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    Plenarprotokoll 12/192 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 192. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 Inhalt: Bestimmung des Abgeordneten Rolf Schwanitz als ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuß 16531 A Tagesordnungspunkt I: Fortsetzung der zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1994 (Haushaltsgesetz 1994) (Drucksachen 12/5500, 12/5870) Einzelplan 04 Bundeskanzler und Bundeskanzleramt (Drucksachen 12/6004, 12/6030) in Verbindung mit Einzelplan 05 Auswärtiges Amt (Drucksachen 12/ 6005, 12/6030) in Verbindung mit Einzelplan 14 Bundesministerium der Verteidigung (Drucksachen 12/6014, 12/6030) in Verbindung mit Einzelplan 35 Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte (Drucksachen 12/6027, 12/ 6030) Hans-Ulrich Klose SPD . . . . 16531D, 16592A Michael Glos CDU/CSU 16537A Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. 16544 C Hans-Ulrich Klose SPD 16544 D Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . . 16551A Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16554 B Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler . . . 16557 A Rudolf Scharping, Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz 16566 C Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. . . . 16576B Michael Glos CDU/CSU 16577 B Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. 16578 B Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . 16578D Dr. Jürgen Schmude SPD 16580 C Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA . 16587 A Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU (zur GO) 16595 B Dietrich Austermann CDU/CSU 16595 C Ortwin Lowack fraktionslos 16598 D Andrea Lederer PDS/Linke Liste . . . 16600 C Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 16603B Ernst Waltemathe SPD 16605 D Udo Haschke (Jena) CDU/CSU 16608 A Ingrid Matthäus-Maier SPD 16608 C Dr. Rudolf Krause (Bonese) fraktionslos 16609A Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 16610 D Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16612B Friedrich Bohl, Bundesminister BK . . 16613 D Dr. Hans Stercken CDU/CSU 16614B Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16615A II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD . . . . 16616D, 16630 B Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 16618A Hans-Gerd Strube CDU/CSU 16622 A Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste . . 16623D Carl-Ludwig Thiele F.D.P. . . 16626A, 16630 C Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD . . . 16627 B Ingrid Matthäus-Maier SPD 16628 A Volker Rühe, Bundesminister BMVg . 16630D Walter Kolbow SPD 16633 C Paul Breuer CDU/CSU 16636 B Dr. Karl-Heinz Klejdzinski SPD . . . 16637 B Präsidentin Dr. Rita Süssmuth 16554 A Namentliche Abstimmung 16638 C Ergebnis 16644 D Einzelplan 23 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Drucksachen 12/6021, 12/6030) Helmut Esters SPD 16639 B Christian Neuling CDU/CSU 16641D Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste . . . 16646 D Werner Zywietz F D P 16647 D Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16649 C Carl-Dieter Spranger, Bundesminister BMZ 16650 C Einzelplan 06 Bundesministerium des Innern (Drucksachen 12/6006, 12/6030) in Verbindung mit Einzelplan 33 Versorgung (Drucksache 12/6026) in Verbindung mit Einzelplan 36 Zivile Verteidigung (Drucksachen 12/ 6028, 12/6030) Rudolf Purps SPD 16652 D Karl Deres CDU/CSU 16656 C Ina Albowitz F.D.P. 16659 A Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 16661 B Ingrid Köppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 16662 D Günter Graf SPD 16664 B Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. 16665 D Erwin Marschewski CDU/CSU 16666 D Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. 16668D Freimut Duve SPD 16670A Karl Deres CDU/CSU 16670 C Dr. Klaus-Dieter Uelhoff CDU/CSU . . 16671A Klaus Lohmann (Witten) SPD 16672 C Manfred Kanther, Bundesminister BMI 16673 B Nächste Sitzung 16675 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 16677' A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt I 12: Einzelplan 05 — Auswärtiges Amt Dr. Klaus Rose CDU/CSU 16633' C Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt I 13: Einzelplan 14 — Bundesministerium der Verteidigung Hans-Werner Müller (Wadern) CDU/CSU 16679' A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16531 192. Sitzung Bonn, den 24. November 1993 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Augustin, Anneliese CDU/CSU 24. 11. 93 Blunck (Uetersen), SPD 24. 11. 93 * Lieselott Böhm (Melsungen), CDU/CSU 24. 11. 93 * Wilfried Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 24. 11. 93 Clemens, Joachim CDU/CSU 24. 11. 93 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 24. 11. 93 Herta Ehrbar, Udo CDU/CSU 24. 11. 93 Ganschow, Jörg F.D.P. 24. 11. 93 Gleicke, Iris SPD 24. 11. 93 Dr. Göhner, Reinhard CDU/CSU 24. 11. 93 Großmann, Achim SPD 24. 11. 93 Dr. Herr, Norbert CDU/CSU 24. 11. 93 Heyenn, Günther SPD 24. 11. 93 Hiller (Lübeck), Reinhold SPD 24. 11. 93 Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 24. 11. 93 Jung (Düsseldorf), Volker SPD 24. 11. 93 Junghanns, Ulrich CDU/CSU 24. 11. 93 Kiechle, Ignaz CDU/CSU 24. 11. 93 Dr. Kolb, Heinrich L. F.D.P. 24. 11. 93 Kraus, Rudolf CDU/CSU 24. 11. 93 Dr. Krause (Börgerende), CDU/CSU 24. 11. 93 Günther Kretkowski, Volkmar SPD 24. 11. 93 Kronberg, Heinz-Jürgen CDU/CSU 24. 11. 93 Dr. Matterne, Dietmar SPD 24. 11. 93 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 24. 11. 93 ** Dr. Ortleb, Rainer F.D.P. 24. 11. 93 Dr. Probst, Albert CDU/CSU 24. 11. 93 * Rappe (Hildesheim), SPD 24. 11. 93 Hermann Dr. Röhl, Klaus F.D.P. 24. 11. 93 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 24. 11. 93 Ingrid Dr. Ruck, Christian CDU/CSU 24. 11. 93 Schartz (Trier), Günther CDU/CSU 24. 11. 93 Dr. Scheer, Hermann SPD 24. 11. 93 * Schmidt (Salzgitter), SPD 24. 11. 93 Wilhelm Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 24. 11. 93 Schröter, Karl-Heinz SPD 24. 11. 93 Schwanhold, Ernst SPD 24. 11. 93 Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 24. 11. 93 Christian Dr. Soell, Hartmut SPD 24. 11. 93** Spilker, Karl-Heinz CDU/CSU 24. 11. 93 Dr. von Teichman, F.D.P. 24. 11. 93 Cornelia Vosen, Josef SPD 24. 11. 93 Wohlleben, Verena SPD 24. 11. 93 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Wollenberger, Vera BÜNDNIS 24. 11. 93 90/DIE GRÜNEN Zierer, Benno CDU/CSU 24. 11. 93* * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt I 12: Einzelplan 05 Auswärtiges Amt Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Mit besonders gemischten Gefühlen stehe ich jetzt am Rednerpult. Denn während wir hier im Warmen und in Sicherheit hehre Außenpolitik formulieren, frieren und sterben weitere Hunderte und Tausende von Menschen in Bosnien. Die Welt schaut zu, Europa schaut zu, Deutschland schaut zu. Eine erfolgversprechende außenpolitische Initiative gibt es nicht. Klaus Bressers Anklage vorgestern abend im deutschen Fernsehen ist zweifellos berechtigt. Seine Schlußfolgerungen einer einzigen Lösung, nämlich eines militärischen Einsatzes, versteht jeder, man schreckt aber davor zurück. In einem neuen Buch von Hans-Peter Schwartz wird der fehlende Mut, der fehlende Wille der Deutschen zur Machtpolitik moniert. Deutschland sei zwar schon lange ein wirtschaftlicher Riese mit automatischer Macht. Aber mit der Rolle des politischen Zwergs müsse es ein Ende haben. Weltmacht wider Willen könne man auf Dauer nicht sein, der politische Gestaltungswille müsse dazukommen. Ich höre jetzt natürlich den Aufschrei, daß die Deutschen wieder von einer großen Rolle in der Weltpolitik träumten. Nein, darum geht es nicht, zumindest nicht um eine Alleinträumerei der Deutschen. In der Weltgemeinschaft, in der Europäischen Gemeinschaft und in manchen internationalen Gremien muß Deutschland seiner Bedeutung gerecht werden. Diese Bedeutung ist nach der Wiedervereinigung naturgemäß anders als früher. Diese Neubewertung deutscher Außenpolitik, diese Umorientierung muß jetzt endlich in der Praxis geschafft werden. Deutschland muß sich sowieso darüber klar werden, daß die Welt sich weiterdreht und daß wir sehr schnell vom Rad geschleudert werden können. Bei der Einbringungsrede des Haushalts im September 1993 habe ich die Bedeutung einer deutschen Asienpolitik herausgestrichen. Ich freue mich deshalb über den Erfolg der Kanzlerreise nach China. Über eines darf der Blick nach Asien nicht hinwegtäuschen: Europa ist in großer Gefahr. Die Gefahr wird beim Blick auf die asiatische Weltkarte deutlich. Dort ist nämlich der Pazifikraum im Mittelpunkt und 16678* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 Europa Randlage, wie wir es von Alaska oder von der Kamtschatka gewöhnt sind. Genau hier setzt das Problem ein. Haben nicht vor wenigen Tagen der amerikanische Präsident und verschiedene asiatische Regierungschefs die Zukunftsrichtung der amerikanisch-pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) gewiesen? Hat nicht mit der NAFTA der nordamerikanische Wirtschaftsverbund den Wettbewerb mit der EG beschworen? Hat nicht der amerikanische Außenminister Warren Christopher gestern im ZDF-Morgenmagazin bei der Formulierung der amerikanischen Prioritäten die Stärkung der NATO erst an dritter Stelle genannt? Wir müssen erkennen, daß Europa aufpassen muß, damit es nicht wirtschaftlich, militärisch und finanziell zu einem unbedeutenden Markt wird. Mit der neuen Versuchung von Kleinstaaterei ist uns allen nicht gedient. Unverzichtbar ist für die EG und besonders für die Deutschen die Gewinnung der osteuropäischen Völker für Demokratie und Marktwirtschaft. Deshalb hatte der Haushaltsausschuß die Idee der Bundesregierung sehr begrüßt, mit der deutschen Beratungshilfe zum Aufschwung beizutragen. Über verschiedene Einzelpläne verteilt werden nächstes Jahr rund 300 Millionen DM eingesetzt. Es gibt am Ziel keinen Zweifel, denn der Aufbau von Forstverwaltungen, von Sparkassen oder von Konversionsprojekten bei früheren Rüstungsbetrieben kann nur unterstützt werden. Es wäre aber falsch, wenn wir am gleichen Weg wie bisher festhalten würden, nämlich alle Mittel an die Zentralregierungen zu geben. Es ist eine Tatsache, daß z. B. die russische Wirtschaft nur dann umgestaltet werden kann, wenn man das Potential der Regionen zur Wirkung bringt. Ich rede nicht einer politischen Dezentralisierung oder Destabilisierung das Wort. Denn ein weiterer Zerfall unter Krach und Donner ist nicht erstrebenswert. Eine einheitliche Rubelzone, eine Art Länderfinanzausgleich wären das Ziel. Doch so viel Demokratie als möglich, so viel föderative Strukturen als machbar sollten von uns herauskristallisiert werden. Mich als überzeugten Europäer, treuen Deutschen und begeisterten Föderalisten freut es jedenfalls, daß jetzt auch in der Republik Südafrika der deutschen Verfassung ähnliche Strukturen eingeführt werden. Die GUS, aber auch die Einzelnachfolger der Sowjetunion sollten auf jeden Fall, so sie es wünschen, beim Aufbau nicht bloß von demokratischen und marktwirtschaftlichen, sondern auch von föderativen Strukturen unterstützt werden. Im Rahmen des auswärtigen Etats muß ein weiteres Thema angesprochen werden. Es geht um die Hilfe in Katastrophenfällen, bei Not und Flüchtlingselend, bei Bürgerkriegen, die wir trotz eigener Haushaltsprobleme nicht vergessen dürfen. Ich erkenne in diesem Zusammenhang gerne die engagierte Leistung des Arbeitsstabs „Humanitäre Hilfe" im Auswärtigen Amt an. Mit der Soforthilfe, d. h. mit medizinischer Betreuung, Übergabe von Nahrungsmitteln und Kleidung, Herstellung von Notunterkünften oder Wiederherstellung von Strom-, Wasser-, Gasleitungen oder von Straßen und Brücken, wird viel Gutes geleistet, mit Sonderhilfen wird viel außenpolitischer Goodwill offenbart. 