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    Plenarprotokoll 12/192 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 192. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 Inhalt: Bestimmung des Abgeordneten Rolf Schwanitz als ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuß 16531 A Tagesordnungspunkt I: Fortsetzung der zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1994 (Haushaltsgesetz 1994) (Drucksachen 12/5500, 12/5870) Einzelplan 04 Bundeskanzler und Bundeskanzleramt (Drucksachen 12/6004, 12/6030) in Verbindung mit Einzelplan 05 Auswärtiges Amt (Drucksachen 12/ 6005, 12/6030) in Verbindung mit Einzelplan 14 Bundesministerium der Verteidigung (Drucksachen 12/6014, 12/6030) in Verbindung mit Einzelplan 35 Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte (Drucksachen 12/6027, 12/ 6030) Hans-Ulrich Klose SPD . . . . 16531D, 16592A Michael Glos CDU/CSU 16537A Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. 16544 C Hans-Ulrich Klose SPD 16544 D Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . . 16551A Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16554 B Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler . . . 16557 A Rudolf Scharping, Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz 16566 C Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. . . . 16576B Michael Glos CDU/CSU 16577 B Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. 16578 B Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . 16578D Dr. Jürgen Schmude SPD 16580 C Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA . 16587 A Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU (zur GO) 16595 B Dietrich Austermann CDU/CSU 16595 C Ortwin Lowack fraktionslos 16598 D Andrea Lederer PDS/Linke Liste . . . 16600 C Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 16603B Ernst Waltemathe SPD 16605 D Udo Haschke (Jena) CDU/CSU 16608 A Ingrid Matthäus-Maier SPD 16608 C Dr. Rudolf Krause (Bonese) fraktionslos 16609A Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 16610 D Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16612B Friedrich Bohl, Bundesminister BK . . 16613 D Dr. Hans Stercken CDU/CSU 16614B Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16615A II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD . . . . 16616D, 16630 B Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 16618A Hans-Gerd Strube CDU/CSU 16622 A Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste . . 16623D Carl-Ludwig Thiele F.D.P. . . 16626A, 16630 C Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD . . . 16627 B Ingrid Matthäus-Maier SPD 16628 A Volker Rühe, Bundesminister BMVg . 16630D Walter Kolbow SPD 16633 C Paul Breuer CDU/CSU 16636 B Dr. Karl-Heinz Klejdzinski SPD . . . 16637 B Präsidentin Dr. Rita Süssmuth 16554 A Namentliche Abstimmung 16638 C Ergebnis 16644 D Einzelplan 23 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Drucksachen 12/6021, 12/6030) Helmut Esters SPD 16639 B Christian Neuling CDU/CSU 16641D Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste . . . 16646 D Werner Zywietz F D P 16647 D Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16649 C Carl-Dieter Spranger, Bundesminister BMZ 16650 C Einzelplan 06 Bundesministerium des Innern (Drucksachen 12/6006, 12/6030) in Verbindung mit Einzelplan 33 Versorgung (Drucksache 12/6026) in Verbindung mit Einzelplan 36 Zivile Verteidigung (Drucksachen 12/ 6028, 12/6030) Rudolf Purps SPD 16652 D Karl Deres CDU/CSU 16656 C Ina Albowitz F.D.P. 16659 A Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 16661 B Ingrid Köppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 16662 D Günter Graf SPD 16664 B Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. 16665 D Erwin Marschewski CDU/CSU 16666 D Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. 16668D Freimut Duve SPD 16670A Karl Deres CDU/CSU 16670 C Dr. Klaus-Dieter Uelhoff CDU/CSU . . 16671A Klaus Lohmann (Witten) SPD 16672 C Manfred Kanther, Bundesminister BMI 16673 B Nächste Sitzung 16675 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 16677' A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt I 12: Einzelplan 05 — Auswärtiges Amt Dr. Klaus Rose CDU/CSU 16633' C Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt I 13: Einzelplan 14 — Bundesministerium der Verteidigung Hans-Werner Müller (Wadern) CDU/CSU 16679' A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16531 192. Sitzung Bonn, den 24. November 1993 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Augustin, Anneliese CDU/CSU 24. 11. 93 Blunck (Uetersen), SPD 24. 11. 93 * Lieselott Böhm (Melsungen), CDU/CSU 24. 11. 93 * Wilfried Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 24. 11. 93 Clemens, Joachim CDU/CSU 24. 11. 93 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 24. 11. 93 Herta Ehrbar, Udo CDU/CSU 24. 11. 93 Ganschow, Jörg F.D.P. 24. 11. 93 Gleicke, Iris SPD 24. 11. 93 Dr. Göhner, Reinhard CDU/CSU 24. 11. 93 Großmann, Achim SPD 24. 11. 93 Dr. Herr, Norbert CDU/CSU 24. 11. 93 Heyenn, Günther SPD 24. 11. 93 Hiller (Lübeck), Reinhold SPD 24. 11. 93 Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 24. 11. 93 Jung (Düsseldorf), Volker SPD 24. 11. 93 Junghanns, Ulrich CDU/CSU 24. 11. 93 Kiechle, Ignaz CDU/CSU 24. 11. 93 Dr. Kolb, Heinrich L. F.D.P. 24. 11. 93 Kraus, Rudolf CDU/CSU 24. 11. 93 Dr. Krause (Börgerende), CDU/CSU 24. 11. 93 Günther Kretkowski, Volkmar SPD 24. 11. 93 Kronberg, Heinz-Jürgen CDU/CSU 24. 11. 93 Dr. Matterne, Dietmar SPD 24. 11. 93 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 24. 11. 93 ** Dr. Ortleb, Rainer F.D.P. 24. 11. 93 Dr. Probst, Albert CDU/CSU 24. 11. 93 * Rappe (Hildesheim), SPD 24. 11. 93 Hermann Dr. Röhl, Klaus F.D.P. 24. 11. 93 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 24. 11. 93 Ingrid Dr. Ruck, Christian CDU/CSU 24. 11. 93 Schartz (Trier), Günther CDU/CSU 24. 11. 93 Dr. Scheer, Hermann SPD 24. 11. 93 * Schmidt (Salzgitter), SPD 24. 11. 93 Wilhelm Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 24. 11. 93 Schröter, Karl-Heinz SPD 24. 11. 93 Schwanhold, Ernst SPD 24. 11. 93 Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 24. 11. 93 Christian Dr. Soell, Hartmut SPD 24. 11. 93** Spilker, Karl-Heinz CDU/CSU 24. 11. 93 Dr. von Teichman, F.D.P. 24. 11. 93 Cornelia Vosen, Josef SPD 24. 11. 93 Wohlleben, Verena SPD 24. 11. 93 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Wollenberger, Vera BÜNDNIS 24. 11. 93 90/DIE GRÜNEN Zierer, Benno CDU/CSU 24. 11. 93* * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt I 12: Einzelplan 05 Auswärtiges Amt Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Mit besonders gemischten Gefühlen stehe ich jetzt am Rednerpult. Denn während wir hier im Warmen und in Sicherheit hehre Außenpolitik formulieren, frieren und sterben weitere Hunderte und Tausende von Menschen in Bosnien. Die Welt schaut zu, Europa schaut zu, Deutschland schaut zu. Eine erfolgversprechende außenpolitische Initiative gibt es nicht. Klaus Bressers Anklage vorgestern abend im deutschen Fernsehen ist zweifellos berechtigt. Seine Schlußfolgerungen einer einzigen Lösung, nämlich eines militärischen Einsatzes, versteht jeder, man schreckt aber davor zurück. In einem neuen Buch von Hans-Peter Schwartz wird der fehlende Mut, der fehlende Wille der Deutschen zur Machtpolitik moniert. Deutschland sei zwar schon lange ein wirtschaftlicher Riese mit automatischer Macht. Aber mit der Rolle des politischen Zwergs müsse es ein Ende haben. Weltmacht wider Willen könne man auf Dauer nicht sein, der politische Gestaltungswille müsse dazukommen. Ich höre jetzt natürlich den Aufschrei, daß die Deutschen wieder von einer großen Rolle in der Weltpolitik träumten. Nein, darum geht es nicht, zumindest nicht um eine Alleinträumerei der Deutschen. In der Weltgemeinschaft, in der Europäischen Gemeinschaft und in manchen internationalen Gremien muß Deutschland seiner Bedeutung gerecht werden. Diese Bedeutung ist nach der Wiedervereinigung naturgemäß anders als früher. Diese Neubewertung deutscher Außenpolitik, diese Umorientierung muß jetzt endlich in der Praxis geschafft werden. Deutschland muß sich sowieso darüber klar werden, daß die Welt sich weiterdreht und daß wir sehr schnell vom Rad geschleudert werden können. Bei der Einbringungsrede des Haushalts im September 1993 habe ich die Bedeutung einer deutschen Asienpolitik herausgestrichen. Ich freue mich deshalb über den Erfolg der Kanzlerreise nach China. Über eines darf der Blick nach Asien nicht hinwegtäuschen: Europa ist in großer Gefahr. Die Gefahr wird beim Blick auf die asiatische Weltkarte deutlich. Dort ist nämlich der Pazifikraum im Mittelpunkt und 16678* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 Europa Randlage, wie wir es von Alaska oder von der Kamtschatka gewöhnt sind. Genau hier setzt das Problem ein. Haben nicht vor wenigen Tagen der amerikanische Präsident und verschiedene asiatische Regierungschefs die Zukunftsrichtung der amerikanisch-pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) gewiesen? Hat nicht mit der NAFTA der nordamerikanische Wirtschaftsverbund den Wettbewerb mit der EG beschworen? Hat nicht der amerikanische Außenminister Warren Christopher gestern im ZDF-Morgenmagazin bei der Formulierung der amerikanischen Prioritäten die Stärkung der NATO erst an dritter Stelle genannt? Wir müssen erkennen, daß Europa aufpassen muß, damit es nicht wirtschaftlich, militärisch und finanziell zu einem unbedeutenden Markt wird. Mit der neuen Versuchung von Kleinstaaterei ist uns allen nicht gedient. Unverzichtbar ist für die EG und besonders für die Deutschen die Gewinnung der osteuropäischen Völker für Demokratie und Marktwirtschaft. Deshalb hatte der Haushaltsausschuß die Idee der Bundesregierung sehr begrüßt, mit der deutschen Beratungshilfe zum Aufschwung beizutragen. Über verschiedene Einzelpläne verteilt werden nächstes Jahr rund 300 Millionen DM eingesetzt. Es gibt am Ziel keinen Zweifel, denn der Aufbau von Forstverwaltungen, von Sparkassen oder von Konversionsprojekten bei früheren Rüstungsbetrieben kann nur unterstützt werden. Es wäre aber falsch, wenn wir am gleichen Weg wie bisher festhalten würden, nämlich alle Mittel an die Zentralregierungen zu geben. Es ist eine Tatsache, daß z. B. die russische Wirtschaft nur dann umgestaltet werden kann, wenn man das Potential der Regionen zur Wirkung bringt. Ich rede nicht einer politischen Dezentralisierung oder Destabilisierung das Wort. Denn ein weiterer Zerfall unter Krach und Donner ist nicht erstrebenswert. Eine einheitliche Rubelzone, eine Art Länderfinanzausgleich wären das Ziel. Doch so viel Demokratie als möglich, so viel föderative Strukturen als machbar sollten von uns herauskristallisiert werden. Mich als überzeugten Europäer, treuen Deutschen und begeisterten Föderalisten freut es jedenfalls, daß jetzt auch in der Republik Südafrika der deutschen Verfassung ähnliche Strukturen eingeführt werden. Die GUS, aber auch die Einzelnachfolger der Sowjetunion sollten auf jeden Fall, so sie es wünschen, beim Aufbau nicht bloß von demokratischen und marktwirtschaftlichen, sondern auch von föderativen Strukturen unterstützt werden. Im Rahmen des auswärtigen Etats muß ein weiteres Thema angesprochen werden. Es geht um die Hilfe in Katastrophenfällen, bei Not und Flüchtlingselend, bei Bürgerkriegen, die wir trotz eigener Haushaltsprobleme nicht vergessen dürfen. Ich erkenne in diesem Zusammenhang gerne die engagierte Leistung des Arbeitsstabs „Humanitäre Hilfe" im Auswärtigen Amt an. Mit der Soforthilfe, d. h. mit medizinischer Betreuung, Übergabe von Nahrungsmitteln und Kleidung, Herstellung von Notunterkünften oder Wiederherstellung von Strom-, Wasser-, Gasleitungen oder von Straßen und Brücken, wird viel Gutes geleistet, mit Sonderhilfen wird viel außenpolitischer Goodwill offenbart. 1993 sind bisher nahezu 500 Millionen DM für die humanitäre Hilfe eingesetzt worden, nicht bloß im Haushalt des Auswärtigen Amts, sondern auch beim BMZ, beim Innenminister oder beim Verteidigungsminister. Dazu kommen die internationalen Beiträge. Beliebig ausweiten läßt sich der vom Steuerzahler finanzierte Anteil an den Hilfsmaßnahmen aber auch nicht. Dankbar registrieren wir daher die Spendenbereitschaft der Deut-. schen insgesamt. Wir registrieren die wie Pilze aus dem Boden geschossenen privaten Unterstützungsorganisationen für die Not in Rußland, in Rumänien oder in Bosnien. Wir registrieren die selbstlose Einsatzfreude vieler Menschen in Deutschland, wenn es um spontane Hilfsmaßnahmen geht. Da wird viel gutgemacht, was durch andere Deutsche, ob glatzköpfige Schläger oder hohlköpfige Schreibtischtäter, an Schande über Deutschland gebracht wird. Wegen der Sperren im Haushaltsgesetz und der Globalkürzung um 5 Milliarden DM, die anteilsmäßig auch den Etat des Auswärtigen Amts betreffen und insgesamt 134 Millionen DM ausmachen könnten, steht die Auswärtige Kulturpolitik noch mehr als früher im Mittelpunkt des Interesses. Im gewünschten Ziel sind wir uns alle einig, nämlich möglichst viel und möglichst effektiv, möglichst überall und möglichst ständig kulturell präsent zu sein. Es sind, das hat der ehemalige Präsident des Goethe-Instituts, Hans Heigert, anerkannt, viele Milliarden DM in die bisherigen Kulturverbindungen mit dem Ausland gesteckt worden. Keinem fällt es leicht, wegen des allgemeinen Sparzwangs bei diesen Kulturbeziehungen Abstriche zu machen. Es war immerhin der Bundeskanzler selbst, der mehrmals betonte, daß die deutsche Sprache im Ausland noch stärker gefördert werden sollte und daß mit einem Sonderprogramm „Deutsche Sprache" besonders in Osteuropa zum Aufbau friedlicher Beziehungen beigetragen würde. Der Haushaltsausschuß jedenfalls hat diese Haltung respektiert und versucht zu helfen, wo zu helfen war — ohne deshalb die Arbeitslosenunterstützung im eigenen Land oder manch unverzichtbare Investition in den neuen Bundesländern zu gefährden. Von einer besonderen „Kultur" zeugt daher nicht, wenn die Verantwortlichen des Goethe-Instituts in München bei einer Pressekonferenz im Oktober dieses Jahres wieder einmal glaubten, von einer „Strafexpedition der Anti-Kultur-Politiker in Bonn" reden zu müssen, weil auch das GoetheInstitut einen Sparbeitrag zur allgemeinen Haushaltslage bringen muß. Am meisten wurde beklagt, daß vier Institute geschlossen werden müßten und daß damit erheblicher außenpolitischer Schaden einträte. Wollen Sie die Namen dieser vier Institute hören? Es handelt sich um Viña del Mar (Chile), Medellin (Kolumbien), San Juan (Argentinien) und Malmö (Schweden). Zumindest bei unseren schwedischen Freunden habe ich bisher keinen Liebesentzug feststellen müssen, dafür freuen sich aber die Städte, die bisher in der sozialistischen Abgeschiedenheit festgenagelt waren, wie St. Petersburg, Kiew, Minsk oder Tiflis, auch Alma Ata und Hanoi, daß ein neues Goethe-Institut dort hinkommt. Sollte etwa ein Sparzwang gar ein Anreiz zu neuem Denken sein? Ich kann nur ermuntern, auch stärker den europäischen Verbund zu sehen. Gemeinsame deutsch-französi- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 16679* sche Botschaften oder auch Kulturinstitute oder zumindest ein gemeinsames Dach dafür könnte so manchen Anstoß zu mehr Effektivität auch in der Kulturpolitik geben. Man ist noch lange kein KulturMuffel, wenn man sich Gedanken über das Aufbrechen verkrusteter Strukturen macht. Heilsam ist letzteres im gesamten staatlichen Haushalt. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt I 13 Einzelplan 14 Bundesministerium der Verteidigung Hans-Werner Müller (Wadern) (CDU/CSU): Unsere Soldaten sind aus Kambodscha zurückgekehrt. Unsere Soldaten leisten humanitäre Hilfe in Somalia. Es sind besonders viele aus den Standorten meiner saarländischen Heimat dabei. Unsere Soldaten versorgen Teile der bosnischen Bevölkerung aus der Luft. Unsere Soldaten erfüllen diese Aufträge mit hohem Verantwortungsbewußtsein und vorbildlicher Haltung. Sie dienen dem Ansehen unseres Landes, dafür gebührt ihnen unser Dank. Unsere Soldaten können dies leisten, weil wir eine einsatzbereite, modern ausgestattete und bündnisfähige Bundeswehr haben, und auch weiter haben wollen. Dazu bedarf es erheblicher staatlicher Mittel, die im Einzelplan 14 des hier zu beratenden Haushaltes zur Verfügung gestellt werden. Der 94er Haushalt für die Verteidigung steht im besonderen Maße unter der Notwendigkeit substantieller Einsparungen, weil die Staatsfinanzen insgesamt gesehen zu konsolidieren sind. Konsolidierung der Staatsfinanzen ist erfolgreiche Zukunftssicherung Deutschlands. Dies ist oft genug gesagt worden. Im Wettbewerb um die knappen Ressourcen sind in der Öffentlichkeit gerade die Verteidigungsausgaben besonders zu begründen. Werden doch rund 48 Milliarden ausgegeben, aber immerhin fast 3 Milliarden weniger als 1992. Wir sind, um das gleich vorweg zu sagen, an eine Grenze gestoßen, die wir nicht mehr unterschreiten dürfen, ohne das Ganze zu gefährden. Im vergangenen Jahr wollte die SPD noch 5 Milliarden aus dem Verteidigungshaushalt herausstreichen, heute wird dieser Haushalt anders, wesentlich realistischer beurteilt; man läßt erkennen, durch einige Sprecher zumindestens, daß hier in diesem Einzelplan des Bundesministers der Verteidigung nichts mehr zu holen ist. Ich meine dies ist ein Fortschrittt. Ich will auch sagen, daß in diesem Jahr die Beratungen gerade dieses Haushaltes aus meiner Sicht besonders schwierig waren, im Vergleich zu den früheren Jahren. Ich habe ja die Ehre, schon seit einigen Jahren diesen Haushalt zu bearbeiten. Ich möchte mich an dieser Stelle auch ganz herzlich bei den Beamten des Verteidigungsministeriums für die gute Zusammenarbeit bedanken. Die Beratungen waren aber schwierig, weil es halt immer schwierig ist, die Wünsche, so berechtigt sie auch sind, und die Realität in Einklang zu bringen, wobei wir selbstverständlich den Weg des Ministers unterstützen, der durch energisches Sparen im Bereich der Betriebsausgaben der Bundewehr sich Freiräume zu schaffen sucht für neue Gestaltungsmöglichkeiten und planerische Initiativen. Wir gehen diesen Weg mit, Herr Minister, so wenn wir z. B. ca. 200 Millionen DM Betriebsausgaben sparen und dafür 200 Millionen DM investieren. Es gibt einen militärischen Grundsatz, der da lautet: Entsprechend der Auftragserteilung sind die erforderlichen Mittel bereitzuhalten. Das heißt: Wenn wir über die Auftragserteilung einig sind — und wir sind das in der Union —, dann gilt dreierlei: Erstens. Wir brauchen eine Bestätigung der Verteidigungsausgaben in den nächsten Jahren, zumindest für den Zeitraum des Finanzplanes, also bis 1997. Damit gibt man der Bundeswehr den Planungsrahmen und die erforderliche Planungssicherheit. Zweitens. Der Haushalt für 1994 für den Bundesminister der Verteidigung ist in dieser Größenordnung von etwas über 48 Milliarden DM ein Schritt in diese Richtung. Drittens. Der Haushalt des Bundesministeriums der Verteidigung muß nach entsprechender Umschichtung wiederum etwa 30 Prozent für Investitionen enthalten. Wir werden bald die Stärke von 370 000 Soldaten erreicht haben. Man spricht von Zielstrukturen. Wir hatten einmal in der alten Bundesrepublik 490 000 Soldaten. Trotz der zurückgehenden Zahl sollten wir an der Wehrpflicht festhalten. Die Bundeswehr hat damit einen ständigen Kontakt mit der jungen Generation, einen Kontakt, der prägt. Nahezu die Hälfte der Zeit- und Berufssoldaten rekrutiert sich aus den Teilnehmern am Wehrdienst. Damit bleibt die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber mit dem Angebot einer jährlichen Einstellung von rund 20 000 Soldaten auf die Zeit von 4 Jahren und länger. Im nächsten Jahr werden wir die Zielstruktur von 370 000 planmäßig erreichen. Dies gilt sowohl für Umfang als auch für Qualität. Die Laufbahnentwicklung ist damit auch von besonderer Bedeutung. Attraktivität des Soldatenberufes ist nämlich sehr wichtig. So haben wir in diesem Haushalt auch rund 3 000 Hebungen für Oberfeldwebel und 1 000 Hebungen für Stabsunteroffiziere vorgesehen. Die Beförderungswartezeiten für Zeitsoldaten werden radikal reduziert. Wir denken, daß auch dies in der Öffentlichkeit allgemein und bei den betroffenen Jugendlichen zu einer größeren Akzeptanz des Dienstes in den Streitkräften geführt hat. Deswegen gehen die Quoten der Wehrdienstverweigerung auch zurück, obwohl von einer Trendwende noch nicht gesprochen werden kann. Auch beim Zivilpersonal bauen wir im nächsten Jahr mehr als 8 500 Stellen ab. Dies geschieht ausschließlich durch Fluktuation des Personals. Kein Mitarbeiter wird entlassen. Die Sozialverträglichkeit 16680* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 192. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. November 1993 kann durch Anwendung des Bundeswehrbeamtenanpassungsgesetzes voll gewährleistet werden. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal die Bitte vortragen, daß das Verteidigungsministerium alsbald ein Personalstrukturmodell für die zivilen Bediensteten der Bundeswehr vorlegt, damit die Organisation nach neuen betriebswirtschaftlichen Erkenntnissen gestaltet werden kann. Mit diesen wenigen Sätzen wollte ich darstellen, was wir u. a. mit diesen 48 Millionen DM im Bereich unserer Verteidigung machen. Ich möchte abschließend darauf hinweisen, daß die Größe, die Struktur und der Auftrag sowie das Selbstverständnis der Bundeswehr hier nicht nur allein etwas mit Geld zu tun haben, sondern daß es auch um eine politische Grundeinstellung geht. Karl Feldmeier hat vor einigen Tagen in der FAZ einen Artikel geschrieben mit der Überschrift „Wozu dient die Bundeswehr?" Er führt dort aus: „Maßgebend wird letzten Endes die Entscheidung darüber sein, ob Politik und Gesellschaft Deutschlands die veränderte Wirklichkeit annehmen und ob sie den Willen zur Selbstbehauptung aufbringen. Es geht darum, ob Deutschland eine gleichberechtigte Macht im Kreise seiner Verbündeten sein oder zum Objekt der Macht anderer werden soll. Ohne den Willen zur Selbstbehauptung wären Streitkräfte überflüssig." Soweit dieses Zitat. Wir, die wir uns mit diesem Haushalt intensiv befaßt haben, sind davon überzeugt, daß wir mit unseren Entscheidungen der Bundeswehr einen wesentlichen Beitrag zur Erfüllung ihrer vielseitigen Aufgaben geliefert haben.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Gregor Gysi


