Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst eine Bemerkung zu Ihnen, Frau Wettig-Danielmeier, und auch zu Herrn Lanfermann. Ich muß mich schon sehr wundern, daß ich Mitglieder des Deutschen Bundestages in diesem Hause darauf hinweisen muß, daß der Gesetzgeber ebendieser Bundestag ist und nicht das Bundesverfassungsgericht
und daß dem Bundestag demzufolge auch die Möglichkeit offensteht, eine Grundgesetzänderung zu beschließen.
Da genau das immer wieder diskutiert wird, möchte ich in meiner Rede die Möglichkeit nutzen, um zum einen etwas genauer auf die Implikationen des Karlsruher Urteils von 1993 und zum anderen auf die Handlungsmöglichkeiten des Bundestages nach diesem Urteil einzugehen. Gerade weil diese beiden Aspekte in der Diskussion bisher keine Rolle spielen und weil außer der PDS alle anderen Parteien in diesem Hause auf das Urteil starren wie das sprichwörtliche Kaninchen auf die Schlange und sich - wenn auch durchaus in unterschiedlichem Maße - darauf beschränken, sich an den Vorgaben des Urteils abzuarbeiten, möchte ich hier ein paar Klarstellungen anbringen.
In der öffentlichen Diskussion um die Neuregelung des Umgangs mit ungewollten Schwangerschaften wird der Eindruck erweckt, der Gesetzgeber habe nach dem Karlsruher Urteil keine andere Wahl mehr; es könne nun nur noch darum gehen, im Bundestag eine gesetzliche Regelung zu finden, die das Urteil umsetzt.
Dazu muß gesagt werden, daß Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts mitnichten ein Dogma sind. Entsprechend einem Beschluß ebendieses Gerichts aus dem Jahre 1987 geht die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen nicht so weit, den Gesetzgeber zu hindern, eine verworfene Regelung neu zu beschließen. Insbesondere steht es, wie ich schon gesagt habe, dem Gesetzgeber frei, im Rahmen von Art. 79 das Grundgesetz zu ändern.
Da mit dem Urteil die Geltung der im Grundgesetz festgeschriebenen Grundrechte für Frauen aus unserer Sicht erneut eingeschränkt und der Geltungsbereich des Grundgesetzes erweitert worden ist, schlagen wir demokratischen Sozialistinnen und Soziali-
Christina Schenk
sten in unserem Gesetzentwurf vor, daß Art. 2 des Grundgesetzes nunmehr eine unmißverständliche Form erhält. Es soll ein Absatz angefügt werden, der lautet:
„Jede Frau hat das Recht, selbst zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austrägt oder nicht."
Damit soll eine Bindung des Bundesverfassungsgerichts an den ursprünglichen Wesensgehalt der Grundrechte sichergestellt werden.
In der Begründung unseres Gesetzentwurfs wird aufgezeigt, von welchen Grundannahmen das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil ausgeht und wie von diesen Grundannahmen her das Grundgesetz interpretiert wird, ohne daß sich diese Interpretation zwingend aus dem historischen und grammatikalischen Kontext des Grundgesetzes ergibt. Weiter wird aufgezeigt, wie es dabei - quasi unterderhand - zu einer Veränderung des Wesensgehalts der Grundrechte gekommen ist.
Nun zu den Implikationen des Urteils: Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seinem Urteil von 1993 - wie auch schon in dem von 1975 - das Tötungsverdikt zu eigen gemacht. Das beruht auf einem Kunstgriff, nämlich die in der Realität für die Dauer der Schwangerschaft unauflösbare Einheit von schwangerer Frau und ihrer Leibesfrucht fiktiv aufzulösen, den Fötus zu personalisieren, um ihm dann ein eigenständiges Recht auf Leben zuzuerkennen. Nur mit Hilfe einer solchen Konstruktion, nur mit Hilfe eines solchen Kunstgriffs kann die Leibesfrucht gegen die Interessen und gegen die Entscheidung von schwangeren Frauen ausgespielt werden und kann eine - wie es so schön heißt - „Schutzpflicht des Gesetzgebers für das ungeborene Leben" auch gegen die Frau abgeleitet werden.
