Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alles, was in diesen Monaten und in der vor uns liegenden Zeit passiert, ist eine Folge eines welthistorischen Umbruchs durch den Zerfall der zweiten Welt, eingeleitet durch den Reformkurs Gorbatschows mit auch für ihn ungeahnten Konsequenzen, und das auf der Basis eines zukunftslosen politischen und ökonomischen Systems, das den Zusammenbruch bis hin zu dem des Warschauer Paktes bewirkt hat.
Angesichts dessen zu insinuieren, Herr Kollege Pflüger, daß alles, was jetzt passiert, quasi eine Folge des NATO-Doppelbeschlusses wäre,
ist, mit Verlaub gesagt — egal, wie man zu diesem Beschluß stand — , unter Ihrem Niveau.
Man muß sich auf der einen Seite über jeden einzelnen atomaren Abrüstungsschritt freuen, wenn man die unglaublichen Kapazitäten, die aufgebaut worden sind, bedenkt. Auf der anderen Seite sind wir weltpolitisch so sehr in einer Sackgasse des Wettrüstens und der damit verbundenen Vernachlässigung anderer menschheitlicher Überlebensaufgaben, daß der kritische Blick gewahrt bleiben muß.
Wir sind uns im klaren, daß ein großer Schritt getan worden ist. Aber die Bewertung eines Schrittes ist eine Frage des Maßstabes. Gemessen an einer klebrigen Geschichte von Abrüstungsverhandlungen der letzten Jahrzehnte — noch beim START-Vertrag konnten wir nur feststellen, daß nach zehn Jahren Verhandlungen nicht mehr an Reduzierung herauskam, als daß der Zustand von vor zehn Jahren, also vom Beginn der Verhandlungen, wiederhergestellt wurde — , ist das, was geschehen ist, ein großer Schritt — ohne jeden Zweifel. Gemessen an den Problemen, die gegeben sind, ist das alles noch keineswegs befriedigend. So sehe ich die Sache, und so sieht es auch meine Fraktion.
Der größte Fortschritt, den ich politisch sehe, weil wir uns bei diesen Dingen nicht mit Raketenzählerei begnügen dürfen, sondern eine politische Bewertung anstellen müssen, ist, daß endlich einmal versucht wird, nicht erst auf der Basis langwieriger, umständlicher, hochkomplexer Verhandlungen einen Schritt weg von den atomaren Overkillkapazitäten zu tun, sondern in einer Abrüstungsdynamik sich wechselseitig befruchtender und anregender einseitiger Schritte. Dies muß auch Konsequenzen für die Zukunft der konventionellen Abrüstungsverhandlungen in Europa haben.
Das ist für mich der größte Fortschritt.
Eine sachliche Bewertung der Ergebnisse führt dahin, daß zunächst einmal eine durchaus umfassende Bereinigung des atomaren Abschreckungssystems
vorgenommen worden ist, indem die instabilsten Systeme, die Systeme, die auch für die Betreiber oder Benutzer mehr Gefahr hervorgerufen als Sicherheit erzeugt haben, beseitigt werden. Das gilt für die Mehrfachsprengköpfe, das gilt für die gesamte maritime Atomrüstung, und das gilt für die atomaren Kurzstreckenwaffen, von denen wir immer sagten, sie tragen mindestens soviel Selbstgefährdung in sich wie Gefährdung für den potentiellen Gegner.
Der Wermutstropfen ist: Es wird nach wie vor an neuen atomaren Kurzstreckenwaffen gerüstet, die aus der Luft abgeschossen würden. Die Antwort auf die entsprechende Frage des Kollegen Gansel, wie denn die Bundesregierung dazu steht, ist ausgeblieben. Das ist bedauerlich für diese Debatte.
— Doch, die Frage ist sehr deutlich gestellt worden.
Bedauerlich ist — auch das gehört zu den Wermutstropfen — , daß von den Vereinigten Staaten von Amerika, bedingt auch von der Sowjetunion — da haben Sie recht mit Ihrem Zwischenruf, Herr Lamers; sie ist nicht mehr auf dem Stand, den ich mir wünschen würde, des Gorbatschow-Vorschlages von 1986
— das ist wieder eine Frage des Maßstabs —, und von den beiden anderen westlichen Atommächten, von der NATO insgesamt am Prinzip der Abschreckung festgehalten wird; und das ist kurzsichtig. Es stellt sich immer mehr die Frage: Abschreckung gegen wen eigentlich? Das Ost-West-Verhältnis ist nicht mehr der Maßstab. Die künftigen Begründungen der Aufrechterhaltung des atomaren Abschreckungssystems sind problematischer als die vorherigen. Die Begründung hat sich dahin gehend gewandelt, daß man sagt: Man braucht die atomaren Systeme als Abschreckungsmittel gegenüber Ländern oder Regionen, in denen es selber keine Atomwaffen gibt. Das heißt, aus einer Paritätsabschreckung wird eine Überlegenheitsabschreckung.
— Herr Kollege Irmer, ich bewerte etwas politisch mit meinen Worten. Die politische Bewertung ist, wie Sie wissen, immer etwas anders als die offizielle Beschönigung eines Zustandes.