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (DIE LINKE.)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Haushalt 1994 soll verabschiedet werden, obwohl seine Voraussetzungen höchst unsicher und seine Prämissen außen-, sicherheits-, wirtschafts- und sozialpolitisch — wie ich meine — falsch sind. Wenn es hier um den Bundeskanzleretat geht, ist es angezeigt, sich mit der Regierungspolitik insgesamt auseinanderzusetzen. Der Bundeskanzler und sein Kabinett stehen hoffnungslos überfordert und ideenlos vor den Herausforderungen dieser Welt und in diesem Land.
    Nach Wegfall des Ost-West-Konflikts stellt der Nord-Süd-Konflikt die größte und eine die Existenz der Menschheit bedrohende Herausforderung dar. Osteuropa lateinamerikanisiert sich langsam, und wie in den USA wird auch bei uns dadurch Armut zur Selbstverständlichkeit. Auf diese großen politischen, ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Herausforderungen findet die Bundesregierung nur zwei Antworten. Sie versucht, sich vor Flüchtlingen abzuschotten, und macht die Menschen glauben, daß sich die dahintersteckenden Probleme irgendwie von selbst lösen würden. Und das auch noch, obwohl sie weiß, daß alle führenden Industriestaaten, d. h. auch die Bundesrepublik Deutschland, ihren beträchtlichen Anteil an den Ursachen von Not und Elend in der sogenannten Dritten Welt haben.
    Auf der anderen Seite bereitet uns die Bundesregierung täglich darauf vor, daß der Nord-Süd-Konflikt militärisch zu beherrschen sei. Wir sollen Krieg wieder als normales Mittel der Politik empfinden und uns darauf einstellen, daß deutsche Soldaten weltweit operieren werden. Die SPD, die zunächst gegen jegliche Beteiligung deutscher Soldaten auch an Blauhelmeinsätzen war, ist im Laufe der letzten Jahre der Auffassung der Bundesregierung immer näher gekommen. Ich befürchte, daß der Tag nicht mehr weit ist, an dem die Tür auch für weltweite Kampfeinsätze der Bundeswehr ganz geöffnet wird.
    Der europäische Einigungsprozeß ist ins Stocken geraten. Das liegt zum einen daran, daß die Bundesregierung führend an einem Maastrichter Vertrag beteiligt war, der die notwendigen Voraussetzungen für eine europäische Einigung eben nicht regelt. Zum anderen haben wir es mit einer rechtskonservativen
    nationalistischen antieuropäischen Wende zu tun, die insbesondere in den Äußerungen des bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber deutlich zum Ausdruck kam. Er hat erklärt, daß der europäische Einigungsprozeß nicht mehr erforderlich sei, weil wir als Deutsche keine europäische Identität mehr benötigten, um die Bürde der Vergangenheit loszuwerden, und weil inzwischen gegenüber früheren Vorstellungen die deutsche Einheit auch ohne die europäische gelungen sei. Damit wird sogar der Bundeskanzler aus seinen eigenen Reihen hinsichtlich seiner europäischen Einigungspolitik angegriffen. Die Renationalisierung der Außenpolitik wird von bestimmten Kräften in CDU und CSU gefordert. Ich hoffe, daß die Bundesregierung dagegen widerstandsfähig bleibt.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Mit Hilfe von Gysi!)

