben müssen, dann, meine Damen und Herren, lassen Sie uns bei den anstehenden Beratungen über die Reform des Abtreibungsrechts für die Frauen so viele Spielräume eröffnen wie irgend möglich.
Wir brauchen eine möglichst liberale und frauenfreundliche Regelung, die das Selbstbestimmungsrecht der Frau in den Vordergrund stellt.
Danke.