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ID1200600400

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    Plenarprotokoll 12/6 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 6. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 Inhalt: Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 95 A Rücknahme eines in der 5. Sitzung erteilten Ordnungsrufs 95 B Tagesordnungspunkt 1: Aussprache zur Erklärung der Bundesregierung Dr. Vogel SPD 95 B Dr. Dregger CDU/CSU 107 B Dr. Schmude SPD 112C Dr. Solms FDP 113 B Conradi SPD 116D Dr. Modrow PDS/Linke Liste 118B Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE . . . 121D Dr. Waigel, Bundesminister BMF . . . . 124 C Dr. Graf Lambsdorff FDP . . . . 126B, 168C Frau Matthäus-Maier SPD . . . . 129D, 154B Dr. Faltlhauser CDU/CSU 133B, C Genscher, Bundesminister AA 136B Gansel SPD 139C, 162C Dr. Graf Lambsdorff FDP 169A, 174B Dr. Biedenkopf, Ministerpräsident des Landes Sachsen 145 B Kühbacher, Minister des Landes Brandenburg 148B, 171C Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU . . . 150D Dr. Kohl, Bundeskanzler 152 C Dr. Krause (Börgerende) CDU/CSU 154A, 174B Möllemann, Bundesminister BMWi . . . 154 C Dr. Jens SPD 156C Gansel SPD 157B Rühe CDU/CSU 158D Genscher FDP 163A Möllemann FDP 163B, 166D Frau Lederer PDS/Linke Liste 163 C Roth SPD 165C, 169B Dr. Krause, Bundesminister BMV . . . 169B Dr. Ullmann Bündnis 90/GRÜNE . 172A, 177A Glos CDU/CSU 174C, 177B Walther SPD 176A, 180D Roth SPD 176D Dr. Briefs PDS/Linke Liste 177 C Dr. Weng (Gerlingen) FDP 178D Nitsch CDU/CSU 181 B Dr. Seifert PDS/Linke Liste 183 C Schäfer (Offenburg) SPD 184B Gibtner CDU/CSU 187B Baum FDP 188D Frau Braband PDS/Linke Liste 190D Dr. Töpfer, Bundesminister BMU . . . 191B Schäfer (Offenburg) SPD 193A Dr. Feige Bündnis 90/GRÜNE 193D Dr. Blüm, Bundesminister BMA 195C Dreßler SPD 198B II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 Cronenberg (Arnsberg) FDP 204 B Dreßler SPD 204C, 209A, 220C Dr. Schumann (Kroppenstedt) PDS/Linke Liste 206 C Frau Rönsch, Bundesminister BMFS . . 207 B Dr. Ullmann Bündnis 90/GRÜNE . . . 208A, B Frau von Renesse SPD 208B, C Schwarz CDU/CSU 209 D Frau Schenk Bündnis 90/GRÜNE . . . 210C Frau Dr. Merkel CDU/CSU 212 C Frau Dr. Höll PDS/Linke Liste 213A Frau Bläss PDS/Linke Liste 213A Frau Becker-Inglau SPD 214B Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Bundesminister BMBau 217B Reschke SPD 218B Conradi SPD 219A Scharrenbroich CDU/CSU 219D Dr. Ortleb, Bundesminister BMBW . . . 222D Kuhlwein SPD 223 C Nächste Sitzung 224 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 225* A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 95 6. Sitzung Bonn, den 31. Januar 1991 Beginn: 9.01 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Antretter SPD 31. 01. 91 * Bindig SPD 31. 01. 91 * Frau Blunck SPD 31. 01. 91 * Böhm (Melsungen) CDU/CSU 31. 01. 91 * Frau Brudlewsky CDU/CSU 31. 01. 91 Bühler (Bruchsal) CDU/CSU 31. 01. 91 * Buwitt CDU/CSU 31.01.91 Erler SPD 31.01.91 Frau Eymer CDU/CSU 31. 01. 91 Dr. Feldmann FDP 31. 01. 91 * Frau Fischer (Unna) CDU/CSU 31. 01. 91 * Francke (Hamburg) CDU/CSU 31. 01. 91 Gattermann FDP 31.01.91 Dr. Gysi PDS 31. 01. 91 Frau Dr. Hellwig CDU/CSU 31. 01. 91 Dr. Holtz SPD 31. 01. 91 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Kittelmann CDU/CSU 31. 01. 91 * Klinkert CDU/CSU 31.01.91 Dr. Köhler (Wolfsburg) CDU/CSU 31. 01. 91 Matschie SPD 31.01.91 Dr. Müller CDU/CSU 31. 01. 91 * Dr. Neuling CDU/CSU 31. 01. 91 Pfuhl SPD 31.01.91 Reddemann CDU/CSU 31. 01. 91 * Repnik CDU/CSU 31.01.91 Dr. Schäuble CDU/CSU 31. 01. 91 Dr. Scheer SPD 31. 01. 91 * Schmidbauer CDU/CSU 31.01.91 von Schmude CDU/CSU 31. 01. 91 * Frau Simm SPD 31. 01. 91 Dr. Soell SPD 31. 01. 91 * Dr. Sperling SPD 31. 01. 91 Spilker CDU/CSU 31.01.91 Steiner SPD 31. 01. 91 * Frau Wieczorek-Zeul SPD 31. 01. 91 Frau Wollenberger Bündnis 31. 01. 91 90/GRÜNE Wonneberger CDU/CSU 31.01.91 Zierer CDU/CSU 31. 01. 91 *
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    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Meine Damen und Herren, ich habe von der besonderen Situation gesprochen, in der diese Debatte stattfindet. Wenn es Ihnen hilft — ich will hier durchaus meinerseits einen Beitrag leisten —, dann sage ich: die Erhebung einer Steuer aus diesem Grund und in diesem Zusammenhang.

    (Bohl [CDU/CSU]: Akzeptiert!)




    Dr. Vogel
    Die Bewertung, ob der Ausdruck, den ich vorhin verwendet habe, die Sachlage trifft oder nicht, können wir dann den Menschen draußen überlassen. Ich sage das nur, damit wir hier zu einer Entspannung kommen.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich bitte jetzt um Aufmerksamkeit, weil ich einen Punkt behandeln will, in dem ich große, breite Übereinstimmung in diesem Hause feststelle. Dabei geht es um die Solidarität mit Israel. Die Regierung, die Koalition und die Opposition haben die Solidarität mit Israel vor wenigen Tagen in Jerusalem gegenüber dem israelischen Staatspräsidenten gemeinsam bekräftigt. Die Gerechtigkeit gebietet es übrigens, darauf hinzuweisen, daß zwei Mitglieder dieses Hauses, nämlich Konrad Weiß und Freimut Duve, dies schon einige Tage vorher an Ort und Stelle getan haben.