    — Da können Sie sogar meine Hilfe haben. Aber ich hoffe, daß Sie darauf nicht angewiesen sind. Es wäre ja noch trostloser, wenn Sie mich dazu brauchten, solche Angriffe abzuwehren.
    Aber das ändert auch nichts daran, daß der Maastrichter Vertrag leider die Bedingungen nicht schafft, die wir im Kampf gegen die Gefahren des Nationalismus und Rechtsextremismus brauchten. Das Europa von Maastricht schließt Osteuropa aus, es schafft überflüssigerweise eine europäische Armee, es weist erhebliche Demokratiedefizite auf. Das ist in unserer gegenwärtigen Entwicklungsphase besonders gefährlich, weil das hohe Maß an Politikverdrossenheit in Demokratieverdrossenheit umzuschlagen beginnt. Wenn der Deutsche Bundestag seine Befugnisse nicht auf das Europäische Parlament, sondern auf eine bürokratisch hinter verschlossenen Türen arbeitende Brüsseler Bürokratie verlagert, dann ist das eben ein Nährboden, der antieuropäische Kräfte ebenso wie antidemokratische Kräfte versorgt.
    Aber das Schlimmste am Maastrichter Vertrag ist, daß die Fehler aus der deutschen Vereinigung potenziert wiederholt werden. Die wesentlichen Voraussetzungen für eine Währungsunion und für eine europäische Einigung sind nicht im Vertrag vereinbart worden. Es gibt nicht die geringsten Anzeichen für eine Steuerangleichung, um Kapitalflucht, umfangreiche Steuerverkürzungen und die Ausnutzung von Steuertricks wenigstens zu minimieren. Nichts ist bisher geschehen, um eine Lohn- und Sozialangleichung, eine Angleichung ökologischer Standards und der Standards im Arbeitsschutz und Gesundheitswesen zu erreichen. Die niedrigsten Sozialleistungen, die niedrigsten Löhne, die niedrigsten ökologischen Standards, der niedrigste Arbeitsschutz und das niedrigste Niveau im Gesundheitswesen werden auf diese Art und Weise zum Maßstab des Wettbewerbs erhoben. Jede und jeder kann sich ausrechnen, welche Folgen dies für die europäische Idee haben wird und wie groß der Drang zur Renationalisierung auf diesem Wege sein wird.
    Wenn ich nun auf die Probleme in Deutschland zu sprechen komme, so muß ich sagen, es ist klar, daß die Bundesregierung die Probleme der deutschen Einheit nicht bewältigt. Im Gegenteil: Sie nutzt sie aus, um einen Demokratie-, Rechts-, Sozial- und Lohnabbau in Westdeutschland durchzusetzen. Das ist übrigens