1993 sind bisher nahezu 500 Millionen DM für die humanitäre Hilfe eingesetzt worden, nicht bloß im Haushalt des Auswärtigen Amts, sondern auch beim BMZ, beim Innenminister oder beim Verteidigungsminister. Dazu kommen die internationalen Beiträge. Beliebig ausweiten läßt sich der vom Steuerzahler finanzierte Anteil an den Hilfsmaßnahmen aber auch nicht. Dankbar registrieren wir daher die Spendenbereitschaft der Deut-. schen insgesamt. Wir registrieren die wie Pilze aus dem Boden geschossenen privaten Unterstützungsorganisationen für die Not in Rußland, in Rumänien oder in Bosnien. Wir registrieren die selbstlose Einsatzfreude vieler Menschen in Deutschland, wenn es um spontane Hilfsmaßnahmen geht. Da wird viel gutgemacht, was durch andere Deutsche, ob glatzköpfige Schläger oder hohlköpfige Schreibtischtäter, an Schande über Deutschland gebracht wird. Wegen der Sperren im Haushaltsgesetz und der Globalkürzung um 5 Milliarden DM, die anteilsmäßig auch den Etat des Auswärtigen Amts betreffen und insgesamt 134 Millionen DM ausmachen könnten, steht die Auswärtige Kulturpolitik noch mehr als früher im Mittelpunkt des Interesses. Im gewünschten Ziel sind wir uns alle einig, nämlich möglichst viel und möglichst effektiv, möglichst überall und möglichst ständig kulturell präsent zu sein. Es sind, das hat der ehemalige Präsident des Goethe-Instituts, Hans Heigert, anerkannt, viele Milliarden DM in die bisherigen Kulturverbindungen mit dem Ausland gesteckt worden. Keinem fällt es leicht, wegen des allgemeinen Sparzwangs bei diesen Kulturbeziehungen Abstriche zu machen. Es war immerhin der Bundeskanzler selbst, der mehrmals betonte, daß die deutsche Sprache im Ausland noch stärker gefördert werden sollte und daß mit einem Sonderprogramm „Deutsche Sprache" besonders in Osteuropa zum Aufbau friedlicher Beziehungen beigetragen würde. Der Haushaltsausschuß jedenfalls hat diese Haltung respektiert und versucht zu helfen, wo zu helfen war — ohne deshalb die Arbeitslosenunterstützung im eigenen Land oder manch unverzichtbare Investition in den neuen Bundesländern zu gefährden. Von einer besonderen „Kultur" zeugt daher nicht, wenn die Verantwortlichen des Goethe-Instituts in München bei einer Pressekonferenz im Oktober dieses Jahres wieder einmal glaubten, von einer „Strafexpedition der Anti-Kultur-Politiker in Bonn" reden zu müssen, weil auch das GoetheInstitut einen Sparbeitrag zur allgemeinen Haushaltslage bringen muß. Am meisten wurde beklagt, daß vier Institute geschlossen werden müßten und daß damit erheblicher außenpolitischer Schaden einträte. Wollen Sie die Namen dieser vier Institute hören? Es handelt sich um Viña del Mar (Chile), Medellin (Kolumbien), San Juan (Argentinien) und Malmö (Schweden). Zumindest bei unseren schwedischen Freunden habe ich bisher keinen Liebesentzug feststellen müssen, dafür freuen sich aber die Städte, die bisher in der sozialistischen Abgeschiedenheit festgenagelt waren, wie St. Petersburg, Kiew, Minsk oder Tiflis, auch Alma Ata und Hanoi, daß ein neues Goethe-Institut dort hinkommt. Sollte etwa ein Sparzwang gar ein Anreiz zu neuem Denken sein? Ich kann nur ermuntern, auch stärker den europäischen Verbund zu sehen. Gemeinsame deutsch-französi- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16679* sche Botschaften oder auch Kulturinstitute oder zumindest ein gemeinsames Dach dafür könnte so manchen Anstoß zu mehr Effektivität auch in der Kulturpolitik geben. Man ist noch lange kein KulturMuffel, wenn man sich Gedanken über das Aufbrechen verkrusteter Strukturen macht. Heilsam ist letzteres im gesamten staatlichen Haushalt. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt I 13 Einzelplan 14 Bundesministerium der Verteidigung Hans-Werner Müller (Wadern) (CDU/CSU): Unsere Soldaten sind aus Kambodscha zurückgekehrt. Unsere Soldaten leisten humanitäre Hilfe in Somalia. Es sind besonders viele aus den Standorten meiner saarländischen Heimat dabei. Unsere Soldaten versorgen Teile der bosnischen Bevölkerung aus der Luft. Unsere Soldaten erfüllen diese Aufträge mit hohem Verantwortungsbewußtsein und vorbildlicher Haltung. Sie dienen dem Ansehen unseres Landes, dafür gebührt ihnen unser Dank. Unsere Soldaten können dies leisten, weil wir eine einsatzbereite, modern ausgestattete und bündnisfähige Bundeswehr haben, und auch weiter haben wollen. Dazu bedarf es erheblicher staatlicher Mittel, die im Einzelplan 14 des hier zu beratenden Haushaltes zur Verfügung gestellt werden. Der 94er Haushalt für die Verteidigung steht im besonderen Maße unter der Notwendigkeit substantieller Einsparungen, weil die Staatsfinanzen insgesamt gesehen zu konsolidieren sind. Konsolidierung der Staatsfinanzen ist erfolgreiche Zukunftssicherung Deutschlands. Dies ist oft genug gesagt worden. Im Wettbewerb um die knappen Ressourcen sind in der Öffentlichkeit gerade die Verteidigungsausgaben besonders zu begründen. Werden doch rund 48 Milliarden ausgegeben, aber immerhin fast 3 Milliarden weniger als 1992. Wir sind, um das gleich vorweg zu sagen, an eine Grenze gestoßen, die wir nicht mehr unterschreiten dürfen, ohne das Ganze zu gefährden. Im vergangenen Jahr wollte die SPD noch 5 Milliarden aus dem Verteidigungshaushalt herausstreichen, heute wird dieser Haushalt anders, wesentlich realistischer beurteilt; man läßt erkennen, durch einige Sprecher zumindestens, daß hier in diesem Einzelplan des Bundesministers der Verteidigung nichts mehr zu holen ist. Ich meine dies ist ein Fortschrittt. Ich will auch sagen, daß in diesem Jahr die Beratungen gerade dieses Haushaltes aus meiner Sicht besonders schwierig waren, im Vergleich zu den früheren Jahren. Ich habe ja die Ehre, schon seit einigen Jahren diesen Haushalt zu bearbeiten. Ich möchte mich an dieser Stelle auch ganz herzlich bei den Beamten des Verteidigungsministeriums für die gute Zusammenarbeit bedanken. Die Beratungen waren aber schwierig, weil es halt immer schwierig ist, die Wünsche, so berechtigt sie auch sind, und die Realität in Einklang zu bringen, wobei wir selbstverständlich den Weg des Ministers unterstützen, der durch energisches Sparen im Bereich der Betriebsausgaben der Bundewehr sich Freiräume zu schaffen sucht für neue Gestaltungsmöglichkeiten und planerische Initiativen. Wir gehen diesen Weg mit, Herr Minister, so wenn wir z. B. ca. 200 Millionen DM Betriebsausgaben sparen und dafür 200 Millionen DM investieren. Es gibt einen militärischen Grundsatz, der da lautet: Entsprechend der Auftragserteilung sind die erforderlichen Mittel bereitzuhalten. Das heißt: Wenn wir über die Auftragserteilung einig sind — und wir sind das in der Union —, dann gilt dreierlei: Erstens. Wir brauchen eine Bestätigung der Verteidigungsausgaben in den nächsten Jahren, zumindest für den Zeitraum des Finanzplanes, also bis 1997. Damit gibt man der Bundeswehr den Planungsrahmen und die erforderliche Planungssicherheit. Zweitens. Der Haushalt für 1994 für den Bundesminister der Verteidigung ist in dieser Größenordnung von etwas über 48 Milliarden DM ein Schritt in diese Richtung. Drittens. Der Haushalt des Bundesministeriums der Verteidigung muß nach entsprechender Umschichtung wiederum etwa 30 Prozent für Investitionen enthalten. Wir werden bald die Stärke von 370 000 Soldaten erreicht haben. Man spricht von Zielstrukturen. Wir hatten einmal in der alten Bundesrepublik 490 000 Soldaten. Trotz der zurückgehenden Zahl sollten wir an der Wehrpflicht festhalten. Die Bundeswehr hat damit einen ständigen Kontakt mit der jungen Generation, einen Kontakt, der prägt. Nahezu die Hälfte der Zeit- und Berufssoldaten rekrutiert sich aus den Teilnehmern am Wehrdienst. Damit bleibt die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber mit dem Angebot einer jährlichen Einstellung von rund 20 000 Soldaten auf die Zeit von 4 Jahren und länger. Im nächsten Jahr werden wir die Zielstruktur von 370 000 planmäßig erreichen. Dies gilt sowohl für Umfang als auch für Qualität. Die Laufbahnentwicklung ist damit auch von besonderer Bedeutung. Attraktivität des Soldatenberufes ist nämlich sehr wichtig. So haben wir in diesem Haushalt auch rund 3 000 Hebungen für Oberfeldwebel und 1 000 Hebungen für Stabsunteroffiziere vorgesehen. Die Beförderungswartezeiten für Zeitsoldaten werden radikal reduziert. Wir denken, daß auch dies in der Öffentlichkeit allgemein und bei den betroffenen Jugendlichen zu einer größeren Akzeptanz des Dienstes in den Streitkräften geführt hat. Deswegen gehen die Quoten der Wehrdienstverweigerung auch zurück, obwohl von einer Trendwende noch nicht gesprochen werden kann. Auch beim Zivilpersonal bauen wir im nächsten Jahr mehr als 8 500 Stellen ab. Dies geschieht ausschließlich durch Fluktuation des Personals. Kein Mitarbeiter wird entlassen. Die Sozialverträglichkeit 16680* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 kann durch Anwendung des Bundeswehrbeamtenanpassungsgesetzes voll gewährleistet werden. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal die Bitte vortragen, daß das Verteidigungsministerium alsbald ein Personalstrukturmodell für die zivilen Bediensteten der Bundeswehr vorlegt, damit die Organisation nach neuen betriebswirtschaftlichen Erkenntnissen gestaltet werden kann. Mit diesen wenigen Sätzen wollte ich darstellen, was wir u. a. mit diesen 48 Millionen DM im Bereich unserer Verteidigung machen. Ich möchte abschließend darauf hinweisen, daß die Größe, die Struktur und der Auftrag sowie das Selbstverständnis der Bundeswehr hier nicht nur allein etwas mit Geld zu tun haben, sondern daß es auch um eine politische Grundeinstellung geht. Karl Feldmeier hat vor einigen Tagen in der FAZ einen Artikel geschrieben mit der Überschrift „Wozu dient die Bundeswehr?" Er führt dort aus: „Maßgebend wird letzten Endes die Entscheidung darüber sein, ob Politik und Gesellschaft Deutschlands die veränderte Wirklichkeit annehmen und ob sie den Willen zur Selbstbehauptung aufbringen. Es geht darum, ob Deutschland eine gleichberechtigte Macht im Kreise seiner Verbündeten sein oder zum Objekt der Macht anderer werden soll. Ohne den Willen zur Selbstbehauptung wären Streitkräfte überflüssig." Soweit dieses Zitat. Wir, die wir uns mit diesem Haushalt intensiv befaßt haben, sind davon überzeugt, daß wir mit unseren Entscheidungen der Bundeswehr einen wesentlichen Beitrag zur Erfüllung ihrer vielseitigen Aufgaben geliefert haben.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Norbert Herr