    (Klein [München] [CDU/CSU]: Und Herr Gauweiler!)

    — Ich spreche von den Mitgliedern dieses Hauses.
    Diese Solidarität hat ihre Wurzeln in dem dunklen Kapitel unserer Geschichte, an das zu erinnern wir gerade jetzt immer wieder Anlaß haben. Diese Solidarität ist jetzt in besonderem Maße gefordert, weil sich die Angriffe und Drohungen Saddams gegen ein Land richten, das sich selbst mit einer unglaublichen Disziplin an Kampfhandlungen nicht beteiligt und das Saddam deshalb existentiell bedrohen kann, weil Deutsche ihm dazu Hilfe geleistet haben — übrigens, wie wir seit wenigen Tagen wissen, nicht nur bei der Gasproduktion, sondern auch bei der Veränderung der Raketen, damit sie eine Reichweite von 800 km haben.
    In Anbetracht dieser besonderen, so nur im Fall Israels gegebenen Situation sind wir damit einverstanden, daß Israel auf sein Ersuchen hin aus den Beständen der Bundeswehr solche Geräte zur Verfügung gestellt werden, die wie die Partiot-Raketen geeignet sind, bemannte oder unbemannte Flugkörper zu zerstören, bevor diese ihrerseits tödliche Zerstörungen bewirken, oder die geeignet sind, Giftgas aufzuspüren. Auf die Lieferung von U-Booten kann sich allerdings aus den dargelegten Gründen unsere Zustimmung nicht erstrecken.
    Die Solidarität, von der ich spreche, schließt Meinungsverschiedenheiten — etwa in der PalästinenserFrage oder in der Frage einer internationalen Konferenz — nicht aus. Sie schließt aber aus, daß die Bundesregierung ihren bisherigen Kurs in der Frage der Rüstungsexporte und der Behandlung von Verstößen gegen die Exportverbote fortsetzt.

    (Beifall bei der SPD — Gerster [Mainz] [CDU/ CSU]: Wie war das mit Wischnewski?)

    Es ist leider die Wahrheit, wenn ich feststelle: Die Bundesregierung und die Koalition haben auf diesem Gebiet bisher Falsches getan und Notwendiges unterlassen.

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Wie war das denn bei Ihnen, Herr Justizminister Vogel?)

    Sie haben unsere immer wieder erneuten Vorstöße
    und Vorschläge Mal für Mal abgelehnt und — ich
    bedauere, das sagen zu müssen — unseren Kollegen
    Gansel, der für uns unermüdlich auf die schlimmen Folgen dieser Haltung hingewiesen hat, sogar persönlich diffamiert.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Nicht wenigen Repräsentanten der Koalition lag es in diesem Zusammenhang offenbar mehr am Herzen, die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung und die Freiheit des Handels gegen, wie es immer wieder hieß, nicht akzeptable Einschränkungen zu verteidigen, als dem Geschäft mit dem Tod einen wirksamen Riegel vorzuschieben.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Manch einer wäre heute wahrscheinlich froh, wenn das, was er dazu früher gesagt hat, aus den Protokollen gelöscht und getilgt wäre. Wollen Sie denn bestreiten, — —

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Jetzt sagen Sie mal was zu Wischnewski!)

    — Auch Sie, Herr Zwischenrufer! (Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Gerster!)

    — Das ist der Herr, der sich nicht in die Regierung abschieben lassen wollte, wie ich heute gelesen habe. Ja, Herr Gerster!

    (Heiterkeit bei der SPD)

    Wollen Sie denn bestreiten, daß im Fall Rabta erst amerikanischer Druck und der Aufstand der öffentlichen Meinung zu Reaktionen geführt haben? Wollen Sie bestreiten, daß die Vorlage, die Ihre Regierung nach Rabta eingebracht hat, in der zweiten und dritten Lesung an wesentlichen Stellen verbessert worden ist? Ist es nicht die Wahrheit, daß erst im Bundesrat die sozialdemokratisch geführten Länder, die damals über eine Mehrheit verfügten, wenigstens einen Teil der Verschärfungen, die die Bundesregierung unter dem Eindruck von Rabta der amerikanischen Regierung versprochen hatte, wiederhergestellt haben?

    (Beifall bei der SPD)

    Außerdem — ich sage das ganz ruhig, um dadurch die Bedeutung zu unterstreichen — : Die Meldung, daß noch 1989 die Ausfuhr von Raketenteilen in den Irak bewilligt und zum Teil sogar mit Hermes-Bürgschaften abgesichert wurde, ist ja inzwischen sogar vom Bundeswirtschaftsministerium im wesentlichen bestätigt worden.

    (Opel [SPD]: Das war alles illegal!)

    Die Tragweite dieses Vorgangs bedeutet, daß, jedenfalls — ich drücke mich vorsichtig aus — unter Befassung von Bundesbehörden, deutsche Firmen sogar noch mit Hermes-Bürgschaften daran mitgewirkt haben, die Reichweite dieser Raketen — darum geht es nämlich — so zu verlängern, daß sie Israel erreichen können. Diese Tragweite ist uns allen noch nicht vollständig bewußt.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Dregger [CDU/ CSU]: Dazu wird der Bundeswirtschaftsminister Stellung nehmen!)




    Dr. Vogel
    Inzwischen ist offenbar ein Sinneswandel eingetreten. Aber es genügt nicht, wenn jetzt alle unserer Forderung zustimmen, die Exporteure des Todes, insbesondere diejenigen, die Gas, Israelis, also Juden, und Deutsche wieder in einen furchtbaren Zusammenhang gebracht haben, wie Schwerverbrecher zu behandeln. Es muß in kürzester Zeit entschieden werden. Der Antrag, den wir vorgelegt haben, gibt dazu schon morgen erneut Gelegenheit. Die notwendigen Gesetzesbeschlüsse müssen sofort folgen.
    Als einer, der damals Justizminister war, sage ich: Wenn es möglich war — ich stehe bei aller Skepsis nach wie vor dazu — , ein Kontaktsperregesetz innerhalb einer Woche durch die Gesetzgebungsorgane zu bringen, dann muß es möglich sein, auf diesem Gebiet in einer vergleichbar kurzen Zeit zu einer Entscheidung zu kommen.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie des Abg. Dr. Dregger [CDU/ CSU])

    Die bestürzende Äußerung des Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, daß es sich bei diesen Exporten — ich zitiere jetzt wörtlich — um ganz normale Geschäfte gehandelt habe, zeigt, wie skandalös unzulänglich das geltende, von der Mehrheit zu verantwortende Recht ist. Ich hoffe im übrigen zugunsten des genannten Präsidenten, daß er sich der Tragweite dessen, was er für normal erklärt, bei dieser Äußerung nicht bewußt war.