    Dr. Gregor Gysi
    auch gegenüber den Menschen in Ostdeutschland höchst unbillig, weil sie dadurch zu Sündenböcken der Veränderungen in den alten Bundesländern werden. Noch immer leben Hunderttausende Menschen in den neuen Bundesländern wegen des Prinzips „Rückgabe vor Entschädigung" in der Ungewißheit, ob sie ihre Häuser und Grundstücke, ihre Wohnungen behalten können. Sie, Herr Kollege Solms, haben sich hier zum Eigentumsschutz bekannt und haben gesagt, deshalb müßten Sie beim Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" bleiben. Wieso interessiert Sie eigentlich das Eigentum Hunderttausender Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern nicht, denen Sie mit diesem Prinzip keinen Schutz geben? Selbst wenn sie es behalten könnten, wissen sie nicht, welche Kosten damit verbunden sein werden.
    Immer mehr Menschen werden auch wegen hoheitlichen Handelns für die DDR in Strafverfahren verwikkelt. Fast jede Ostdeutsche und fast jeder Ostdeutsche fühlen sich gedemütigt, weil ihnen auch seitens der Bundesregierung immer wieder erklärt wird, daß sie 40 Jahre lang falsch gelebt und falsch gearbeitet haben. Ihre Biographien werden ihnen ebenso zerstört, wie sie auch nicht stolz darauf sein sollen, was sie in den letzten Jahrzehnten aufgebaut haben. Wer aber Menschen in so großer Zahl demütigt, muß mit psychischen Gegenreaktionen rechnen. Das sage ich, obwohl ich weiß, daß sich für die Menschen in den neuen Bundesländern durchaus viele positive Veränderungen ergeben haben. Nur werden sie durch die Massenarbeitslosigkeit, die immer größer werdenden finanziellen Belastungen, den Kultur- und Wissenschaftsabbau und durch die psychischen Demütigungen auf schlimme Art und Weise überschattet.
    Aber seit der deutschen Einheit verändert sich die Bundesrepublik auch in den alten Bundesländern. Rechtsunsicherheit herrscht auch hier. Arbeitslosigkeit und Angst vor Arbeitslosigkeit grassieren in ganz Deutschland. Mit diesem Bundeshaushalt wird die Schere bei den sozial Schwächsten und den sozial Schwachen angelegt. Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger, Umschülerinnen und Umschüler, Arbeitslose — sie alle werden ab 1. Januar 1994 weniger haben.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Herr Gysi, das ist gar nicht wahr!)

