Rede von
Dr.
Hans
Modrow
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(PDS/LL)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (PDS/LL)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Abrüstungsinitiativen der UdSSR und der USA bringen weitere Schritte auf dem Weg zu mehr Sicherheit und Stabilität.
— Die Reihenfolge stimmt nicht? Nun müssen Sie davon ausgehen, daß ich sozusagen meine Sicht zu einer bestimmten Reihenfolge habe.
— Warum soll ich die jetzt wegwerfen, Herr Lummer, wenn die Initiativen von Gorbatschow dieses Ausmaß, diese Größe und diese Bedeutung besitzen?
Vor allem die bedeutsame Aufhebung des ständigen Alarmzustandes der strategischen Offensivwaffen, mit denen permanent ein militärisches Tschernobyl und damit die Zerstörung der Welt drohte, kann nicht hoch genug bewertet werden. Lassen Sie uns aber dennoch präzise sein: Dieser Abbau von Waffensystemen, zumal von taktischen Kernwaffen, wurde von beiden Seiten schon lange Zeit gefordert und von diesen auch versprochen. Nach der inzwischen eingetretenen Entwicklung ist er längst überfällig; gewiß: besser spät als überhaupt nicht.
Von einem historischen Durchbruch sollte man nach meiner Meinung noch nicht reden. Die amerikanische Seite droht sogar mit Rücknahme ihrer Maßnahmen, während Gorbatschow die Vernichtung der atomaren Artilleriegranaten, der Minen und der Sprengkörper für atomare Kurzstreckenraketen und einen einjährigen Teststopp als endgültig ankündigt; aber bei den luftgestützten taktischen Atomwaffen ist auch er nicht sehr genau.
Es soll die Bedeutung der Schritte beider Präsidenten keineswegs schmälern. Wenn ich dazu auffordere, jetzt keine falsche Euphorie zu verbreiten und die Menschen über die Lage nicht im unklaren zu lassen. Zunächst wird im wesentlichen nur das abgerüstet, was veraltet ist und nicht mehr gebraucht wird. Es bleibt seitens der USA und der NATO bei der sogenannten Modernisierung luftgestützter Raketenwaffen, bei der Entwicklung von Raketenabwehrprogrammen, von ballistischen seegestützten Raketen, und es bleibt bei der atomaren Abschreckung, auch wenn sie künftig den irritierenden Beinamen „minimal" tragen soll. Auch „minimal" reicht zur Vernichtung aus! Es bleibt bei den bisherigen NATO-Planungen, wonach spätestens ab 1995 neue atomare Abstandsraketen und moderne Bomben eingeführt und
in der Mehrzahl auf deutschem Boden stationiert werden sollen. Mit Zustimmung der Bundesregierung wurde kürzlich im zuständigen NATO-Gremium der Beschluß gefaßt, in Ramstein und an anderen Standorten der alten Bundesländer dafür die entsprechenden unterirdischen Bunkerkammern zu errichten. Diese Waffen waren und sind aber gerade für uns Deutsche und für alle Europäer Grund zu besonderer Besorgnis.
Man kann nicht in Freude über sensationelle und historische Abrüstungsschritte sprechen und modernere Waffensysteme einführen wollen. Wenn es um eine größere Verantwortung deutscher Politik geht, dann müßte die Bundesregierung gerade in diesem Bereich andere Zeichen setzen: Sie müßte endlich alle Modernisierungs- und Umrüstungspläne der NATO ablehnen, die Entwicklung des Jägers 90 einstellen und die kostenaufwendige Umstrukturierung der Bundeswehr aufgeben. Sie müßte sich in der NATO für die Beseitigung aller taktischen Kernwaffen in Europa, auch der luftgestützten, einsetzen sowie für einen kernwaffenfreien Status der gesamten Bundesrepublik, wie er für die neuen Bundesländer im Zuge der deutschen Einheit festgeschrieben wurde, eintreten. Sie müßte endlich wirkungsvolle Schritte unternehmen, damit deutsche Konzerne nicht mehr ungehindert andere Länder aufrüsten können, darunter in hochexplosiven Krisenregionen, als hätte es den Golfkrieg nicht gegeben.
Mit neuem Denken und Handeln bleibt es völlig unvereinbar — ich glaube, auch für das Demokratieverständnis überhaupt —, wenn ohne Auftrag des Parlaments und im Widerspruch zur Verfassung vor den Vereinten Nationen bereits verkündet wird, Deutschland werde demnächst mit seinen Streitkräften auf internationaler Ebene auch aktiv werden. Es gilt also, nicht nur über Abrüstung zu reden, sondern für Abrüstung auch zu handeln.
Das ist es, was jetzt gefordert wird.