    (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

    Ich verstehe, daß die Verwicklung deutscher Firmen in solche Geschäfte auch im Ausland kritisiert wird. Wir sind die letzten, die die Berechtigung solcher Kritik bestreiten, insbesondere wenn sie von Israel geübt wird. Diese Kritik unserer ausländischen Freunde wäre — das füge ich hinzu — allerdings noch überzeugender, wenn unsere Freunde und Verbündeten auch ihre eigene Politik auf diesem Gebiet einer sorgfältigen Prüfung unterziehen würden;

    (Beifall bei der SPD)

    denn Saddams Waffen stammen nun wahrlich nicht nur aus der Bundesrepublik. Mancher Soldat am Golf wird sich seine eigenen Gedanken darüber machen, daß er mit Waffen bekämpft und bedroht wird, die aus seinem eigenen Land geliefert wurden. Wahrscheinlich wäre es gut, jetzt diese Erkenntnis und das starke Engagement der Öffentlichkeit zu nutzen, daß dieser ganze Komplex nach Ende des Krieges zum Gegenstand einer internationalen Untersuchung und einer internationalen Aktivität gemacht wird.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP)

    Ich kann jedenfalls zwischen dem internationalen Drogenhandel, der ja mit zunehmender Entschiedenheit bekämpft wird, und dem internationalen Waffenhandel keinen Unterschied erkennen,

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP)

    höchstens den, daß der Waffenhandel noch gefährlicher ist als der Drogenhandel.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

    Herr Bundeskanzler, Sie haben sich in Ihrer Regierungserklärung mit der Friedensbewegung beschäftigt. Ich sage freimütig: Mir hat auch nicht alles gefallen, was in den letzten Wochen von Anhängern der Friedensbewegung gesagt oder geschrieben worden ist. Auch die Frage, warum wir alle — nicht nur die Friedensbewegung — nicht schon bei früheren Gelegenheiten protestiert haben, kann man gewiß nicht einfach beiseite schieben. Aber es ist nicht fair, die Frage, warum z. B. gegen den iranisch-irakischen Krieg, bei dem eine Million Menschen, darunter viele Kinder, ums Leben gekommen sind, nicht lauthals protestiert wurde, nur an die Friedensbewegung zu richten;

    (Beifall bei der SPD)

    die müssen wir an alle, auch an Sie, auch an uns, richten.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie des Abg. Dr. Geißler [CDU/ CSU])

    Was diese kritischen Bemerkungen angeht, so stimme ich ausdrücklich der Kritik des Kollegen Konrad Weiß aus der Friedensbewegung zu. Auch Joschka Fischer hat sich in ähnlicher Weise geäußert.

    (Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Gysi auch!)

    Die generellen Verurteilungen, die in den letzten Tagen zu hören waren und denen Sie sich, wenn ich es richtig verstanden habe, in der Regierungserklärung gestern leider angeschlossen haben, und insbesondere die Kritik an der Demonstration am letzten Samstag hier in Bonn muß ich für die deutsche Sozialdemokratie jedoch entschieden zurückweisen.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Modrow [PDS/Linke Liste])

    Man kann ja alles das, was diese Menschen sagen, für falsch halten. Aber wer Krieg für etwas Furchtbares hält und ihn für seine Person nicht mehr als Mittel der Politik akzeptiert, wer dafür eintritt, daß an die Stelle eines schlimmen Übels nicht ein noch schlimmeres gesetzt wird, der ist weder ein Feind Israels noch ein Feind Amerikas,

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das hat doch keiner behauptet!)

    sondern einer, der seine respektable Meinung zur Kenntnis bringt;

    (Beifall bei der SPD)

    der spricht aus — ich glaube, auch die, die anderer Meinung sind, müssen das zur Kenntnis nehmen —, was viele Menschen bewegt.
    Weil von der Sorge um das deutsche Ansehen die Rede war, sage ich: Das deutsche Ansehen ist durch die Giftgas- und Waffenlieferanten und durch die beschädigt worden, die ihnen nicht rechtzeitig das Handwerk gelegt haben, nicht aber durch junge Men-



    Dr. Vogel
    schen, die auf ihre Weise dem Frieden zu dienen versuchen.

    (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)

    Das sage ich auch gegenüber ausländischen Kritikern bei allem Verständnis für rasche Bewegungen in den letzten Tagen.
    Auch unsere ausländischen Freunde müssen sich daran erinnern lassen, daß sie zum Teil noch vor wenigen Monaten im Zusammenhang mit der deutschen Einigung davor gewarnt haben, daß hier wieder eine — wie soll ich mich ausdrücken? — sehr militante, dem Krieg zugeneigte Stimmung entstehen könnte. Unsere ausländischen Freunde müssen uns sagen, was sie eigentlich kritisieren wollen. Ich bitte unsere ausländischen Freunde, auf der Grundlage unserer Geschichte zu verstehen, daß sie vor Deutschen, die sich — wenn mitunter auch mit falschen Parolen — für den Frieden äußern, weniger Sorge zu haben brauchen als vor dem, was in der Vergangenheit schon einmal war.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Vielleicht kann das die Oppositon — es gibt ja auch in anderen Ländern ein Zusammenwirken — noch deutlicher aussprechen, als es anderen möglich ist; das wäre auch eine sinnvolle Aufgabenverteilung.
    Jetzt noch ein Wort zum deutsch-amerikanischen Verhältnis. Wir fühlen uns dem amerikanischen Volk freundschaftlich verbunden.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Lafontaine aber nicht!)

    Wir haben nicht vergessen

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wir auch nicht!)