    — Doch, das ist wahr. Wenn Sie die Teuerungsrate hinzunehmen, wird die Schere noch viel größer.
    Aber das Problem ist, daß wir diesen Menschen, den sozial Schwächsten, sagen müssen, daß wir so viel behalten, wie wir schon immer hatten und daß niemand an die Vermögenden in dieser Gesellschaft herangeht. Das ist die eigentliche Katastrophe. Was ist das für eine Art Solidarität, in die nur die Schwächsten in der Gesellschaft einbezogen sind, aber nicht die Vermögenden?
    Das bedrückendste und gefährlichste Problem in der Gegenwart ist und bleibt die Massenarbeitslosigkeit, zumal sie täglich zunimmt und inzwischen die Fünf-Millionen-Grenze erreicht hat. Damit ist eine Fülle sozialer und psychischer Probleme verbunden. Welche Konzepte legt die Bundesregierung dagegen vor? Zumindest keine wirksamen. Wer die Massenarbeitslosigkeit wirksam beseitigen will, der muß die vorhandene Arbeit auf mehr Schultern verteilen und zugleich neue Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich, im Kultur-, im Bildungs- und Ökologiebereich schaffen.
    Um diese Ziele zu erreichen, bedarf es einer anderen Arbeitszeitpolitik und einer anderen Steuerpolitik. Aber es war diese Bundesregierung, die bis vor kurzem — heute eigentlich schon wieder — von Arbeitszeitverlängerung sprach. Durch die Initiative von VW ist es nun wenigstens gelungen, die Frage der Arbeitszeitverkürzung ernsthaft auf die politische Tagesordnung in unserer Gesellschaft zu setzen. Sicherlich gibt es noch Streit über die Art und Weise der notwendigen Finanzierung dieser Arbeitszeitverkürzung, aber Tatsache ist natürlich, daß es keine einseitigen Lohnkürzungen geben darf, da sich für die Betroffenen auch die Lebenshaltungskosten nicht senken und weil das im übrigen — was Sie, Herr Solms, immer nicht beachten — zu einer Kaufkraftreduzierung führt und damit zu einem Rückgang der Wirtschaftstätigkeit und zu einem Rückgang der Zahl der Arbeitsplätze.
    Warum ist eigentlich diese Arbeitszeitdiskussion in der Koalition unterblieben, obwohl sie doch so off en-sichtlich nötig ist? Haben wir nicht Möglichkeiten, hier Veränderungen zu beschließen? Der Bundestag könnte durch Veränderungen des Arbeitszeitgesetzes die Höchstdauer der Arbeitszeit deutlich beschränken. Wir könnten durch Gesetze die zulässige Zahl von Überstunden weiter beschränken. Es wäre möglich, Steuergerechtigkeit herzustellen, Steuerprivilegien abzuschaffen und jährliche Steuerverkürzungen von 130 Milliarden DM wirksam zu bekämpfen.
    Das wäre übrigens ein wesentlich besseres Instrument, als hinter jeder Sozialhilfeempfängerin und jedem Sozialhilfeempfänger herzurennen und zu prüfen, ob er nicht vielleicht zehn Mark zuviel hat. An diese 130 Milliarden DM sollten Sie einmal herangehen.
    Ebenso wäre es möglich, den Vermögenden in unserem Land und den Gewinnern der Einheit mehr abzuverlangen, als sie bisher geleistet haben. Dann gibt es noch die berühmten 700 Milliarden DM frei vagabundierendes Kapital, an das man herangehen sollte. Diese Bundesregierung wird das jedoch nicht tun, sie hält sich lieber an Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose.
    Woher, frage ich Sie, nehmen Sie eigentlich den Mut, drei bis vier Millionen Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern das Existenzminimum zu kürzen und gleichzeitig 97 Milliardäre in der Bundesrepublik zu schonen und ihnen nicht eine Mark mehr in einer solchen Krisensituation abzufordern? In Krisenzeiten müssen Vermögende einen wirklichen Solidarbeitrag leisten. Ihnen ging es vorher, geht es in einer solchen Zeit und auch in Zukunft immer noch wesentlich besser als jenen ohne Vermögen, denen Sie noch das Existenzminimum kürzen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wie bei Gysi!)

    Eine Regierung, die in erster Linie den Lebensstandard der ohnehin Sozialschwachen reduziert, entlarvt