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Das ist ja zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Debatte nicht das Zentrale. Das Zentrale ist, daß Sie in den letzten vier Jahren seit dem Fall der Mauer das große Kapital an Hoffnung, an Mut, an Freude, an Engagement, an Bereitschaft zum gemeinschaftlichen Einsatz fast vollständig verwirtschaftet haben.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    Wenn eine solche Generalaussprache, Herr Bundeskanzler, der Linie der Politik gelten soll, dann muß man wohl zwei Dinge tun, nämlich über das reden, was die derzeit Regierenden in den letzten Jahren getan haben, und über das reden, was in der Zukunft notwendig ist. Diese Bundesregierung jedenfalls vermittelt nicht das, was Deutschland am dringendsten braucht, nämlich Orientierung, klare Zielsetzung und das Einfordern einer gemeinschaftlichen Aufbauleistung in Deutschland. Das vermitteln Sie nicht.

    (Beifall bei der SPD)




    Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz)

    Ich erinnere an die Aussprache bei der ersten Gelegenheit hier und bleibe dabei, daß man sich zunächst einmal mit Fragen auseinandersetzen muß, die die Menschen in Deutschland, ihre konkreten Lebensumstände, ihre Schicksale betreffen.
    Man darf sich nicht wundem, wenn in der einen oder anderen politischen Floskel, die da so geäußert wird, der Familienvater, der mit 1 700, 1 800 DM im Monat seine Familie mit zwei Kindern ernähren soll, sich nicht mehr wiederfindet, weil er das Gefühl haben muß, daß diese Lebensumstände bei denen, die da als Regierende politisch reden, völlig unbekannt geworden sind

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Hans Modrow [PDS/Linke Liste])

    und keine Vorstellung mehr davon besteht, was normales Leben eigentlich bedeutet.
    Wenn ich dann Bemerkungen höre, die mit dem Arbeitsmarkt, mit der sozialen Gerechtigkeit, mit der Situation des Wohnens in Deutschland zu tun haben, dann finde ich das alles bestätigt. Wer so kühl, nur in der Bilanz und nur in der Statistik über das Leben von Menschen redet, der entfremdet sie der Politik und der Notwendigkeit einer gemeinsamen Kraftanstrengung. Genau das tun Sie.

    (Beifall bei der SPD)

    Da Sie, Herr Bundeskanzler, von der Besichtigung blühender Landschaften im Osten zurückkommen, kann ich Ihnen nur empfehlen, das sehr praktisch zu studieren. Das sind dann zwar keine blühenden Landschaften, aber Menschen, die genau denselben Anspruch darauf haben — ganz unabhängig davon, daß Ihre China-Reise als Erfolg bezeichnet werden kann —, daß Sie sich ihnen mit der gleichen Zeit, mit der gleichen Aufmerksamkeit, mit derselben Konsequenz zuwenden.

    (Beifall bei der SPD)

    Davor drücken Sie sich.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU)

    Dasselbe gilt für die vielen Tausende junger Leute, die im Bergbau, bei den Werften, in der Stahlindustrie oder an anderer Stelle heute in einer Ausbildung stecken, von der sie genau wissen, daß sie keine berufliche Chance bedeutet. Wenn wir die Zukunft dieses Landes sichern wollen, dann werden wir viel mehr dafür tun müssen, daß junge Leute eine Zukunftschance haben, die etwas mit Ausbildung, Beruf, Familienleben und sicheren materiellen Verhältnissen zu tun hat.

    (Beifall bei der SPD)

    Wenn Sie soziale Verhältnisse nicht mehr aufregen, mich regen sie auf. Mich regt auf, daß in diesem Land eine Million Kinder die Erfahrung macht, mit den Eltern gemeinsam von und mit Sozialhilfe leben zu müssen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Hans Modrow [PDS/Linke Liste])

    Mich regt das auf, weil ich weiß, was es für die Fähigkeit bedeutet, den eigenen Wert selbst zu erfahren und selbst mit anderen gemeinsam zu bestimmen.
    Diejenigen, die immer von Leistung reden und davon, daß sie sich wieder lohnen müsse, müssen sich fragen lassen, wie viele Bedingungen sie eigentlich setzen, daß viele, viele Menschen in diesem Land die Erfahrung eigener Leistung gar nicht mehr machen können.

    (Beifall bei der SPD)

    Wenn es Sie nicht aufregt, mich regt es auf, daß in diesem Land über 100 000 Menschen mit Kindern obdachlos sind, kein anständiges Dach mehr über dem Kopf haben. Es regt mich auch auf, daß Sie die Absicht haben, den 48jährigen Stahlarbeiter, Bergarbeiter, sonstigen Arbeitnehmer, der unverschuldet arbeitslos wird, jetzt zum Sozialamt zu schicken.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU) Mich regt das auf.


    (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Liste] und des Abg. Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

    Das, meine Damen und Herren, ist nicht nur eine Frage des eigenen persönlichen Aufregens, sondern vor allen Dingen eine Frage, ob man noch das Gefühl dafür behält, was in einem Land politisch und sozial und kulturell angerichtet wird, wenn solche Verhältnisse regelmäßig mißachtet werden.

    (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. KlausDieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] — Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Sich hierhinzustellen, Herr Bundeskanzler, und in besorgten und berechtigten Worten über das Anwachsen von Enttäuschung oder über rechten, meinethalben auch linken Radikalismus zu räsonieren, das ist die eine Sache; in berechtigten und begründeten Worten. Aber die andere Sache ist die Frage danach, was man selbst tut, um solche Verhältnisse zu mildern oder um sie zu fördern.