    — Sie haben leider zuviel vergessen; ich habe Ihnen gerade im Zusammenhang mit dem Waffenexport ein Kapitel vorgetragen —,

    (Beifall bei der SPD)

    was Amerika zusammen mit anderen getan hat, um uns und Europa von der Gewaltherrschaft Hitlers zu befreien. Wir haben auch nicht vergessen, wie uns nach dem Krieg geholfen wurde.
    Wir bejahen das Bündnis. Es bedrückt uns, daß amerikanische Soldaten und Soldaten anderer Nationen ihr Leben auch deswegen einsetzen und verlieren, weil der Diktator über ein Potential gebietet, das ihm ohne Mithilfe von Deutschen so nicht zur Verfügung stünde.
    Uns steht auch klar vor Augen, welche Last gerade die Vereinigten Staaten auf sich genommen haben. Aber unsere Verbündeten wußten und wissen, wo nach unserer Verfassung die Grenzen unserer Beteiligung an UNO-Maßnahmen liegen. Und niemand hat das Recht, denen Antiamerikanismus vorzuwerfen, die Argumente verwenden und Ansichten äußern, die auch in Amerika — selbst bis in den Kongreß hinein;
    Paul Nitze habe ich zitiert — tagtäglich geäußert werden.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Zu den Vorgängen im Baltikum hat sich der Bundestag am 14. Januar 1991 in einer nahezu einstimmigen Entschließung geäußert. Ich bekräftige die dort ausgesprochene Verurteilung militärischer Gewaltanwendung, und ich wiederhole den Appell an alle Verantwortlichen, die Konflikte durch friedliche Verhandlungen zu lösen. Niemand könnte es verantworten, wenn es im Baltikum zu weiterem Blutvergießen käme. Ich füge übrigens in Parenthese hinzu: Unser Blick richtet sich nur auf das Baltikum. Es gibt aber auch andere Republiken im Süden der Sowjetunion, wo sich ähnliche Entwicklungen vollziehen.
    Ich sage noch einmal: Niemand könnte es verantworten, wenn es im Baltikum zu weiterem Blutvergießen käme, die Sowjetunion auf die alten Formen der Machtausübung zurückgeworfen würde und Europa in die Zeiten der Konfrontation zurückfiele.
    Michail Gorbatschow weiß — da stimme ich dem Bundeskanzler zu — , daß dabei alles auf dem Spiel steht, was er bisher bewirkt hat. Ich glaube nach wie vor nicht, daß dieser Mann sein eigenes Werk zerstören will. Wir — und nicht nur wir — sollten alles tun, um Gorbatschow zu helfen, damit er stark genug bleibt, um andere an solchen zerstörerischen Aktivitäten zu hindern. Der Teilabzug sowjetischer Truppen aus dem Baltikum, von dem gestern und heute als Folge des Treffens in Washington berichtet wird, ist immerhin ein Zeichen der Ermutigung.
    Ihren Darlegungen zur weiteren Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft, zu unserem Verhältnis gegenüber den osteuropäischen Ländern und zur Nord-Süd-Problematik können wir in einer ganzen Reihe von Punkten zustimmen. In der Tat ist unsere Verantwortung, die Verantwortung der Bundesrepublik, auf diesen Gebieten durch die Ereignisse der letzten Jahre noch größer geworden. Wir werden allerdings sorgfältig darauf achten — das ist unsere Aufgabe als Opposition — , daß den Worten und den Ankündigungen jeweils auch die Konsequenzen, die Taten folgen.
    Am Anfang jeder neuen Legislaturperiode stehen Koalitionsverhandlungen und die Regierungsbildung. Die Koalitionsverhandlungen — das ist mir von Teilnehmern bestätigt worden — waren quälend.

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Namen nennen! — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Na! Na!)

    — Sie waren nicht dabei. Sie kann ich ausnahmsweise nicht nennen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

    Nachdem er dabei war, hat er gesagt, er wolle nicht Parlamentarischer Staatssekretär werden. Da will er nicht reingehen. Das hat er gesagt.

    (Kraus [CDU/CSU]: Ungeheuer beeindrukkend!)

    Die Koalitionsverhandlungen — ich muß es wiederholen — waren quälend und in der Beliebigkeit, mit der immer neue Vorschläge präsentiert und auch



    Dr. Vogel
    — ich muß es leider so nennen — Schaukämpfe aufgeführt worden sind, keine Werbeveranstaltung. Und das vor allem vor dem Hintergrund der bedrohlichen Entwicklung am Golf und im Baltikum. Der Eindruck, jedenfalls Teilen der Koalitionsparteien seien parteipolitische Streitereien auch in dieser Zeit wichtiger als die Befassung mit Krisen, die der Welt den Atem verschlugen, wird Ihnen noch einige Zeit anhaften.
    Inzwischen gehen diese Streitigkeiten aber offenbar munter weiter. Die Art und Weise, in der das offizielle Organ der Christlich-Sozialen Union gestern über Herrn Genscher hergefallen ist, läßt für die Zukunft noch einiges erwarten. Ich verhehle nicht
    — auch wenn es da und dort Stirnrunzeln verursachen sollte — , auf welcher Seite in dieser Auseinandersetzung meine persönlichen Sympathien liegen.

    (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ CSU)

    Ich füge nun mit einem etwas größeren Ernst hinzu, meine Damen und Herren: Mir ist wohler, daß in dieser Situation ein Mann Außenminister ist, der von der Seite in der Weise angegriffen wird, als wenn dort ein Mann militanter Auffassungen zwar den Beifall des „Bayernkurier", aber nicht den hier im Hause hätte.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Die Regierung, die Sie, Herr Bundeskanzler, soeben gebildet haben, zeichnet sich — das wird Sie selbst nicht überraschen — eher durch Quantität aus. Sie zählt insgesamt 19 Mitglieder und bis zur Stunde
    — wir kommen mit dem Zählen gar nicht so schnell nach — insgesamt 58 Parlamentarische und beamtete Staatssekretäre. Nach den jüngsten Wasserstandsmeldungen sind es also 77 Regierungspersonen. Diese Aufblähung und wunderbare Vermehrung verursacht einen Mehraufwand in zweistelliger Millionenhöhe, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem Sie von der Notwendigkeit von Einsparungen an anderer Stelle und sogar von Steuererhöhungen reden.
    Als ärgerlich empfinden es viele auch, daß die Präsenz der Frauen im Kabinett nur durch einen Trick verstärkt worden ist, nämlich durch die Dreiteilung eines Ressorts, dessen Zuständigkeiten schon bisher eher kärglich waren.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Wenn gerade die Frauen in dieser Dreiteilung einer „Lehr-Einheit" eine Geringschätzung sehen

    (Heiterkeit bei der SPD)

    und fragen, ob so etwas auch mit Männern gemacht worden wäre, dann kann ich das gut verstehen.