    Dr. Gregor Gysi
    sich selbst. Die Bundesregierung bekämpft nicht die Armut, sie bekämpft die Armen. Schon allein durch ihre Untätigkeit verschärft sie das Problem der Massenarbeitslosigkeit und verschont die Vermögenden in dieser Gesellschaft.
    Sie verändern die Gesellschaft darüber hinaus, so z. B. durch Kultur- und Bildungsabbau und dadurch, daß Sie keinen Beitrag zur Bekämpfung der Ursachen der Kriminalität leisten. Massenarbeitslosigkeit und Wohnungsnot, riesige soziale Unterschiede und Rechtsextremismus bilden den eigentlichen Herd für Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland.
    Diese Ursachen werden Sie mit Ihrem großen Lauschangriff nicht beseitigen. Bedauerlich ist, daß nunmehr auch die SPD einer solchen Maßnahme zustimmt, obwohl klar ist, daß eine solche rechtsstaatlich nicht vertretbare Maßnahme, einmal legalisiert, sich immer stärker ausbreiten wird. Sorgen Sie für die Präsenz der Polizei, nicht gegen linke Demonstranten, sondern gegen die wirklich Kriminellen in diesem Land! Verhindern Sie Geisterbahnhöfe, in denen immer mehr Bedienstete entlassen werden! Leisten Sie einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit und zur Verringerung der sozialen Unterschiede! Sie werden sehen, daß die Kriminalitätsrate zurückgehen wird.
    Hören Sie vor allem auf, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu nutzen, um ideologische Zielvorstellungen durchzusetzen wie z. B. Rückschritte in der Gleichstellung der Frauen. Massenarbeitslosigkeit bekämpft man nicht dadurch, daß man die Frauen in die Küche zurückschickt und versucht, ihnen das auch noch schmackhaft zu machen, weil es angeblich ihre eigentliche Bestimmung sei.
    Massenarbeitslosigkeit bekämpft man auch nicht dadurch, daß man Frauen gegen ihren Willen zur Schwangerschaft zwingt. Massenarbeitslosigkeit bekämpft man auch nicht dadurch, daß man jene, die noch Arbeit haben, gegen jene aufstachelt, die nur noch über soziale Transfers ihre Existenz sichern können.
    Haben wir doch endlich den Mut, unmittelbare Demokratie einzuführen, damit die Menschen widerstandsfähig werden und auch nicht bereit sind, selbst im Interesse der Lösung eines sozialen Problems auf demokratische Strukturen zu verzichten. Denn das ist doch die Gefahr, daß der Rechtsextremismus die Lösung von sozialen Problemen dafür anbietet, daß wir auf demokratische Strukturen verzichten sollen.
    Genau das darf nicht passieren. Dazu muß man Demokratie erlebbar gestalten, unmittelbar gestalten. Wir brauchen plebiszitäre Elemente in diesem Land. Wir brauchen mehr Befugnisse und größeren finanziellen Spielraum für unsere Kommunen. Denn wer Kommunen entmündigt, entmündigt die in ihr lebenden Menschen.
    Ich finde es unerträglich, wie die Regierungsparteien bei der Kommunalwahl durch Brandenburg ziehen und immer wieder dazu auffordern, sie zu wählen, obwohl sie hier in Bonn die Möglichkeiten der Kommunen täglich einschränken. Bürgerinitiativen müssen zumindest das Recht haben, in kommunalen Parlamenten Anträge zu stellen. Wir sollten das Wahlrecht so verändern, daß die Wählerinnen und Wähler
    auch Einfluß auf die Landeslisten der Parteien nehmen können, damit wir nicht allein über die Reihenfolge der Kandidaten entscheiden.
    Lassen Sie uns das Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer und auch das aktive Wahlrecht für 16- und 17jährige einführen.

    (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: Für 5jährige! — Für 8jährige! — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Für 12jährige!)

    — Das ist doch albern. Sie wissen ganz genau, daß es Gutachten gibt, die besagen, daß 16- und 13jährige die politische Reife wie 18- und 19jährige haben und durchaus zu einer solchen Entscheidung fähig sind. Wenn Sie das nicht wollen, entmündigen Sie schon wieder eine Gruppe junger Menschen und sagen ihnen, sie sollen sich um diese Demokratie nicht scheren. Dann aber wundern Sie sich, wenn sie sich nicht darum scheren, sondern den anderen Richtungen folgen. Lassen Sie uns doch einmal neue Wege gehen — gerade auch in dieser Hinsicht.

    (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Kommen Sie wieder herunter! — Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Qualifikation Jugendweihe!)

    — Nein, nein. Ach wissen Sie, das ist doch alles zu einfach und zu simpel. Das wissen Sie doch. Wenn wir nicht anfangen, gemeinsam über neue Dinge nachzudenken, könnten wir es irgendwann gemeinsam sehr bereuen. Das ist das Entscheidende. Dann hat uns die ganze Polemik gar nichts genutzt.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben nichts gemeinsam! — Zuruf des Abg. Erich G. Fritz [CDU/CSU])

    — Wenn Sie das nicht wollen, dann lassen Sie es bleiben. Aber ich hoffe, Sie kriegen dann auch die Quittung. Wie sagt doch unser Bundeskanzler immer so schön; Er will es nächstes Jahr noch einmal wissen. Ich hoffe, er erfährt es auch, und zwar gründlich.

    (Zuruf des Abg. Dietrich Austermann [CDU/ CSU])

    — Wissen Sie, wenn Sie wirklich Eigentum schützen wollen — ich habe schon zu den Grundstücken in der DDR gesprochen —, dann denken Sie doch einmal über das Altschuldenhilfegesetz nach. Da machen Sie eine Zwangsenteignung in Höhe von 15 % von schon privatisiertem genossenschaftlichen Eigentum. Aber, was noch schlimmer ist: Sie nötigen die Genossenschaften, bis Ende des Jahres nicht nur Schulden, die sie ablehnen, anzuerkennen, sondern, was der Gipfel ist, zu unterschreiben. Wenn sich später gerichtlich herausstellt, daß sie die Schulden gar nicht hatten, daß sie dennoch auf eine Rückzahlung verzichten, daß sie einen Anspruch wegen ungerechtfertigter Bereicherung nicht geltend machen? Das ist wirklich schlimme Nötigung.
    Ich sage Ihnen, wenn das privat zwischen uns so geschähe, dann würden wir eine Strafanzeige wegen



    Dr. Gregor Gysi
    Nötigung und Erpressung bekommen. Der Bundestag aber leistet sich das durch Gesetzgebung.

    (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Jetzt werden erst einmal die Massenorganisationen enteignet!)

    Nein, dieser Haushalt 94 löst kein einziges der vor uns stehenden Probleme. Er wird aber viele verschärfen. Deshalb, Herr Bundeskanzler, kann die PDS/ Linke Liste Ihrem Einzeletat keine Zustimmung geben.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber bedauerlich!)

    Wenn wir einen wirklich soliden Haushalt haben wollen, dann müßten Sie den ganzen Haushalt in den Ausschuß zur Neustrukturierung zurückschicken.

    (Beifall bei der PDS/Linke Liste)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Bevor ich Herrn Kollegen Feige das Wort gebe, möchte ich folgendes noch einmal in Erinnerung rufen. Ausweislich des Protokolls, Herr Glos, haben Sie gesagt: Die SPD ist aufgefordert, damit aufzuhören, die Menschen in unserem Land zu verhetzen. — Für diese Aussage muß ich Sie zur Ordnung rufen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Als nächster spricht der Kollege Feige.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Ich habe doch nicht gesagt, daß sie Hetzer sind!)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Klaus-Dieter Feige


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung dokumentiert mit dem Bundeshaushalt 1994 und den Spargesetzen mehr denn je das Scheitern ihrer Wirtschafts-, Sozial-und Finanzpolitik. Am Ende der Ära Kohl sind in Deutschland knapp vier Millionen Menschen ohne Arbeit, und fast zwei Millionen Menschen befinden sich in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen.
    Drei Jahre nach der deutschen Vereinigung rächt es sich bitter, daß diese Regierung wider besseres Wissen optimistische Durchhalteparolen ausgegeben hat. Die Politik der Bundesregierung ist so im Ergebnis der permanenten Selbsttäuschung ein einziger Scherbenhaufen.
    Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich heute in einer dreifaltigen Krise:
    Erstens. Die ostdeutsche Wirtschaft durchläuft in nahezu allen Bereichen des Lebens eine umfassende Transformationskrise. Die Wirtschaft Ostdeutschlands wurde vom brutalen Anpassungsschock der Währungsreform im Kern getroffen. Die Industrie ist nahezu vollständig zusammengebrochen.
    Zweitens. Es gibt auch im vierten Jahr nach der Vereinigung nicht den einen Wirtschaftsstandort Deutschland, sondern deren zwei; einen westlichen, dessen strukturelle Defizite jetzt ans Tageslicht kommen, und einen östlichen, der sich trotz mancher
    positiver Entwicklung weiterhin im industriellen Niedergang befindet.