    (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)

    — Es freut mich, daß ich Sie wachgemacht habe.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Aber die Methode war trotzdem nicht gut!)

    — Wir werden gleich noch sehen, Herr Kollege, ob die Methode gut war. Wir werden ganz sicher noch in eine ganze Reihe von interessanten Erörterungen kommen.
    Aber ich sage Ihnen eines: Wenn in diesem Land von den Regierenden wie den Opponierenden, dem Bund wie den Ländern und auch den Gemeinden nicht sehr konkret eine Perspektive entwickelt wird, wie man den Menschen Arbeit, den Frauen Chancengleichheit und den Jugendlichen eine Zukunft geben



    Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz)

    kann, dann, fürchte ich, werden alle Beteiligten davon den Schaden haben.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Sagen Sie sie doch! — Nur heiße Luft!)

    — Ihre Ungeduld ist unbegründet. Ihre Fragen werden noch beantwortet werden, keine Sorge.
    Ich wollte deutlich machen, daß ich es für dringend erforderlich halte, daß wir nicht nur über den Industriestandort Deutschland reden, sondern beginnen, auch über den Lebensstandort Deutschland zu reden, um dieses Wort aus der Evangelischen Kirche einmal aufzugreifen.

    (Beifall bei der SPD — Hermann Rind [F.D.P.]: Ist doch dasselbe! Ist doch kein Unterschied!)

    Denn innerer Frieden und Gerechtigkeit gehören zusammen.
    Dann sagen Sie, die Sozialdemokraten schüren den sozialen Neid und schützen das Anspruchsdenken.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU)

    Ich will Ihnen folgendes sagen. Es gibt in diesem Land welche, die bieten ein Vorbild, und es gibt welche, die verweigern das Vorbild. Es ist ganz und gar richtig, daß auch bei deutlichem umweltverträglichem Wachstum, mit dem wir im nächsten Jahr leider nicht rechnen können, auch wenn man die günstigsten politischen Rahmenbedingungen dafür schaffte, der hohe Sockel an Arbeitslosigkeit nicht oder nur unmaßgeblich abgebaut werden kann.

    (Michael Glos [CDU/CSU]: Woran liegt es?)

    Vor diesem Hintergrund wird es nicht nur darum gehen, Felder zu bestimmen, auf denen Wachstum stattfinden kann, sondern auch darum, die Organisation und die Verteilung der Arbeit zu verändern. Der Bundeskanzler redet von der Europäischen Gemeinschaft, es gibt Vorschläge des Präsidenten Jacques Delors, es gibt Vorschläge anderer Regierungen. Ich habe, Herr Bundeskanzler, hier ein Wort zu der Notwendigkeit vermißt, auch in der Europäischen Gemeinschaft zu einer gemeinsamen Initiative für umweltverträgliches Wachstum und für Beschäftigung zu kommen.

    (Beifall bei der SPD)

    Diese Frage wird in der zweiten Dezemberwoche beim Europäischen Gipfel eine Rolle spielen. Es ist durchaus interessant zu wissen, ob die Bundesregierung bereit ist, in ihrer eigenen Politik und in der Europäischen Gemeinschaft das zu tun, was jetzt mit Hilfe der Europäischen Gemeinschaft getan werden kann, nämlich Wachstumsfelder zu bestimmen, Investitionen zu fördern. Ich will Ihnen die auch nennen: Das hat etwas mit Umwelttechnologie, mit einem europäischen Verkehrssystem, der europäischen Luft- und Raumfahrt und anderem zu tun. Wenn sich die Bundesregierung hier auf etwas versteift, wie sie es in der bedrohten Branche des Stahls leider getan hat, wo sie um den Preis der notwendigen Hilfe für EKO-Stahl in Brandenburg dafür gesorgt hat, daß der völlig unfaire Subventionswettbewerb in der Europäischen Gemeinschaft auf der Ebene des Stahls fortgesetzt wird, dann hätten wir mit Steinen statt mit Brot gehandelt. Spätestens im Ruhrgebiet werden wir es dann alle zu spüren bekommen.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich will folglich nicht nur sagen, daß wir Wachstumsfelder zu bestimmen haben und daß es in der Europäischen Gemeinschaft dafür entsprechende Initiativen geben muß, sondern auch etwas zur deutschen Situation sagen. Ich will eine Firma zitieren, gegen die Sie ganz sicher nichts einzuwenden haben. Es gibt eine Studie der Unternehmensberatungsgesellschaft McKinsey. Sie weist darauf hin, daß Fragen der Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften sehr klare Ergebnisse haben.

    (Michael Glos [CDU/CSU]: Dafür können wir uns nichts kaufen!)

    — Herr Kollege Glos, bei der Frage, wie man einzelne politische Sachverhalte bewertet, ist ihre Kenntnis durchaus hilfreich.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

    Sie kennen doch den schönen alten Satz, daß vor dem Kehlkopf der Kopf kommt.

    (Heiterkeit bei der SPD)

    Zwei Drittel der japanischen Kostenvorteile stammen aus überlegenem Management, einer effizienten Produktion und einer vorzüglichen Arbeitsorganisation.
    Die Schweizerische Bankgesellschaft, auch kein sozialdemokratisches Institut,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das weiß man nicht!)

    weist in einer Studie nach, daß unter jetzt 38 miteinander konkurrierenden Industriestaaten Deutschland zur Zeit hinter den USA, der Schweiz, Japan und Belgien auf Platz 5 der Wettbewerbskraft liegt. Nach der Prognose der Schweizerischen Bankgesellschaft wird, verändert sich nichts, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft bis zum Jahr 2005 auf den 18. Platz der 38 Nationen abgefallen sein, dann hinter Korea, China, Israel, Singapur, Japan und Hongkong, die auf den ersten sechs Plätzen sein werden.

    (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist Ihr Regierungsprogramm!)

    Das, meine Damen und Herren, zitiere ich deshalb, weil ich, und ich könnte Ihnen noch viele andere Zahlen nennen

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    — wehren Sie sich doch nicht gegen Informationen! —,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Lesen können wir selber!)

    fünf Maßnahmen für dringend notwendig halte.
    Erstens. Wir müssen dafür sorgen, daß im industriellen Bereich, in der industriellen Fertigung kürzer gearbeitet werden kann. Und in der gegenwärtigen



    Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz)

    Situation gehört die ungeschminkte Wahrheit dazu: Mit vollem Lohnausgleich wird das nicht gehen.

    (Beifall des Abg. Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.] — Zuruf von der CDU/CSU: Auch nicht mit halbem Lohnausgleich!)

    Das zweite ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie das mit der Laufzeit der Maschinen ist. Ich will nicht all das wiederholen, was ich in der ersten Debatte gesagt habe, aber im Kontext der industriell organisierten Arbeit, der Arbeitszeit, der gerechteren Verteilung der Arbeit gibt es — so kann man sagen — ein Vorbild. Dieses Vorbild setzen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Gewerkschaften. Denn mir erscheint es durchaus bemerkenswert, daß der Betriebsrat des Volkswagenwerks in ganzseitigen Anzeigen dafür unter der Überschrift „Lieber kürzer arbeiten als lange arbeitslos!" wirbt, in Verantwortung vor Familien, vor Kindern, vor Kolleginnen und Kollegen. Ich würde mir wünschen, man könnte von dieser Bundesregierung sagen, daß sie in irgendeinem Bereich ähnlich vorbildlich agiert wie beispielsweise die Betriebsräte des Volkswagenwerkes.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Hermann Otto Sohns [F.D.P.]: Das ist aber der Betriebsrat, nicht die Gewerkschaft!)

    Das dritte ist, daß lohnintensive Betriebe entlastet werden müssen, denn sonst werden dort Strategien der Arbeitszeitverkürzung immer auch zu einer Erhöhung der Arbeitskosten führen!

    (Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist richtig!)

    In diesem Zusammenhang ist es dringend notwendig, die sozialen Sicherungssysteme endlich aus ihrer Funktion als Lastesel und Finanzier der deutschen Einheit zu befreien.

    (Beifall bei der SPD)

    Es sind die Zahlen des Bundesarbeitsministers und viele andere, die darauf hindeuten, daß man in dieser Situation die Solidarität im deutschen Volk genauso beschädigt wie die Wettbewerbschancen der lohnintensiven Betriebe, wenn man nur über die Sozialversicherungssysteme mit Beiträgen der Arbeitnehmer finanzieren läßt, was von allen gemeinsam in Deutschland geleistet werden muß.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Deshalb ist es besonders erstaunlich, daß von dieser Bundesregierung überhaupt keine Initiative kommt, wohl aber der höchst widersprüchliche Satz, daß die Lohnnebenkosten zu hoch seien, während sie auf der anderen Seite eine Politik betreibt, die genau diese Lohnnebenkosten in ungeahnte Höhen getrieben hat. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik!

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Ich nenne diesen zweiten Punkt auch vor dem Hintergrund, daß sich das Volumen der bezahlten Arbeitsstunden in Deutschland fast unabhängig vom Konjunkturverlauf immer bei etwa 46 Milliarden Stunden pro Jahr eingependelt hat. Das signalisiert, daß es in einer Gesellschaft, in der die Jüngeren prozentual abnehmen, die Älteren prozentual zunehmen, auch unter dem Gesichtspunkt der Reform und der dauerhaften Sicherung des Sozialstaates dringend geboten ist, nicht alles über Beitragszahlungen der Arbeitnehmer zu finanzieren, sondern die Gemeinschaft insgesamt zu beteiligen, wenn es um allgemeine Interessen geht.