    (Beifall bei der SPD)

    Von den personellen Entscheidungen — auch dies zu würdigen ist die Pflicht der Opposition — sind sicherlich die Berufung des Herrn Kollegen Möllemann zum Wirtschaftsminister und seine Betrauung mit der Bekämpfung des Rüstungsexports die originellste Entscheidung.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE)

    In diesem Punkt stimme ich nun wieder dem „Bayernkurier" zu.
    Hinsichtlich der Qualifikation des Herrn Möllemann verweise ich auf die Bekundung eines sachverständigen Zeugen, der heute leider nicht anwesend ist, aber auf den ich mich gelegentlich berufen kann, nämlich die des Grafen Lambsdorff.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Sie waren doch auch Lehrer und dann Justizminister! Was soll denn das?)

    — Ich muß sagen: Ihre geistigen Anstrengungen überschreiten heute morgen wirklich das bisher Gewohnte. —

    (Beifall bei der SPD)

    Der sachverständige Zeuge Graf Lambsdorff hat nämlich im Zusammenhang mit dieser Personalentscheidung, als er sie noch bekämpfte, — —

    (Heiterkeit bei der SPD)

    — Beim Grafen ändert sich das ja manchmal. Wenn er Rechtsauskünfte bekommt, dann ändert sich das ja auch gelegentlich.
    Als er sie noch bekämpfte, hat er der Öffentlichkeit mitgeteilt — das Zitat steht hier zur Abholung gerne zur Verfügung — , daß bei ihm, also dem Grafen, vor allem von seiten kleiner und mittlerer Unternehmen massenhaft Protest eingegangen sei und die Frage aufgeworfen worden sei: Ist die FDP verrückt geworden? Offenbar hat der Graf keinen Grund gesehen, diese Frage zu verneinen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    In die weitere Entwicklung dieser vom Grafen aufgeworfenen Frage mischen wir uns nicht ein; aber zitieren dürfen wir sie.
    Originell ist auch, Herr Bundeskanzler, die Berufung des Herrn Kollegen Spranger zum Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit.

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Jetzt gehen Sie aber zu weit!)

    — Nein, ich gehe nur bis ins protestantische Franken, Herr Bötsch. — Welche Überlegungen zu dieser Berufung geführt haben, wird Ihr Geheimnis bleiben. Ich bin im Zweifel, ob die Länder der Dritten Welt diese Ernennung als Beweis dafür ansehen, daß der NordSüd-Problematik besondere Bedeutung beigemessen wird.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Meine Damen und Herren, gefreut haben wir uns ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten darüber, daß Herr Kollege Schäuble sein Amt fortführt.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Das setzt ein beachtliches Beispiel und wird viele, die
    sich in vergleichbaren Situationen befinden, ermuti-



    Dr. Vogel
    gen, diesem Beispiel zu folgen und nicht aufzugeben.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und beim Bündnis 90/GRÜNE)

    Zum innenpolitischen Teil der Regierungserklärung werden sich meine Kollegen und Kolleginnen im einzelnen äußern. Ich konzentriere mich auf vier Punkte: erstens auf die Art und Weise Ihres Umgangs mit den Versprechen, die vor der Bundestagswahl gemacht wurden, zweitens auf das Fehlen eines schlüssigen Konzepts für die gesellschaftliche Einigung Deutschlands, die jetzt der staatlichen Einigung folgen muß, drittens auf die Frage nach der ökologischen Erneuerung unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft und viertens auf die Frage nach dem, was in den nächsten vier Jahren geschehen muß, um das tägliche Wohlergehen der Menschen zu sichern, die uns ja gerade auch deshalb gewählt haben.
    Vor der Wahl — ich kann das nicht ausklammern — haben Sie den Menschen in den neuen Bundesländern gesagt, es werde niemandem schlechtergehen als zuvor; Sie selber kennen das Zitat. Den Wählerinnen und Wählern in den alten Bundesländern haben Sie gesagt — wörtliches Zitat — : „Keiner wird wegen der Vereinigung Deutschlands auf etwas verzichten müssen."

    (Austermann [CDU/CSU]: Nein, weniger haben!)

    — Entschuldigung, vielleicht können Sie sich nachher das Zitat in Fotokopie von mir geben lassen. Aber ich lese es Ihnen auf Grund Ihres Zwischenrufes auch gerne noch einmal vor.

    (Hornung [CDU/CSU]: Wer hat denn heute schon verzichtet? Niemand!)

    Das Zitat steht im Bulletin der Bundesregierung — das ist sicherlich keine Fehlmeldung — :
    Und für die Menschen der Bundesrepublik gilt: Keiner wird wegen der Vereinigung Deutschlands auf etwas verzichten müssen.

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das stimmt doch! Wer hat denn bisher verzichtet?)

    — Würden Sie vielleicht etwas Geduld haben?

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sie haben bei der Wahl auf Stimmen verzichtet! Das ist alles!)

    Graf Lambsdorff hat für seine Partei das gleiche erzählt. Er hat sogar vor wenigen Tagen, am 13. Januar, diesmal kurz vor der Wahl in Hessen, noch einmal wörtlich beteuert:
    Es bleibt dabei, daß Steuererhöhungen zur Finanzierung der deutschen Einheit nicht notwendig sind.

    (Beifall bei der FDP)

    In aller Ruhe sage ich: Das war nicht redlich. Sie haben diese Versprechen ja auch nicht halten können; Sie haben sie gebrochen.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP — Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wo denn?)

    — Hören Sie doch in Ruhe zu; es kommt ja alles.

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sagen Sie einmal, wo! Einen Satz darüber, wo!)

    — Entschuldigung, Herr Gerster, ich bitte, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich meine Rede so halte, wie es mir paßt, und nicht so, wie es Ihnen paßt.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie haben sich mit allerlei Spitzfindigkeiten und Wortklaubereien über den angeblichen Unterschied zwischen Steuern, Abgaben und Gebühren oder die Gründe für die Steuererhöhungen herauszureden versucht.

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Es gibt doch Unterschiede!)