    ( V o r sitz: Vizepräsidentin Renate Schmidt)

    Drittens. Von vielen noch nicht wahrgenommen, weil eben von den beiden zuerst genannten überlagert, entfaltet sich die ökologische Strukturkrise. Diese wird langfristig gesehen noch weit dramatischer und bedrohlicher für die Wirtschaft und Gesellschaft werden, als es die beiden anderen gegenwärtig schon sind. Hier ist das Versagen der Bundesregierung am eklatantesten. Nach wie vor ist die Wirtschaft in Deutschland ökologisch falsch gepolt. Noch immer beruht sie auf Ressourcenverschwendung und Energievergeudung. Nach wie vor wird Raubbau an der Zukunft betrieben.
    Die Probleme dieses Landes bündeln sich in der Tatsache, daß die Wirtschaft und die Bundesregierung den wichtigsten Produktionsfaktor, den wir haben, nämlich die Schaffenskraft und den Ideenreichtum von Millionen Menschen, brachliegen lassen. Die Massenarbeitslosigkeit ist daher nicht nur eine soziale Tragödie, sie ist zugleich eine ungeheure Verschwendung einer für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres Landes entscheidenden Ressource.

    (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was haben Sie schon geleistet?)

    Was aber hat die Bundesregierung anzubieten, um den wirklichen Problemen des Standortes Deutschland zu begegnen? Damit fangen wir an. Nichts außer vergebenen Chancen, dazu frisierte Prognosen und untaugliche Rezepte. Würde man den Vorschlägen der Bundesregierung folgen, dann hieße deren sogenannte Lösung der Probleme: Sozial- und Umweltschutzabbau, Deregulierung, Privatisierung um jeden Preis und Abbau der demokratischen Rechte. Damit hilft die Bundesregierung den Millionen Arbeitslosen nicht weiter. Sie hilft auf Dauer aber auch nicht der Wirtschaft in diesem Lande. Denn diese profitiert auf längere Sicht doch gerade von den vergleichsweise hohen Sozial- und Umweltstandards in Deutschland.
    Ohne verbindliche Rahmensetzung, ohne Unterstützung des Staates werden die Unternehmen weder den ökologischen Umbau bewältigen noch die Erhaltung bestehender und die Schaffung neuer Arbeitsplätze erreichen.
    Die Sozialpolitik ist zu einem defizitären Krisenmanagement verkommen. Die elf Jahre Kohl-Regierung entsprechen elf Jahren forcierten Sozialabbaus. Die Bundesregierung gefährdet die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme in unverantwortlicher Weise.

    (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was tun Sie denn?)

    Der Wirtschaftsminister z. B. verunsichert durch seine inkompetenten Äußerungen zur Krise der gesetzlichen Rentenversicherung die Wirtschaft und die Bevölkerung. Gleichzeitig bedient sich die Bundesregierung in schamloser Manier hinter dem Rükken der Öffentlichkeit aus den Sozialkassen. Seit der deutschen Vereinigung benutzt diese Regierung die



    Dr. Klaus-Dieter Feige
    Sozialkassen für die versicherungsfremde Finanzierung der deutschen Einheit. Für die Rentenversicherung bedeutet dies einen Verlust von über 10 Milliarden DM, während in der Arbeitslosenversicherung bis Ende dieses Jahres gar 55 Milliarden DM zweckentfremdet sein werden.

    (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wohin kommt denn das Geld?)

    Das ist die Realität.
    Hier offenbart sich die ganze Hinterhältigkeit und Verantwortungslosigkeit dieser Regierung. Denn ausgerechnet die Wortführer dieser unsäglichen, völlig auf die Lohnnebenkosten verengten Standortdebatte haben durch ihre dreiste Selbstbedienung diese Lohnnebenkosten erst in die Höhe getrieben. Anderenfalls wäre der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung in diesem Jahr niedriger ausgefallen. Ohne die Plünderung der Sozialkassen wäre auch die Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge um 1,7 % zum 1. Januar 1994 vermeidbar gewesen.
    Die drastischen Einschnitte in das soziale Netz führen andererseits auch nicht zu einer höheren Verteilungsgerechtigkeit. Mit seinen Äußerungen zum „kollektiven Freizeitpark" schürt der Bundeskanzler dagegen sogar gezielt Ressentiments gegen Erwerbslose und Sozialleistungsempfänger. Diese Gesellschaft ist aber alles andere als ein „kollektiver Freizeitpark". Herr Solms, Sie haben vorhin nur die Adresse verwechselt. Die Führungsriege der konservativ-liberalen Koalition hat sich ihrerseits dagegen eher in einer Art „Jurassic Park" eingerichtet: viel Panzer, wenig Gehirn und mangels Reproduktionsfähigkeit zum Abtreten verurteilt.

    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

    Diese fossile Bundesregierung hat nun angekündigt, Mißbräuche im Steuer- und Sozialsystem entschieden bekämpfen zu wollen. Wo wird da angesetzt? Wieder bei den Arbeitslosen und den Empfängem von Sozialleistungen, anstatt gegen die Steuerkriminalität Zeichen zu setzen. Die so zu erwartenden Mehreinnahmen stehen in keinem Verhältnis zu den tatsächlich durch kriminellen Mißbrauch ausfallenden Steuern. Was sind die prognostizierten Einnahmen in Höhe von 1,4 Milliarden DM 1994 im Verhältnis zu geschätzten dreistelligen Milliardenbeträgen, die dem Staat durch kriminelle Steuerhinterziehung verlorengehen? Da muß man ansetzen.
    Bezeichnend für diese Regierung ist so auch, daß sie bei der Zinsbesteuerung das Steuergeheimnis und den Datenschutz hochhält, während sie bei der Bekämpfung des Leistungsmißbrauchs bei der Sozialhilfe keine Bedenken gegen die Weitergabe personenbezogener Daten hat — ganz im Gegenteil.
    Damit wären wir schon beim Thema Menschenrechtspolitik. Auch hier klafft in vielen Bereichen ein Widerspruch zwischen den Koalitionssonntagsreden und dem praktischen Handeln. Dies gilt insbesondere für die Verteidigung der Menschenrechte an sich. Für diese Bundesregierung ist die Verletzung von Menschenrechten, sei es im früheren Jugoslawien oder in China, nichts anderes als eine taktische Verschiebemasse. Da wird der weltweite Einsatz deutscher Soldaten unter UNO-Flagge vorangetrieben — zum Schutz der Menschenrechte, versteht sich —, und während die Bundeswehr in Somalia den Nachschub für drei indische Soldaten sicherstellt — auf Kosten der Steuerzahler natürlich —, reist der Bundeskanzler nach China, um Geschäfte zu machen. Milliardenaufträge aus der Volksrepublik, und schon wird das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens verdrängt und vergessen. Einer der Hauptverantwortlichen wird statt dessen auf einen Gegenbesuch eingeladen. Makaberer geht es fast nicht. Die Übergabe einer Liste mit den Namen von 20 politischen Gefangenen an die chinesische Führung bekommt den faden Beigeschmack einer öffentlichkeitswirksamen Pflichtübung.
    China ist sicher einer der großen Zukunftsmärkte, auch für die deutsche Wirtschaft. Gute Beziehungen der deutschen Wirtschaft zu China können zur Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland beitragen. Ist es da aber wirklich zuviel verlangt, trotzdem laut und deutlich den Schutz der Menschenrechte in China einzufordern?