    (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

    Ich weiß, das wollen Sie nicht. Sie reden auch an anderer Stelle viel und gerne von Wettbewerbsfähigkeit, von der Bedeutung von Forschung und Technologie, Bildung und Wissenschaft und dergleichen mehr. Ich will Ihnen dazu nur folgendes sagen: Das Institut für Wirtschaftsforschung kommt zu dem Ergebnis, daß die technologische Wettbewerbsposition der deutschen Industrie bröckelt, daß der Anteil der internationalen Patentanmeldungen deutlich zurückgegangen ist und daß die Forschungsaufwendungen in den Unternehmen und beim Staat — leider — stagnieren. Wir geben insgesamt 2,6 % unseres Bruttosozialproduktes aus, unsere Hauptwettbewerber das gleiche oder mehr.
    Es ist also nicht nur eine Frage der Steigerung von Haushaltszahlen. Verehrter Herr Bundeskanzler, die Zahlenreihe, die Sie hier aufgemacht haben, zeigt mit ihren mageren Steigerungsraten in diesen Jahren überdeutlich, daß bei den Forschungs- und Technologieaufwendungen ein schweres Versäumnis für die Zukunft liegt, übrigens auch in den Unternehmen. Denn das, was ich hier beschreibe, ist nicht nur ein Mangel an Tatkraft und Phantasie in der Politik, sondern genauso ein Mangel an Tatkraft und Phantasie in vielen Bereichen des deutschen Managements.

    (Beifall bei der SPD)

    Man wird also, wie das — Sie haben BadenWürttemberg zitiert; das tue auch ich einmal — zur Zeit in Baden-Württemberg vorbildlich gemacht wird, gerade mittelständische Industrie sowie mittlere und kleinere Unternehmen in einer gemeinsamen Aktion zusammenholen, um Qualität in der Produktion zu sichern und die Information zu schaffen über das, was mit heute geltenden Tarifverträgen in der Organisation der Arbeit überhaupt möglich ist. Der schlimmste Mangel ist ja, daß auf der Ebene der Politik darüber mit sehr deutlicher ideologischer Schlagseite diskutiert wird, während auf der Ebene der Unternehmen und des Managements eine ganz und gar unzureichende Information darüber besteht, was mit Betriebsvereinbarungen auf der Grundlage geltender Tarifverträge schon heute möglich wäre, urn die Laufzeit von Maschinen zu verlängern und Arbeit flexibler und intelligenter zu organisieren.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie haben zweimal mit einem Seitenhieb gesagt: Jetzt haben Sie Helmut Schmidt an der Seite. Sie werden es mir nicht übelnehmen: Ich habe Helmut Schmidt lieber an der Seite als manchen von Ihnen.

    (Beifall bei der SPD — Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das wäre aber besser gewesen!)




    Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz)

    Auch das ist eine Frage der Information und Sachkunde.
    Da ich von den Vorbildern und den verweigerten Vorbildern gesprochen habe, will ich Ihnen noch etwas zu dem sagen, was Sie hier angeprangert haben: Nach meinem Empfinden haben wir nicht nur einen Mangel in der Politik. Sie reden immer gern von Eliten, von den „Leistungsträgern", von denen, an denen die zukünftige Entwicklung hängt.

    (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Die sollten Sie nicht verteufeln!)

    — Nein, die verteufle ich überhaupt nicht.
    Ich fordere nur etwas ein, und zwar gemeinsam mit vielen klugen Unternehmern genauso wie mit vielen in den beiden christlichen Kirchen und anderen, nämlich das bisher verweigerte Vorbild der Eliten. Ich muß Ihnen sagen: Sie tun leider nichts dazu, daß sich dieser Zustand des verweigerten Vorbildes ändern könnte. Im Gegenteil: Sie verschärfen die Situation noch, wenn Sie den Eindruck erwecken, die Gesundung des Gemeinwesens, eine neue Hoffnung für Deutschland, die gemeinsame Kraftanstrengung hingen davon ab, daß man den Schwächeren am intensivsten in die Tasche greift. Sie verschärfen diesen Prozeß noch.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Ungeniertheit, mit der Sie das tun, steht in einem so eklatanten Widerspruch zu Ihrer Angstlichkeit, dieses Vorbild einzufordern, daß man dahinter leider mehr System als Unfähigkeit vermuten muß.

    (Beifall bei der SPD — Michael Glos [CDU/ CSU]: Sie waren auch gerade kein Vorbild der Wahrheit!)

    Was habe ich in dieser Debatte für unerträglich billige Hinweise gehört,

    (Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Ein leuchtendes Beispiel steht da vorn!)

    als wollten wir irgend jemandem seine Lebensmöglichkeiten beschneiden, als wollten wir die Investitionskraft der deutschen Wirtschaft schwächen! Nein, wir wollen ausdrücklich, daß Investitionen steuerlich begünstigt werden, daß das Unternehmensteuerrecht entsprechend gestaltet wird. Wir haben genau aus diesem Grunde darum gekämpft, daß im Rahmen des Standortsicherungsgesetzes keine Verschlechterung — jedenfalls keine wirklich spürbare — der Abschreibungsbedingungen eingetreten ist.
    Indem wir das tun, fordern wir gleichzeitig von den Leistungsstarken, den Eliten, sich in Deutschland vorbildlich zu verhalten. Ich sage auch hier den Satz: Wenn ein Mensch die Möglichkeit hat, im Monat 2 000 DM Steuern zu zahlen, dann wirft es ihn und seine private Lebensgestaltung nicht um, wenn er in Zukunft 2 200 DM zahlt. Das wirft ihn nicht um.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir sollten uns endlich davon freimachen, zu behaupten, das sei das Schüren des Sozialneides.
    Nein, ich verspüre keinen Neid. Aber ich appelliere an die, die stark und mächtig und kräftig in dieser Gesellschaft sind, ihren Beitrag dazu zu leisten, daß diese Gesellschaft gemeinsam vorankommen kann, anstatt sich in Winkeln zurückzuziehen und ihre Besitzstände zu verteidigen.

    (Beifall bei der SPD)

    Das nenne ich das eigentliche Anspruchsdenken: daß es in einer Zeit, in der sich wirklich vieles verändert und manches dramatisch verändert hat, in unserem Volk gerade bei den Einflußreichen, den Mächtigen und den Einkommensstärkeren eine Haltung gibt, die besagt: Ich muß in meinem Leben nichts verändern; ich will auch nicht. Das ist die schlimmste Haltung überhaupt.
    Die Amerikaner sagen etwas spöttisch: Das sind die Nimbys, „not in my backyard". Sie haben eine sehr ausgeprägte Neigung, Abkürzungen zu finden: die Dinks, „double income, no kid", die Yuppies, die „young urban professional people", und jetzt die Nimbys, „not in my backyard" . Es soll sich nichts in meinem eigenen Hinterhof verändern.
    Dann gerät eine Gemeinschaft auf die schiefe Bahn, wenn sie erst die Schwächeren weiter schwächt und das Vorbild, die Mitbeteiligung und die Solidarität der Starken nicht einfordert.

    (Beifall bei der SPD — Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Auch wenn Sie es zehnmal behaupten, wird es nicht wahrer!)

    — Sie müssen es von mir ja nicht akzeptieren; das will ich Ihnen gerne konzedieren.
    Aber lesen Sie doch bitte einmal, was in beiden großen Kirchen, in der katholischen Soziallehre, in den evangelischen Kirchen und an anderen Stellen zu diesem Thema gesagt wird! Lesen Sie doch einmal, was in nachdenklichen Unternehmerkreisen zu diesem Thema gesagt wird! Das ist doch keine Propaganda der Sozialdemokratie oder der Gewerkschaften nach dem Motto „Schutzmacht der kleinen Leute", sondern mittlerweile die Grundüberzeugung der meisten in diesem Lande.
    Ihr politisches Versäumnis besteht darin, daß Sie weder 1990 noch heute die Fähigkeit und den Mut haben, dieses Vorbild einzufordern. Das ist ein ganz zentrales Versäumnis.

    (Beifall bei der SPD)

    Meine Damen und Herren, ich weiß, daß solche Politik immer mit allen möglichen Hinweisen in ein Abseits gerückt werden kann. Ich mache Sie aber darauf aufmerksam: Wer wirklich politisch verantwortlich agiert, der sollte gerade in diesen Fragen den Konsens suchen. Hier bestehen die größten Unterschiede, und zwar nicht in einer einzelnen politischen Entscheidung, in einer einzelnen sozialpolitischen Maßnahme, sondern in einer Grundüberzeugung von dem, was Gemeinschaft, Solidarität und Zusammenhalt in einer Gesellschaft ist. Sie schwächen das. Wir wollen es stärken.

    (Beifall bei der SPD)




    Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz)

    Vor diesem Hintergrund sage ich Ihnen dann einiges zu den vielen Ablenkungsmanövern, die stattfinden.

    (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Wann kommen denn die Vorschläge?)

    — Sie können nicht zuhören. Ich habe Ihnen vorgeschlagen, die sozialen Sicherungssysteme zu entlasten und eine intelligente Organisation der Arbeit zu verwirklichen. Ich habe Ihnen vorgeschlagen, die Modernisierung des Sozialstaates mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik zu verbinden. Und so weiter, und so weiter.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wie denn?)

    — Ich nenne Ihnen jetzt nur noch die Stichworte. Ich bin ja gerne bereit, im Zweifel hier noch einmal eine Stunde zu reden. Aber zunächst einmal möchte ich mich Ihnen zuwenden und dem, was Sie an Politik betreiben.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Es gibt eine dreifache Ablenkung von Ihrer Seite
    — dann werden Sie gleich auch wieder Vorschläge hören —: Die erste Ablenkung ist die sogenannte Wertediskussion, die zweite Ablenkung ist die Flucht in das Nationale, und die dritte Ablenkung ist das bewußte Inkaufnehmen von Angst.

    (Beifall bei der SPD — Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Wieder keine Vorschläge!)

    Zum ersten Punkt, was die Werte angeht: Sie sagen: Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Leistung, das alles seien gute Werte. Ich bestreite das nicht; natürlich sind sie das. Dagegen ist nichts einzuwenden. In der politischen Diskussion allerdings ist zu fragen, wer diese Werte beschwört.