    Wie wäre es eigentlich gewesen, wenn Sie vor der Wahl im Herbst folgendes gesagt hätten: Wir sind dankbar, daß die staatliche Einheit gelungen ist und die Zustimmung unserer Nachbarn, Verbündeten und Partner gefunden hat. Aber — so hätte man fortfahren können — ihre gesellschaftliche Vollendung wird noch große Anstrengungen erfordern.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Hat er doch gesagt! — Logisch!)

    Jede und jeder in der ehemaligen DDR wird den Übergang von dem bisherigen System und seiner schlimmen Hinterlassenschaft zur neuen Ordnung spüren, und vielen wird zunächst an Umstellung und an Veränderung der Lebensgewohnheiten sowie an existentiellen Unsicherheiten eine ganze Menge zugemutet werden, bevor es dann wirklich aufwärtsgeht.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Was hat denn der Oskar gesagt?)

    Die Menschen in den alten Bundesländern — so hätte man weiter sagen können — werden Verzichte leisten müssen; denn die Teilung kann nun einmal nur durch Teilen überwunden werden. Dafür — so hätte man fortfahren können — sind große Summen erforderlich. Wir werden sie in sozial gerechter Weise nicht nur durch Einsparungen, sondern auch durch Steuererhöhungen aufbringen. Zu diesem Zweck wird zunächst die im Grundgesetz vorgesehene Ergänzungsabgabe erhoben.

    (Beifall bei der SPD)

    Das haben wir gesagt. Sie haben das nicht gesagt. Sie haben uns und vor allem Oskar Lafontaine deswegen kritisiert.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sie doch auch!)

    Sie haben die Größe der Aufgabe beschönigt. Ich glaube, das war ein kardinaler Fehler. Denn die Geschichte zeigt: Die solidarischen Kräfte eines Volkes weckt man nicht, indem man die Lage verschleiert. Man weckt die Kräfte zu gemeinsamer Anstrengung, indem man den Menschen die Wahrheit sagt und sie dann an der Anstrengung teilnehmen läßt.

    (Beifall bei der SPD)

    Jetzt hat Sie die Wirklichkeit eingeholt. Die Menschen in den neuen Bundesländern sind desillusioniert. Schlimme Parolen, die unter die Menschen gebracht werden, finden leider nicht sofort und hundertprozentig Ablehnung. Vor allem die Arbeitslosigkeit



    Dr. Vogel
    bedrückt sie. Unter Einschluß der Kurzarbeit sind jetzt schon fast 2,5 Millionen Männer und Frauen in den neuen Bundesländern davon betroffen. Und wir alle wissen: Wenn am 31. März 1991 die Übergangszahlungen für diejenigen auslaufen, die in großer Zahl aus dem öffentlichen Dienst ausscheiden mußten — das geben wir zu — , dann wird die Arbeitslosigkeit noch einmal steigen.
    Die Defizite der neuen Bundesländer und ihrer Gemeinden sind von Ihnen stets zu niedrig angesetzt worden. Ich erinnere mich an die Gespräche von damals, als es um den Einigungsvertrag ging. Herr Kollege Waigel, als Walter Romberg, der sozialdemokratische Finanzminister der damaligen DDR, die Defizite im Sommer 1990 mit rund 90 Milliarden DM bezifferte, haben Sie ihn als Defätist bezeichnet und seine Ablösung gefordert. Heute sprechen Sie selber schon von 115 Milliarden DM. Das ist aber immer noch zuwenig. Sonst würden doch die Ministerpräsidenten von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, die Herren Biedenkopf und Gomolka, und der anderen Bundesländer nicht fast täglich vor der unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit ihrer Länder und Gemeinden warnen.
    Herr Romberg hat sehr viel mehr Recht gehabt als Sie, und Sie haben seine Ablösung gefordert. Ich will diese gedankliche Logik nicht weiterführen, weil ich nicht für solche Forderungen bin.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Aber das, was Sie heute sagen, Herr Waigel, wird doch von den Herren Biedenkopf, Gomolka, Kühbacher, Stolpe usw. als weit hinter der Wirklichkeit zurückbleibend beschrieben.
    Inzwischen sind Sie übrigens natürlich auch dabei, die Steuern zu erhöhen — ich meine nicht die gestrige Erklärung, sondern die von vorher — , und zwar — das beklagen wir zusätzlich — unter Mißachtung der Gebote der sozialen Gerechtigkeit. Was ist denn die Verteuerung des Telefonierens anderes als eine Telefonsteuer,

    (Beifall bei der SPD)

    die vor allem Menschen trifft, die auf das Telefonieren angewiesen sind, weil sie sonst vereinsamen? Herr Schwarz-Schilling hat doch mit jeder wünschenswerten Deutlichkeit gesagt, daß er das Geld nicht für die Zwecke der Post braucht, etwa dafür — was wir befürworten würden — , um in den neuen Bundesländern noch rascher bessere Leitungen zu bauen, sondern weil ihm höhere Ablieferungen auferlegt worden sind. Man kann darüber streiten wie ein Advokat, aber das ist eine Telefonsteuer. Sie sollten das zugeben.

    (Beifall bei der SPD)

    Das ist nun eine der Erläuterungen, die Herr Gerster haben wollte.

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Aber mangelhaft!)

    Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung werden um rund 60 % erhöht. Dies ist die reale Steigerung. Es ist immer ein bißchen täuschend, wenn von 2,5 Prozentpunkten die Rede ist. Die Beiträge werden um 60 % erhöht. Das ist im Ergebnis, in der Wirkung eine Steuer. Denn die Milderung und Überwindung der Arbeitslosigkeit, die sich aus der notwendigen Aufarbeitung der schrecklichen Hinterlassenschaft und der Umstellung ergibt, ist eine Gemeinschaftsaufgabe, die uns alle angeht und die deshalb von uns allen, von unserem Gemeinwesen insgesamt finanziert werden müßte. Sie ziehen allein die Arbeitnehmer und ihre Arbeitgeber heran. Warum eigentlich? Warum bleiben denn alle übrigen, etwa die Selbständigen, die Beamten oder die Besitzer großer Vermögen, verschont?

    (Beifall bei der SPD)

    Wo bleiben diesmal die Krokodilstränen, die Graf Lambsdorff sonst immer vergießt, wenn von der Erhöhung der Lohnnebenkosten die Rede ist?
    Gestern sind Sie einen Schritt weitergegangen und haben selbst erklärt, Herr Bundeskanzler, daß Sie die Steuern erhöhen wollen. Sie sagen, diese Steuererhöhungen seien jetzt wegen des Golfkrieges notwendig geworden.