    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Ob Außen- oder Innenpolitik, was vorherrscht, ist Beliebigkeit und Herumdoktern an Symptomen. Nehmen wir die Kriminalitätsbekämpfung. Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land haben Angst vor einer Zunahme von Gewaltdelikten. Die Bundesregierung lassen diese Ängste aber weitgehend kalt. Anstatt nämlich die Ursachen wie z. B. die steigende Arbeitslosigkeit, eine verfehlte Jugend- und Familienpolitik und eine falsche Ausländer- und Drogenpolitik zu bekämpfen, werden ganz einfach demokratische Rechte abgebaut. Jüngster Tiefpunkt: der sogenannte große Lauschangriff. In dieser Debatte schimmert kaum noch durch, daß die Argumente der Befürworter von elektronischen Wanzen mehr als schwach sind. Die rechtlichen und politischen Folgen für unser Gemeinwesen werden noch nicht einmal im Ansatz, nicht einmal heute in der Debatte, problematisiert. Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung soll für viele Menschen nicht mehr gelten. Die Unschuldsvermutung wird abgeschafft. Die Befürworter des großen Lauschangriffs ignorieren schlicht und ergreifend, welche Erfahrungen wir mit zwei Schnüffelsystemen in diesem Jahrhundert in Deutschland sammeln mußten.

    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir halten diese Mittel weder zur Bekämpfung neuer Kriminalitätsformen für effektiv, noch sind sie geeignet, den Schutzinteressen der Bevölkerung und der Bekämpfung der Alltagskriminalität gerecht zu werden.
    Aber wohin geht nun die Sozialdemokratie unseres Landes? Es ist doch kein Zufall, daß die Sozialdemokraten auf ihrem Parteitag dem großen Lauschangriff zugestimmt haben. Dies war nach den Koalitionsverhandlungen von Hamburg ein weiterer Hinweis auf den künftigen Weg der SPD. Oder, wie vergangene Woche in der „taz" zu lesen war: „Mit Scharping kehrt Schmidt an die Spitze der SPD zurück. " Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands läuft den Konserva-



    Dr. Klaus-Dieter Feige
    tiven hinterher und entwickelt sich zusehends zum Schoßhündchen der CDU.

    (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das lassen Sie einmal unsere Sorge sein!)

    Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, das Ziel haben, eine Große Koalition zu bilden, dann sagen Sie das bitte laut und deutlich. Ihr Vorsitzender hat die Chance dazu. Ihre möglichen Wählerinnen und Wähler haben schon vor der Wahl ein Recht darauf, zu erfahren, ob die SPD und, wenn ja, wie die SPD Kohl ablösen möchte.

    (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Der Wähler löst ihn ab! Wir wollen wählen und nicht manipulieren!)

    Die Bürgerinnen und Bürger wollen wissen, ob die SPD überhaupt noch über innovative Kräfte verfügt und zu einem tatsächlichen Machtwechsel bereit ist. Die Wählerinnen und Wähler wollen wissen, ob die SPD ihre Antworten an einer verantwortlichen sozialökologischen Perspektive orientiert. Das Wort Ökologie ist auf Ihrem Parteitag sehr, sehr knapp gewesen.
    Wenn die SPD nicht den Mut aufbringt, eine Wende zu vollziehen, dann sage ich den Wählerinnen und Wählern: Im Superwahljahr 1994 sind BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN dann die einzige Alternative zu dem noch Schwarz-Kohl und dem neuen Rot-Kohl. Nur wir stehen für einen wirklichen ökologischen Strukturwandel. Die Bundesrepublik braucht eine Wirtschaftspolitik, die in Ostdeutschland die Überlebenschancen der noch vorhandenen industriellen Substanz soweit wie möglich wahrt. Wir brauchen in ganz Deutschland eine soziale und ökologische Gestaltung des wirtschaftlichen Umbruchs.
    Auf dem Programm verantwortlicher Wirtschaftspolitik stehen heute zwei zentrale Aufgaben: zum einen der ökologische Umbau, das Umsteuern auf ein umweltverträgliches Wirtschaften, und zum zweiten die Erhaltung bestehender und die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Beide Aufgaben müssen und können miteinander verzahnt werden. Dazu brauchen wir eine ökologische Steuerreform.
    In einem ersten Schritt fordern wir die Einführung einer allgemeinen Energiesteuer, eine drastische Erhöhung der Mineralölsteuer und eine Abfallabgabe. Aber — und da unterscheiden wir uns — als Kompensation für diese Belastungen werden wir die Lohnnebenkosten senken, und zwar insbesondere im Bereich der Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Gleichzeitig sind diese Bereiche von versicherungsfremden Leistungen zu entbinden. Leistungen wie die Rentenanpassung oder die Zahlung von Arbeitslosengeld in Ostdeutschland können nicht in erster Linie den Beitragszahlern der Sozialversicherung angelastet werden. Sie sind eine Aufgabe der gesamten Solidargemeinschaft.
    Wenn umweltschädliches Verhalten, wenn Ressourcenverbrauch und Energieeinsatz teuer sind, dann kann Arbeitskraft billiger werden. Das fordern Sie doch immer. So leistet der ökologische Wandel einen maßgeblichen Beitrag zur Schaffung sinnvoller Dauerarbeitsplätze.
    Der ökologische Umbau unserer hochentwickelten Industriegesellschaft soll zur Leitidee unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Handelns werden. Das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN will einen neuen ökologischen Gesellschaftsvertrag, der allen Identifikation und Mithandeln ermöglicht. Wer — wie die Koalition und Teile der SPD — die Umweltpolitik in der Wirtschaftskrise auf Eis legt, gefährdet nicht nur unsere Umwelt, sondern verschlechtert auch die Perspektiven für die wirtschaftliche Entwicklung. Das sollte Ihnen das Beispiel Japan deutlich zeigen.
    Die ökologische Ausrichtung der Wirtschaft muß folglich mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik einhergehen. Massenerwerbslosigkeit auf sehr hohem Niveau ist weder ein kurzfristiges Übergangsproblem noch eine schicksalhafte Konsequenz der modernen Industriegesellschaft. Sie ist nur mit einer langfristigen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik zu überwinden. Dabei geht es um das Drehen an vielen verschiedenen Schräubchen und nicht etwa um die Holzhammermethode.
    Arbeitszeitverkürzung muß endlich als Ziel der Politik anerkannt werden, und zwar nicht nur, weil dies ein Beitrag zur Bekämpfung der Massenerwerbslosigkeit ist. Arbeitszeitverkürzung ist auch ein gesellschaftspolitisch relevantes Instrument zur gerechteren Verteilung der Erwerbschancen zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen, aber auch zwischen Frauen und Männern.
    Ein weiterer Schwerpunkt unseres Konzepts liegt dabei in der Verknüpfung von Beschäftigung und Qualifikation. Auf diese Weise kann eine tragfähige Brücke zwischen den öffentlich geförderten Arbeitsplätzen und dem privatwirtschaftlichen Sektor des Arbeitsmarktes gebildet werden.
    Arbeitszeitverkürzung, die Schaffung zukunftsgerichteter Arbeitsplätze durch einen klugen und innovativen ökologischen Strukturwandel und eine aktive Arbeitsmarkt- und Qualifikationspolitik, das sind unsere Antworten auf Massenerwerbslosigkeit, Beharrungsvermögen und das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Marktes.
    Der Staat darf sich nicht der Verantwortung für die Gestaltung unserer Zukunft entziehen. Die wirtschafts- und umweltpolitische Inkompetenz und Richtungslosigkeit der Koalition schafft Zukunftsängste und Vertrauensverluste bei den Menschen in unserem Land.
    Wir, das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sind die einzige Alternative zu Schwarz-Kohl und Rot-Kohl. Wir stehen für eine klare und überzeugende Politik der ökologischen Verantwortung. Wir stehen für eine tatsächliche Gesundung des Wirtschaftsstandortes Deutschland — im Interesse der Menschen und neuerdings im Interesse gerade auch der Wirtschaft in unserem Lande.
    Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)