    (Michael Glos [CDU/CSU]: Lafontaine! — Zurufe von der CDU/CSU: Helmut Schmidt! — Engholm!)

    Bei der Ehrlichkeit und der Glaubwürdigkeit fällt mir im Zusammenhang mit der deutschen Einheit und dieser Bundesregierung eine Menge ein.

    (Beifall bei der SPD — Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Uns auch!)

    Das sind ja Chiffren für ein Problem, wie Sie alle sehr genau wissen: „Blühende Landschaften", „Niemandem wird es schlechter gehen, vielen bald besser", „Keine Steuererhöhungen" usw. Ich habe nichts dagegen, daß Sie die Tugenden der Ehrlichkeit, der Glaubwürdigkeit, der Wahrhaftigkeit proklamieren. Ich hätte noch viel mehr Sympathie, wenn Sie sie praktizierten.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    Dann haben Sie hier einiges über Schleswig-Holstein und Herrn Engholm gesagt. Ich will Ihnen auch dazu etwas sagen. Ich finde, das ist aufklärungsbedürftig und wird auch aufgeklärt.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das wird auch langsam Zeit! — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Na, gelogen wird, daß sich die Balken biegen!)

    Dazu: Die SPD hat doch den Untersuchungsausschuß beantragt. Ich will Ihnen eines sagen, und ich sage das in aller Offenheit: Ich finde vieles davon bedrükkend,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das sollte Sie auch aufregen!)

    und ich bin sicher, wir würden vernünftiger miteinander reden, wenn Sozialdemokraten — wenn Sie mal zuhören könnten — zu diesem Teil sagen könnten, daß sie das bedrückend und schwierig finden, und die Christdemokraten zu den Ministergehältern in Sachsen-Anhalt dasselbe sagen könnten.

    (Beifall bei der SPD)

    Dann wäre das eine glaubwürdige Operation.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    — Ja, Entschuldigung! In einem Land wie Sachsen-Anhalt — da lachen Sie möglicherweise, aber das ist dann auch wieder ein Punkt, wo es mir persönlich ein bißchen mehr als nur unter die Haut geht —, in einem Land wie Sachsen-Anhalt mit diesen riesigen Problemen solche Gehälter für die westdeutschen Minister und den Ministerpräsidenten zu zahlen, das finde ich unanständig, um es ganz deutlich zu sagen. Das ist unanständig!

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN — Zurufe von der CDU/ CSU)

    Das eigentlich Interessante wäre doch, wenn nicht nur wir die Kraft aufbringen könnten, zu sagen: Jawohl, es gibt auch in der Sozialdemokratie — wer wollte das bestreiten— Schwierigkeiten. Und ich füge hinzu, wir sind auch noch nicht so gut, wie wir sein möchten. Aber Ihre Rede würde glaubwürdiger, wenn Sie zu Ihren eigenen Schwierigkeiten auch mal etwas sagen würden, anstatt ständig einen politischen Prozeß voranzubringen, der nur in gegenseitigen Vorwürfen besteht, anstatt eine Linie aufzuzeigen, längs derer man sich bewegen kann.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben noch nicht einmal zugehört!)

    Dann sagen Sie — wir sind ja noch bei der Wertediskussion —, Leistung soll sich lohnen, die Leistungsträger usw. Dann erklären Sie mir bitte mal, was diese allgemeine Rede Ihrer Politik eigentlich bedeutet, wenn Sie jetzt jungen Gesellen durch die Änderungen im Arbeitsförderungsgesetz den Weg zum Meisterbrief versperren werden. Dann erklären Sie mir das bitte mal!

    (Beifall bei der SPD)

    Davon zu reden, Herr Bundeskanzler, wir hätten zu viele Studenten und zuwenig Lehrlinge, das ist ein Punkt, der Gruppen gegeneinander ausspielt und übrigens an den Notwendigkeiten eines technologisch hochentwickelten Landes vorbeigeht.
    Aber im übrigen wird Ihre Rede nicht dadurch glaubwürdiger, daß Sie die mangelnde Zahl der Lehrlinge beklagen und gleichzeitig Zukunftschancen gewerblich-technischer Berufe mit Blick auf den Meisterbrief und mit Blick auf die Fachhochschulen



    Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz)

    zuschütten. Wenn Sie das eine beklagen, dürfen Sie das andere nicht tun.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Ihre Rede wird nicht glaubwürdiger!)

    Und was die Leistung angeht, meine Damen und Herren: Ich habe ja schon auf die großen christlichen Kirchen und die Soziallehre der katholischen Kirche wie die Diakonie der evangelischen hingewiesen. Sie haben hier das Stichwort von der Raffgesellschaft aufgegriffen. Ich sage Ihnen eines ganz deutlich: Sie wissen ja, wo das Wort steht. Sie wissen also auch, gegen wen Sie sich wenden. Ich versage mir, nachdem ich gehört habe, wie unangenehm das manchem Beteiligten war, aus der Rede des Präses Beier zum 3. Oktober 1993 hier noch einmal zu zitieren. Aber ich mache darauf aufmerksam: In dem Augenblick, wo Sie sich gegen die Sozialdemokratie wenden, weil sie die katholische Soziallehre, weil Sie die evangelischen Kirchen und andere verantwortliche Kräfte bis hin zu den Gewerkschaften zitiert, wenden Sie sich nicht nur gegen die Sozialdemokratie, sondern zugleich gegen alle diese Kräfte, und das werden Sie irgendwann auch als Quittung zurückbekommen.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich habe davon gesprochen, Herr Bundeskanzler, daß das große Kapital an Mut, Hoffnung und Engagement weitgehend verwirtschaftet ist.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wann kommen die Vorschläge?)

    Vor diesem Hintergrund sage ich dann auch etwas — Sie haben darum gebeten — zu Symbolen.

    (Zuruf von der SPD: Zuhören!)

    Man kann lange darüber streiten. Ich habe nicht die Absicht gehabt und habe sie auch in Zukunft nicht, Herrn Heitmann zu verletzen. Aber er ist zu einem Symbol geworden, und das reicht doch bis weit in Ihre Partei hinein. Da bringt man sich hier und da mal ein paar Zitate und Presseausschnitte mit, in der Erwartung, daß zu dem Thema etwas gesagt und möglicherweise auch geantwortet werden müsse.
    Mich stimmt es bedenklich, wenn der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, Herrn Heitmann vorwerfen muß, daß er zur Enttabuisierung bei Themen beitrage, bei denen es keine Enttabuisierung geben dürfe, weder gegenüber ausländischen Mitbürgern noch gegenüber der Vergangenheit, für die ja viele keine Schuld, der gegenüber wir alle aber gemeinsam Verantwortung haben. Ich könnte Ihnen auch vorlesen, was Herr Eylmann zu diesem Thema gesagt hat, nämlich daß Herr Heitmann keine Integrationsfigur sei. Ich könnte auch zitieren, was ich an anderer Stelle von anderen Abgeordneten und anderen Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes bis weit in die Reihen Ihrer Partei hinein lese.
    Schauen Sie, Sie können mir vorwerfen, daß ich mich scharf ausgedrückt habe. Mit diesem Vorwurf kann ich leben.

    (Michael Glos [CDU/CSU): Wollen Sie sich

    entschuldigen?)
    Ich kann mit dem Vorwurf leben, und ich füge hinzu: Persönlich angreifen und herabsetzen möchte ich Herrn Heitmann gar nicht. Mir geht es um etwas ganz anderes, nämlich um die Art und Weise, wie in diesem Land mit dem Amt des Bundespräsidenten in den letzten Monaten umgegangen wurde.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    Mir wäre Herr Heitmann nicht eingefallen. Daß er Ihnen eingefallen ist, ist auch ein Signal, ein Symbol.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich sage Ihnen, Herr Bundeskanzler, genauso deutlich: Das Problem ist nicht der Kandidat, sondern sind die Strukturen, in denen er benannt worden ist, und der politische Wille, der dahintersteht. Das ist das eigentliche Problem.

    (Beifall bei der SPD)

    Wenn wir schon über Symbole reden — und für mich ist das ein Symbol —, könnte ich vieles hinzufügen. Ich lebe lieber mit solchen Symbolen, wie sie im Umfeld der Sozialdemokratie entstanden sind. Aus meiner Sicht ist nicht nur der im Warschauer Getto knieende Willy Brandt ein gutes Symbol, sondern auch Johannes Rau für das Zusammenwachsen und das Zusammenhalten in Deutschland.

    (Beifall bei der SPD)

    Das zweite Ablenkungsmanöver ist die Flucht in das Nationale. Sie findet unterschiedlich stark statt, in der CSU sicherlich etwas stärker als in der CDU und dort in manchen Teilen stärker als in anderen. Insgesamt aber geht diese Entwicklung voll zu Lasten einer möglicherweise sehr schlichten, dennoch zutreffenden Erkenntnis: Keines der großen Zukunftsprobleme ist noch national beantwortbar. Wer ins Nationale flieht, flieht zugleich vor der Lösung dieser Zukunftsprobleme.

    (Beifall bei der SPD)

    Nichts, weder in der Umweltpolitik noch in der Industriepolitik, weder in der Verkehrspolitik noch in anderen Bereichen, schon gar nicht die globalen Themen von Frieden und Entwicklung, läßt sich noch national lösen.
    Vor diesem Hintergrund ist es ein ungewöhnlich bedenkliches Zeichen für die geistige Situation der Zeit und die geistige Situation, in der Sie sich befinden, daß Sie Orientierung und Führung auch insoweit verweigern, als Sie den Menschen vorzugaukeln beginnen, man könne mit den Mitteln des nationalen Staates die großen Lebensprobleme und Zukunftsaufgaben noch lösen.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich füge ausdrücklich hinzu, daß ich die Differenzen in der Union sehr wohl sehe. Ich füge an dieser Stelle hinzu, daß ich ausdrücklich die Europapolitik des Bundeskanzlers in der langen Linie — Einzelheiten kann man immer diskutieren — unterstütze. Es wäre



    Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz)

    vielleicht nicht schlecht, wenn die CSU das von sich auch sagen könnte.