    (Hornung [CDU/CSU]: Stimmt das denn nicht?)

    Herr Bundeskanzler, ich drücke mich vorsichtig aus: Ich sehe darin eine Fortsetzung der Vernebelung.

    (Hornung [CDU/CSU]: Billiger geht es wirklich nicht mehr!)

    Sie wissen doch genauso gut wie wir, daß der Finanzbedarf zur Vollendung der deutschen Einheit den in- folge des Golfkrieges um ein Vielfaches übertrifft. Da ist es doch geradezu peinlich, daß nun der Golfkrieg als eine Art Ausrede herhalten soll.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Die Wählerinnen und Wähler sind nicht mit der Wahrheit bedient worden.

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Na! Na! Langsam!)

    Nach dem 2. Dezember 1990 ist das Gegenteil von dem geschehen, was Sie vorher versprochen haben. Das Wahlergebnis in Hessen — keiner weiß das besser als Kollege Dregger — war dafür eine erste Quittung.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU)

    — Sie meinen, Herr Wallmann war schuld an dem Wahlergebnis? Ich bin eher anderer Meinung. Ich kann mich täuschen. Ich bin sicher: Weitere Quittungen werden folgen. Übrigens spricht vieles dafür, daß der starke Rückgang der Wahlbeteiligung und die Verdrossenheit auch hier ihre Wurzel haben könnte.

    (Beifall bei der SPD)

    Was ich soeben ausgeführt habe, zeigt, daß die Koalition kein schlüssiges Konzept für die Vollendung des deutschen Einigungsprozesses besitzt. Unklar ist aber nicht nur die Finanzierung dieses Prozesses. Ebenso unklar ist auch nach Ihrer gestrigen Regierungserklärung, was nun konkret geschehen soll. Der



    Dr. Vogel
    Eindruck ist, daß die Hilferufe aus den neuen Bundesländern und gerade auch Ihrer Parteifreunde verhallen und daß die Menschen in den neuen Bundesländern den Eindruck gewinnen, zu vieles bliebe offen und in zu vielem blieben sie sich selbst überlassen. Unser Konzept versucht klare und realistische Antworten. Ich will die wichtigsten Elemente vortragen.
    Erstens: bessere finanzielle Ausstattung der neuen Bundesländer und Gemeinden. Wir halten das für eine Kernfrage.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Herr Waigel, in aller Ruhe: Wir haben die 70 Milliarden DM, die Sie — zugegebenermaßen in einer schwierigen Situation — errechnet haben, schon damals für absolut unzureichend gehalten. Deswegen sagen wir: bessere Ausstattung. Wo finden Sie denn eine Opposition, die sagt, zu diesem Zweck ist sie bereit, der Erhebung der Ergänzungsabgabe zuzustimmen und sozial gerecht Steuererhöhungen mitzutragen?

    (Beifall bei der SPD — Dr. Rüttgers [CDU/ CSU]: Ladenhüter!)

    Aber dazu bedarf es auch des Verzichts auf Steuersenkungen. Herr Bundeskanzler, die geplante Aufhebung — Sie haben diesen Punkt gestern übergangen, aber so steht es in den Koalitionsvereinbarungen — der Vermögensteuer und der Gewerbekapitalsteuer auch in den alten Bundesländern mit einem Volumen von 6 bis 8 Milliarden DM im Jahr ist in Anbetracht dieses Finanzbedarfes und der angekündigten Steuererhöhungen geradezu absurd. Es darf doch nicht Steuererhöhungen geben, damit jetzt die Vermögensteuer oder die Gewerbekapitalsteuer wegfallen kann.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Es mag auf der Bundesratsbank mit gemischten Gefühlen gehört werden, aber ich sage für die Opposition ausdrücklich: Neben dem Bund müssen sich auch die alten Bundesländer stärker engagieren,

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    und zwar die A-, B-, C- und D-Länder. Das ist keine parteipolitische Frage.

    (Hornung [CDU/CSU]: Dazu können Sie einen guten Beitrag leisten! — Zuruf von der CDU/CSU: Vielleicht erst für Salzgitter nachzahlen!)

    Meine Damen und Herren, ich habe immer gedacht, Sie haben die äußerste Höhe Ihrer geistigen Möglichkeiten schon erreicht. Aber es geht immer noch höher.

    (Zustimmung bei der SPD — Dr. Dregger [CDU/CSU]: Diese Arroganz!)

    — Bei mir sind Zwischenrufe erlaubt. Nur zu!

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Warum reagieren Sie dann so sauer? — Dr. Dregger [CDU/CSU]: Mein Gott, dieses Gesicht!)

    — Lieber Kollege Dregger, ich bin mit meinen inzwischen höheren Jahren gerne für mein Gesicht verantwortlich.

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das ist traurig!)

    Ich finde es nicht sehr hilfreich, daß wir uns gegenseitig unsere Gesichter vorhalten. Mir würde zu manchem Gesicht hier auch eine Menge einfallen.

    (Beifall bei der SPD)

    Der besonderen Situation Berlins muß bei all dem Rechnung getragen werden. Alle Probleme des Zusammenwachsens treten hier in geradezu exemplarischer Weise auf. Deshalb braucht Berlin in der nächsten Zeit, was das Volumen angeht, eher mehr als weniger Hilfe. Die Zielrichtung dieser Hilfe muß sich allerdings den veränderten Verhältnissen anpassen.
    Ich glaube, es ist gut, daß Sie, Herr Bundeskanzler, die Frage des Regierungssitzes und Parlamentssitzes nicht angesprochen haben. Ich will Ihrem Beispiel folgen. Aber ich glaube, eine sich anbahnende Verständigung darüber feststellen zu können — und darum will ich das aussprechen — , daß die Entscheidung bis zur Sommerpause getroffen und nicht auf unabsehbare Zeit weiter hinausgeschoben werden sollte. Darauf haben beide Städte einen Anspruch.

    (Beifall bei der SPD)

    Zweitens. Spätestens sobald das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, müssen die bodenrechtlichen Regelungen des Einheitsvertrages präzisiert und die Verfahren gestrafft werden. Es ist unerträglich, daß Rückgabeansprüche den wirtschaftlichen Aufschwung auf Jahre verzögern können und ihn schon jetzt verzögern.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Auch da wird mit falschen Alternativen gearbeitet: Die einen seien für das Recht, und die anderen verteidigten das Unrecht, das die SED und die damals Regierenden zu verantworten hätten. Das ist nicht wahr; es geht um eine Abwägung. Die Abwägung muß in all den Fällen, in denen der wirtschaftliche Aufschwung betroffen ist, dazu führen, daß Entschädigung an die Stelle der Rückgabe tritt.