Man muß sich doch einmal fragen: Was passiert hier eigentlich? Hier werden unversehens christliche Auffassungen - insofern, Frau Eichhorn, war das vorhin durchaus ein sehr sinngebender, nämlich ein Freudscher Versprecher -, namentlich die katholische Lehre, der zufolge bereits mit der Empfängnis ein beseeltes Individuum und damit eine Person vorliegt, in den Rang einer objektiven, unfehlbaren und allgemeingültigen Wertordnung gehoben. Diese Ignoranz gegenüber anderen Weltsichten ist totalitär, sie ist demokratiefeindlich.
— Ich habe in der DDR gelebt und weiß, wovon ich rede. Auch die SED hat immer gesagt, daß sie im Besitz der alleinigen Wahrheit ist.
Der von den Gegnern und Gegnerinnen des Selbstbestimmungsrechts von Frauen erhobene Tötungsvorwurf ist die Grundlage der Kriminalisierung von Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen. Im übrigen möchte ich hier ganz klar sagen: Die landläufige Bezeichnung „Lebensschützer" für diejenigen, die Frauen das Recht auf eine eigene Entscheidung absprechen, verbietet sich meines Erachtens angesichts der von ihnen begangenen Morde an Ärzten in den USA und verbietet sich auch angesichts des Schadens, den sie mit ihren totalitären Indoktrinationen Frauen, Männern und vor allem den unerwünschten Kindern zufügen.
Es geht mir hier nicht um die schlichte Formel „Mein Bauch gehört mir." Es geht um viel mehr: Es geht hier um die Anmaßung des Bundesverfassungsgerichts, mit der Festlegung, die Leibesfrucht sei ein Rechtssubjekt, dem Grundrechte zukämen, von außen her definieren zu wollen, was die Leibesfrucht eigentlich ist. Es ist jedoch prinzipiell nicht möglich, von außen her zu bestimmen, was eine Schwangerschaft wirklich für die schwangere Frau selbst bedeutet. Das kann nur jede Frau für sich selbst ermessen.
Von daher kommen allein der schwangeren Frau die Definitionsmacht und das Entscheidungsrecht über ihre Leibesfrucht zu. Diese ist ihr Kind von Anfang an, wenn sie es sich wünscht, oder aber, wenn es sich um eine ungewollte Schwangerschaft handelt, ist sie ein Etwas, das ihre Lebenspläne zu zerstören droht. Das ist die volle Spannbreite, in der sich jede Frau irgendwo - je nach Kinderwunsch, je nach Weltanschauung, je nach Lebensplanung, je nach Sozialisation, je nach Lebensweg, Erfahrung usw. - verortet.
Indem das Bundesverfassungsgericht die Leibesfrucht zum Rechtssubjekt erklärt hat, hat es diese unter Art. 2 Abs. 2 - „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" - subsumiert. Damit wird der Geltungsbereich der staatlichen Fürsorge- und Schutzpflicht, der bisher bezüglich der Grundrechte Menschen als Personen umfaßte, auf das vorgeburtliche Leben ausgedehnt. Bisher war es Konsens, daß im Grundgesetz von Menschen als Personen die Rede ist, nicht vom menschlichen Leben schlechthin.
Ein weiterer Widerspruch zu Geist und Wortlaut des Grundgesetzes besteht darin, daß trotz der darin festgeschriebenen Gleichheit aller vor dem Gesetz mit dem Urteilsspruch zweierlei Recht für Männer und Frauen und darüber hinaus für schwangere und für nicht schwangere Frauen konstituiert wird. Eine Außerkraftsetzung der Grundrechte für die Frau während der Schwangerschaft steht ebenfalls im Widerspruch zum Wesensgehalt der Grundrechte.
Wenn man die uneingeschränkte Gültigkeit der im Grundgesetz formulierten Grundrechte auch für Frauen anerkennt, wenn Menschenrechte also auch Frauenrechte sein sollen, dann muß es selbstverständlich sein, daß angesichts der tiefgreifenden Veränderungen, die Schwangerschaft, Geburt und das Leben mit Kindern für die Lebensplanung mit sich bringen, Frauen über Austragung oder Abbruch einer Schwangerschaft selbst entscheiden können und daß sowohl die eine als auch die andere Entscheidung den gleichen Respekt verdient.