    (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Helmut Schäfer [Mainz] [F.D.P.])

    Es ist ja nicht so, daß wir aus zum Teil sehr erheblichen Meinungsverschiedenheiten und aus politischer Gegnerschaft eine gewissermaßen prinzipielle Feindschaft machen müßten. Es ist auch nicht so, daß Übereinstimmung in manchen Fragen, die man aus Gründen des überragenden allgemeinen Interesses für wichtig hält und anstrebt, immer wieder sofort in alle möglichen parteipolitischen Kästen einsortiert werden müßte. Ich weiß, die Versuchung ist groß, nicht nur bei Journalisten, sondern auch bei solchen, die davon parteipolitisch leben.
    Dennoch füge ich hinzu, daß man auch im Bereich der internationalen Politik schon wegen der dauerhaften Berechenbarkeit eines Landes überall da, wo es möglich ist — notfalls auch einmal unter einer gewissen Anstrengung —, Gemeinsamkeit anstreben sollte.
    Vor diesem Hintergrund — ich sage das in diesem Zusammenhang ausdrücklich so — seien Sie mir bitte nicht böse, wenn ich sage, daß Herr Ministerpräsident Stoiber bezüglich der Rolle der Bundeswehr — man kann darüber streiten, wie das mit der „Interventionsarmee" ist — unstreitig ist aus sozialdemokratischer Sicht, daß die Bundeswehr ein Mittel der Landesverteidigung ist und unsere volle Unterstützung hat;

    (Beifall bei der SPD)

    das kann Ihnen seit dem Godesberger Programm eigentlich nicht mehr neu sein — bei einem Truppenbesuch in Roth das Wort „Interventionsarmee" ausdrücklich als einen Ehrentitel bezeichnet hat. Ich knüpfe daran zunächst einmal keine weiteren Schlußfolgerungen. Ich denke nur, es wäre gut, wenn Sie sich auch damit auseinandersetzten.
    Im Zusammenhang mit Somalia und den Vereinten Nationen sage ich Ihnen: Herr Kollege Schäuble hat mir bei der ersten Lesung dieses Haushaltes — neben einigen anderen interessanten Erfahrungen — auch gesagt, ich hätte ihm einen interessanten Zwischenbericht von den Vorarbeiten für den Parteitag der SPD gegeben. Jetzt könnte ich Ihnen, Herr Kollege Schäuble, einen Abschlußbericht liefern. Ich weiß, daß Sie dies nicht freuen würde. Ich weiß auch, daß Sie mit dieser Art von Abschlußbericht gar nicht gerechnet haben. Das aber ist nun wirklich Ihr Problem!
    Ich will im Zusammenhang mit internationaler Politik und den Vereinten Nationen nur zwei Sätze sagen. Der eine ist mehr prinzipieller Natur: Es ist völlig unbestritten, daß die Bundesrepublik Deutschland mit dem Beitritt zu den Vereinten Nationen die Rechte und Pflichten der Charta übernommen hat. Genauso muß es unbestritten bleiben, daß in den einzelnen Fragen und, wenn Sie so wollen, für jede Partei entschieden wird, wie man dieser internationalen Verpflichtung gerecht werden will.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Der konkrete Satz bezieht sich auf den Einsatz in Somalia. — Herr Kollege Kinkel und Herr Kollege
    Rühe, es wäre durchaus reizvoll, aber ich lasse das jetzt einmal weg. — Ich will auf einen ganz anderen Punkt hinweisen, der auch etwas mit der geistigen Situation der Zeit zu tun hat. Ich versuche, mir vorzustellen, welche Debatten in Deutschland entstanden wären, wenn die Hilfsorganisationen gesagt hätten: Verehrte Bundesregierung, gebt uns bitte 500 Millionen DM, damit wir den Menschen in Somalia wirksam helfen können. Ich versuche, mir das vorzustellen!

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    Ich bitte Sie, auch einmal zu überlegen, ob es nicht ein auch für Sie bedenkliches Zeichen sein müßte, daß eine solche Frage vermutlich ein eher homerisches Gelächter ausgelöst hätte, wir aber in der Lage sind, zur angeblichen Versorgung von— ich weiß nicht, wie vielen — indischen Soldaten — garantiert nicht annähernd so vielen, wie es hätte sein sollen — beizutragen.

    (Vors i t z : Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg)

    Ich frage Sie, ob Sie nicht bei der auch aus unserer Sicht unbestreitbar notwendigen Mitwirkung Deutschlands an humanitären Aktionen, an Blauhelmaktivitäten einschließlich ihres Schutzes, auch des Schutzes ihres Auftrages bei Embargomaßnahmen, also an allem, was die Vereinten Nationen in den letzten Jahren gemacht haben und in den nächsten Jahren vermutlich tun werden — unbeschadet der Soldaten und des Respekts ihnen gegenüber —, am Ende mit dieser Art von Einsatz dem Ziel, das verfolgt werden soll — nicht dem humanitären, sondern dem politischen —, eher Schaden zugefügt haben. Dies ist mein Eindruck.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    Ich füge hinzu, daß angesichts dieser Entwicklung für meine Begriffe mancher vordergründige Streit — soweit er ein vordergründiger ist — beerdigt werden könnte, wenn denn alle Beteiligten wollten.
    Sie haben etwas zum Doppelbeschluß der NATO gesagt. Man kann dessen Wirkungen so oder so beurteilen. Die deutsche Einheit auf die Durchsetzung des Doppelbeschlusses zurückzuführen, halte ich freilich für eine gerade bei Historikern gefährliche Verkürzung.

    (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

    Ohne das Bild vollständig machen zu wollen, aber um es — jedenfalls in Umrissen — vollständiger zu zeichnen, sage ich: Wir sollten nicht vergessen, daß die große Chance der deutschen Einheit uns auf der Grundlage mehrerer Entwicklungen und politischer Entwicklungslinien erreicht hat. Dazu gehört ganz sicher die Politik Willy Brandts und Helmut Schmidts.

    (Beifall bei der SPD)




    Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz)

    Dazu gehört ganz sicher die Politik des Michail Gorbatschow.

    (Beifall bei der SPD)

    Und, Herr Bundeskanzler, ich stehe in diesem Hause nicht an, neben vielem, was ich zu kritisieren habe, auch zu sagen, daß im Zusammenhang mit der staatlichen Einheit der Deutschen ganz sicher Sie, Ihre Bundesregierung und der Herr Bundesaußenminister ebenfalls Verdienste haben. Das ist genauso unbestreitbar.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Aber es ist für meine Begriffe weder für die politische Kultur dieses Landes noch für die Auseinandersetzung zwischen Parteien hilfreich, wenn diese schlichten, unbestreitbaren Tatsachen immer wieder dadurch in Abrede gestellt werden, daß man sich nur auf einen einzigen Punkt konzentriert, um gewissermaßen die eigene Durchsetzungsstärke zu demonstrieren. Nein, es war mehreres, das Zusammenwirken vieler Faktoren, vieler Politikerinnen und Politiker, vieler politischer Kräfte. Das sollte man ausdrücklich anerkennen.

    (Beifall bei der SPD)

    Ein dritter Hinweis ist die Frage nach dem Ablenkungsmanöver bei der Flucht in die Angst. Einige von Ihnen sagen: Die Sozialdemokraten mit ihrer Mehrheit im Bundesrat blockieren.

    (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das stimmt ja auch!)

    Ich habe mir die Abstimmungen über den Haushalt angeschaut und, da ich solches in der Regel gründlich mache, auch die verschiedenen Erklärungen, die dazu abgegeben worden sind. Ich habe also nicht nur die Reden gelesen, sondern auch nachgesehen, was die einzelnen sonst noch schriftlich erklären, in der Hoffnung, es fällt nicht so auf.
    Da ist eine relativ große Zahl von Mitgliedern der Unionsfraktion, die bei der Abstimmung im Deutschen Bundestag erklärt haben, erstens hätten sie erhebliche Bedenken gegen den Inhalt des Haushalts, insbesondere der Begleitgesetze, zweitens würden sie zustimmen, drittens täten sie das in der Erwartung, daß über den Vermittlungsausschuß von Bundesrat und Bundestag Verbesserungen erreicht werden könnten.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

    Sie müssen sich schon entscheiden, welcher Logik Sie eigentlich folgen wollen. Entweder sagen uns 60 oder 70 Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion: Liebe Sozialdemokraten, verhindert mit eurer Mehrheit im Bundesrat das, was wir hier im Deutschen Bundestag, mit schlechtem Gewissen freilich, beschließen, oder aber Sie sagen uns, es sei Blockade. Wenn wir es einmal etwas spöttisch formulieren dürfen: Ich meine, es ist nichts anderes als der Versuch, den Wünschen Ihrer Sozialausschüsse gerecht zu werden, und dagegen kann doch ein vernünftiger Christdemokrat nichts einwenden!

    (Beifall bei der SPD)

    Da mein Stichwort aber die Angst war, möchte ich an dieser Stelle noch einmal betonen, daß eine Modernisierung des Sozialstaates mit der Überprüfung aller seiner Leistungen, aller seiner Freibeträge nicht dadurch begonnen werden kann, daß man schematisch da wegschneidet, ohne andere zur Leistung mit heranzuziehen. Das genau verursacht die Angst, die Depression, die Wut, die Enttäuschung, am Ende den wachsenden Radikalismus.
    Das ist vielleicht ein in Ihren Augen scharfer, aus meiner Sicht absolut begründeter Vorwurf. Im Kern sorgen Sie selbst mit für die wirtschaftlichen und sozialen Ursachen wachsender Angst, wachsender Orientierungslosigkeit und auch wachsenden Radikalismus in diesem Lande.

    (Beifall bei der SPD)

    Ein zweites Stichwort in diesem Zusammenhang ist die Staatsverschuldung. Der Herr Bundesfinanzminister redet ja immer davon, daß die Konsolidierung fortgesetzt werde. Und so wird ein Haushalt mit einer enormen Schuldenlast, wie im Jahre 1994 beabsichtigt, ebenfalls am Ende wieder zu einem Haushalt der Konsolidierung. Das ist eigenartig. Das entwertet ja nicht nur die Worte, sondern führt im Kern auch dazu, daß viele Leute nicht mehr glauben, was mit diesen Worten eigentlich verbunden ist.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie reden von der Entgeltfortzahlung und meinen die Lohnkürzung. Sie reden von der Konsolidierung und meinen die wachsende Verschuldung — Orwell läßt grüßen.
    Diese Frage steht auch im Zusammenhang mit politischer Kultur und mit den Realitäten, die dahinterstecken. Ich beschränke mich auf einen einzigen Satz: Ich hätte Ihre Reden von diesem Pult hören wollen, wenn sich irgendein sozialdemokratischer Finanzminister eine solche Haushalts- und Finanzpolitik geleistet hätte, wie Sie sie sich in den letzten Jahren geleistet haben.

    (Beifall bei der SPD)

    Gegenüber dem, was Sie hier dann vermutlich zum besten gegeben hätten, ist alles das, was die Kollegin Ingrid Matthäus-Maier sagen kann, ein sanftes Säuseln.
    Das sachliche Problem allerdings ist wesentlich ernster. Am Ende des Jahres 1994 wird der Bund — vorausgesetzt Ihre Zahlen und Ihre Planungen träten denn ein; vermutlich treten sie ja eher nicht ein — einen konsolidierten Schuldenstand von fast 750 Milliarden DM haben. In den Schattenhaushalten steht noch einmal fast dieselbe Summe. Man kann lange darüber reden, ob die Höhe der Staatsschuld insgesamt schon problematisch ist. Aber eines ist unbestreitbar: Das Tempo, mit dem Sie die Staatsschuld wachsen lassen, ist ganz und gar unverantwortlich.

    (Beifall bei der SPD)

    Vor diesem Hintergrund gibt es aus der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion heraus eine Reihe von Vorschlägen. Es gab sie übrigens auch bei dem Föderalen Konsolidierungskonzept. Es war für mich eine der interessantesten Erfahrungen überhaupt, daß weiterreichende Vorschläge der sozialdemokrati-



    Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz)

    schen Ministerpräsidenten und anderer auf Abbau von Subventionen und Steuervergünstigungen bei diesem Bundesfinanzminister keine Gnade gefunden haben,

    (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Das ist ja nicht zu fassen!)

    obwohl er ansonsten natürlich sehr viel von Konsolidierung redet.

    (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Da meint man wirklich, Sie seien nicht dabeigewesen!)

    — Herr Kollege Waigel, ich kann Ihnen das auch gerne noch einmal im einzelnen vorführen, will aber jetzt mit Rücksicht auf die Zeit darauf verzichten.

    (Hermann Rind [F.D.P.]: Weil nichts da ist!)

    — Entschuldigung, ich kann Ihnen das noch einmal mit den globalen Zahlen belegen: Wir haben dem Bundesfinanzminister eine Liste mit Maßnahmen des Subventionsabbaus vorgelegt, die Posten in der Größenordnung von etwa 11 Milliarden DM umfaßte. Akzeptiert hat er 800 Millionen DM.

    (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Luftbuchungen!)

    — Herr Kollege Waigel, da haben Sie allerdings Recht: Sie sind der Berufenste überhaupt, wenn es darum geht, von Luftbuchungen zu reden. Das will ich nicht bestreiten.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    Ein Bundesfinanzminister, der vor einem Jahr prognostiziert hat, er werde im Jahr 1994 die Nettoneuverschuldung des Bundes auf unter 30 Milliarden DM drücken, und der am Ende mit 70 Milliarden DM herauskommt, darf nicht mehr über Luftbuchungen reden und über Seriosität von Finanz- und Haushaltspolitik erst recht nicht.

    (Beifall bei der SPD — Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Sie müssen sehen, was sich verändert hat!)

    — Ich weiß, was sich verändert hat. Ich weiß auch, was ich als Regierungschef in einem Bundesland zu tun habe. Da werden jedenfalls die Zahlenvorgaben unseres gemeinsamen Finanzplanungsrates befolgt. Das hat durchaus schmerzhafte Entwicklungen und schmerzhafte Entscheidungen zur Folge. Aber ich sage Ihnen auch an dieser Stelle: Wenn Sie in der Lage wären, nicht nur auf die Schwächeren und Benachteiligten in der Gesellschaft zu schauen, sondern alle ins Visier zu nehmen, dann gäbe es in diesem Land nicht nur mehr soziale Gerechtigkeit, sondern auch solidere Finanzen.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie sagen mehreres — im Sinne einer Ablenkung — zur inneren Sicherheit. Es verändert sich eigenartigerweise etwas: Vorher haben Sie geglaubt, mit diesem Thema die Sozialdemokraten treiben zu können. Die Kriminalität steigt — die SPD verhindert, daß
    man etwas dagegen tun kann. Mittlerweile hat sich die Argumentation gewendet.

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Jetzt meinen Sie, Sie können uns treiben?!)

    — Nein, das glaube ich eigentlich nicht. Ich bin an der Lösung eines Problems interessiert, Herr Kollege Schäuble. So taktisch, wie Sie denken, will ich gar nicht denken.

    (Beifall bei der SPD)

    Herr Kollege Solms, zu Ihrem Geburtstag, zu dem ich herzlich gratuliere, hätte ich gerne etwas Freundlicheres gesagt, als in diesem Zusammenhang gesagt werden muß.

    (Heiterkeit bei der SPD)

    Nur, fragen Sie sich als liberale Rechtsstaatspartei, soweit Sie das noch sind, einmal, ob die Zielsetzungen des Schutzes von Freiheitsrechten — hier geht es um den Schutz von Freiheitsrechten — und der Gewährleistung der Stabilität demokratischer Institutionen nicht gerade bei einem liberalen Rechtsstaatspolitiker vollen Anklang finden müßten.
    Ich weiß, daß da manches schwierig ist. Aber ich will Ihnen ganz deutlich sagen, daß sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes vermutlich nie haben vorstellen können, welche Entwicklung organisierte Kriminalität in Deutschland haben würde. Vieles von dem, was wir als Alltagskriminalität wahrnehmen, ist nichts anderes als Kriminalität mit organisiertem Hintergrund. Das wissen Sie, das weiß ich, und das wissen alle, die sich mit dem Thema beschäftigen.
    In diesem Zusammenhang mache ich mir enorme Sorgen, wenn auch nicht so sehr über das, was der Kollege Glos hier gesagt hat. Er redet über Drogen — wir haben ein insgesamt gutes Konzept, das übrigens nach Meinung aller Fachleute ein geschlossenes und das beste aus dem Bereich der Politik zur Bekämpfung von Kriminalität in Deutschland ist — und verbindet das mit Bemerkungen zum Rechtsgefühl. Das finde ich interessant. Darüber kann man auch diskutieren.
    Beziehen wir aber in die Diskussion folgendes ein: Was wird im Rechtsgefühl der Bürgerinnen und Bürger angesichts eines Vorganges, der sich mit dem Namen Schalck-Golodkowski verbindet, angerichtet?

    (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

    Ich will jetzt nicht über die privaten Briefe an den Kollegen Schäuble reden; auch dazu könnte man etwas sagen, auch zu der Frage, wie das in anderen politischen Mehrheitsverhältnissen zu einer Debatte geführt hätte.

    (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Was soll denn das, was Sie hier machen?)

    — Das wissen Sie ganz genau, was das soll, Herr Bundeskanzler. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß mit Blick auf das Rechtsgefühl von Bürgern ein solcher Umgang mit einem — aus meiner

    Ministerpräsident Rudolf Scharping (Rheinland-Pfalz)

    Sicht jedenfalls — wesentlichen Problem unangemessen ist.

    (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

    Für das Rechtsgefühl der Bürger ist die Art und Weise, wie mit Herrn Schalck-Golodkowski in der Vergangenheit umgegangen wurde und möglicherweise in Zukunft umgegangen werden wird, vermutlich wesentlich gravierender als die ernsthafte Diskussion über die Frage, ob man im Bereich der Drogenkriminalität nicht endlich dazu kommen kann, ein wirksames Instrumentarium gegen skrupellose und das Leben und die Gesundheit von Menschen gefährdende Geschäftemacher in die Hand zu bekommen und die Konsumenten nicht ständig über das Strafrecht zwangsläufig zu Verbündeten eben dieser skrupellosen Geschäftemacher zu machen. Darüber muß man wenigstens einmal reden können.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    Da wir ja von einem vereinten Europa reden und in einem zusammenwachsenden Europa miteinander verhandeln, werden Sie sicher Verständnis dafür haben, daß ich Sie gerade in diesem Zusammenhang auch auf andere internationale Erfahrungen hinweise.
    Am meisten bedenklich finde ich, Herr Kollege Sohns, was Sie zu diesem Thema gesagt haben. Denn über den Eigentumsschutz zu reden,

    (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Eigentumsgarantie!)

    den Art. 14 GG zu zitieren und die Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums aus Art. 14 GG schlicht zu vergessen,

    (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

    das finde ich schon sehr beachtlich.

    (Hermann Rind [F.D.P.]: Das ist eine Unterstellung!)

    — Nein, das ist keine Unterstellung; denn wenn Sie den absoluten Eigentumsschutz auch auf kriminell erworbenes Vermögen ausdehnen wollen, dann mißachten Sie genau die Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von Dieter-Julius Cronenberg
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Ministerpräsident, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Solms zu beantworten?

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: ()
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Aber gerne.