Es gibt noch einen weiteren schwerwiegenden Punkt der Kritik am Urteil: Das Bundesverfassungsgericht hat sich selbst zum Ersatzgesetzgeber gemacht, indem es in Gestalt detaillierter Regelungen
Christina Schenk
ein Quasi-Gesetz erlassen hat. Ich meine, das ist ein weiterer Hinweis auf die besorgniserregende Kompetenzverlagerung innerhalb der im Grundgesetz festgelegten Gewaltenteilung. Der Machtzuwachs zugunsten der Judikative, der sich in diesem Urteil besonders kraß zeigt, muß wieder eingeschränkt werden, um die Gewaltenteilung wieder auszutarieren. Politische Entscheidungen müssen vom Gesetzgeber, von diesem Parlament, und nicht vom Bundesverfassungsgericht getroffen werden.
Das Urteil ist und bleibt ein massiver Angriff auf die Freiheit und die Selbstbestimmung der Frau. Das können auch noch so gutgemeinte Gesetzentwürfe, die sich am Urteil abarbeiten, nicht wegwischen.
Die von uns vorgeschlagene Grundgesetzänderung in Art. 2 hätte hingegen zur Folge, daß die §§ 218 und 219 gestrichen werden müßten. Darüber hinaus müßte dann der in § 218 spezialgesetzlich sanktionierte Abbruch einer Schwangerschaft gegen den Willen der Frau dadurch unter Strafe gestellt werden, daß der Verlust der Leibesfrucht infolge einer Körperverletzung in den Katalog des § 224 StGB aufgenommen wird.
Die Bemerkung aus den Reihen der SPD und auch von anderer Seite, unser Entwurf sei traumwandlerisch, entbehrt, wie ich meine, nicht der Pikanterie. Daß unser Entwurf in diesem Haus gegenwärtig nicht durchsetzungsfähig ist, ist nun gerade kein Argument gegen ihn; denn ich meine: Was ist in diesem Haus schon durchsetzungsfähig, was innovativ, emanzipatorisch und fortschrittlich ist?
Ich möchte zum Schluß noch etwas zum Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sagen. Ganz offensichtlich haben sich nun auch die Bündnisgrünen in die Reihe derjenigen begeben, deren Blick von der Totalitarismus-Debatte so weit vernebelt ist, daß sie die DDR nur noch in den Begriffen von Unfreiheit und Indoktrination zu beschreiben in der Lage sind.
Zu behaupten, es habe in der DDR keine Möglichkeiten gegeben, sich freiwillig über Verhütung und Sexualität in einem unbelasteten Gespräch zu informieren, wie es in Ihrem Gesetzentwurf heißt, ist eine bodenlose Unverschämtheit.
Es hat in der DDR ein Netz von Ehe-, Familien- und Sexualberatungsstellen gegeben, und in diesen wurden, anders als jetzt, keinerlei Zwangsberatungen durchgeführt.
Und noch etwas: Die Verunsicherung, die ostdeutsche Frauen während der Zwangsberatung äußern und auf die Sie in Ihrem Gesetzentwurf Bezug nehmen, hat ganz sicher etwas mit den Verhältnissen in der DDR zu tun, aber anders, als Sie es in Ihrem Entwurf unterstellen. Diese Verunsicherung resultiert schlicht aus der Tatsache, daß jetzt etwas für unrechtmäßig und strafbar erklärt worden ist, was vorher selbstverständliches Recht war.
Zwangsberatung ist im übrigen nicht, wie Sie in Ihrem Gesetzentwurf behaupten, nur das Problem von Ostfrauen. Schließlich hat die westdeutsche Frauenbewegung Jahrzehnte nicht nur gegen die Kriminalisierung der Abtreibung, sondern zugleich auch gegen ein Bundesberatungsgesetz gekämpft.
Eines jedenfalls machen die Passagen in der Begründung des Gesetzentwurfs von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, auf die ich eben angespielt habe, deutlich: Die Bündnisgrünen sind ganz unzweifelhaft eine westdeutsche Regionalpartei, die so lange keine Chancen im Osten haben wird, wie sie die Verhältnisse in der DDR und in den jetzigen ostdeutschen Bundesländern in derartig verzerrter Weise begreift.
Ich stelle abschließend fest, daß die PDS bei diesem Thema gegenwärtig die einzige Partei ist, die klare Forderungen hin zu einer demokratischen, emanzipatorischen, d. h. in erster Linie auch frauenfreundlichen Gesellschaft erhebt und diese auch im Bundestag zur Sprache bringt.