    (Beifall bei der SPD)

    Den entscheidenden Gemeinden und Landräten muß Mut gemacht werden, indem die neuen Bundesländer die finanzielle Haftung dafür übernehmen, wenn sie eine solche Entscheidung treffen. Und es muß mit Sofortvollzug gearbeitet werden.
    Drittens. Die Verwaltung in den neuen Bundesländern muß so rasch wie möglich voll handlungsfähig werden. Dafür bedarf es wirksamerer Anreize für Verwaltungskräfte aus den alten Bundesländern, vorübergehend oder für immer in die neuen Bundesländer überzuwechseln. Dem Dank, den Sie ausgesprochen haben, schließe ich mich an. Aber wir wissen, daß materielle Dinge hier eine Rolle spielen. Mir ist es lieber, wir geben mehr Geld aus, und die Verwaltungen drüben werden endlich handlungsfähig; denn handlungsfähige Verwaltungen sind auch eine unab-



    Dr. Vogel
    dingbare Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung.
    Außerdem glaube ich, wir kommen überhaupt nicht darum herum: Die Vergütung muß auch für diejenigen erhöht werden, die im Verwaltungsdienst der neuen Bundesländer tätig sind. Diese 35 To sind auch eine Bremse.

    (Beifall bei der SPD)

    Viertens: absoluter Vorrang für die Finanzierung der Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur.
    Fünftens: Auflegung umfassender Programme zur Qualifizierung, Fortbildung und Umschulung sowie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Beschäftigung derer, denen Arbeitslosigkeit droht oder die schon arbeitslos sind. Wir können doch wohl übereinstimmen, wenn ich sage: Jede Mark, die hier eingesetzt wird, bewahrt Menschen vor Hoffnungslosigkeit und steigert auch bereits kurzfristig die Produktivität.
    Sechstens: Erarbeitung eines längerfristigen Programms zum Abbau der ökologischen Altlasten in der Reihenfolge, die sich aus dem Maße ihrer Gefährlichkeit für Mensch und Natur ergibt. Wir wissen, daß die schlimme Hinterlassenschaft des SED-Regimes auf diesem Gebiet nicht von heute auf morgen bewältigt werden kann.
    Siebtens. Das gilt auch für die noch schlimmeren Zerstörungen, die das Regime mit seinem menschenverachtenden Stasi-Praktiken hinsichtlich des wechselseitigen Vertrauens in die Gesellschaft und der Selbstachtung derer angerichtet hat, die ihm in die Hände gefallen sind. Hier sollten wir aus den alten Bundesländern uns zurückhalten und uns von denen raten lassen, die das selbst über Jahrzehnte am eigenen Leib erfahren haben. Ich folge denen aus den neuen Bundesländern, die uns sagen: Die Rehabilitation der Opfer muß an erster Stelle stehen; die bisherigen Rehabilitationsvorschriften sind ungenügend.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Auch muß verhindert werden, daß ehemalige StasiOffiziere — ob im besonderen Einsatz oder nicht im besonderen Einsatz, ob gesellschaftliche Kräfte oder andere Kräfte — ihre destruktive Arbeit unverändert fortsetzen können, indem man ihren Denunziationen Gehör schenkt oder ihnen angebliches Material abkauft, um es zu innenpolitischen Zwecken nutzen zu können.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Wir in den alten Bundesländern sollten uns bei all dem vor pharisäerhaften Urteilen hüten,

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU)

    insbesondere auch über diejenigen, die mit den Staatsorganen der ehemaligen DDR in Kontakt standen, weil sie nur so etwas bewirken und Bedrängten helfen konnten.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Ich möchte, daß wir in diesem Punkt möglichst dicht beieinander bleiben.
    Achtens. Ein breiter Dialog in Gesamtdeutschland ist bisher nur in Ansätzen in Gang gekommen. Wir halten den Prozeß, der im Einklang mit dem Einigungsvertrag aus dem Grundgesetz die endgültige Verfassung der größeren Bundesrepublik werden lassen soll, für ein wichtiges Mittel, diesen Dialog zu verbreitern und zu verstärken. Meine Damen und Herren, die intensive Mitwirkung gerade der Menschen in der ehemaligen DDR und die abschließende Inkraftsetzung der Verfassung durch eine Volksabstimmung können bewirken, daß sich diese Menschen nicht mehr allein als Aufgenommene verstehen, die zu etwas schon Fertigem und nicht mehr Beeinflußbarem hinzutreten, sondern als Bürgerinnen und Bürger, die mit uns gemeinsam die deutsche Einigung vollenden und die Konstitution dieses neuen Deutschland mitgestalten und ihre Erfahrungen in diese Konstitution einbringen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE — Hornung [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Die haben doch das Grundgesetz gewählt! Die wollten doch zu uns kommen!)

    Dazu gehört aber, daß man diesen Prozeß ernst nimmt und nicht nur als eine von jenen Grundgesetzänderungen ansieht, wie sie immer wieder einmal vorkommen. So aber klang es gestern in der Regierungserklärung.
    Was ich über das Verfassungsrecht sagte, gilt auch für die Erneuerung des Schwangerschaftsrechtes, die den Schutz des vorgeburtlichen Lebens nicht mit strafrechtlichen Mitteln, sondern mit Rechtsansprüchen auf Hilfe und Beratung und einer Veränderung des Bewußtseins in unserer Gesellschaft erreichen will.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE und der FDP)

    Auch hier ist ein breiter, die Menschen in den neuen Bundesländern einschließender Dialog die Voraussetzung dafür, daß eine breit akzeptierte Lösung gefunden wird.
    Herr Bundeskanzler, Sie haben auf der Grundlage der Entspannungs-, Ost- und Deutschlandpolitik Ihrer sozialdemokratischen Vorgänger ihren Beitrag zur Herstellung der staatlichen Einheit geleistet. Ich halte es für ein Gebot der Fairneß, das hier an dieser Stelle auszusprechen. Gerade deshalb appelliere ich aber an Sie, sich persönlich für eine ungehinderte und breite Verfassungsdiskussion einzusetzen. Niemand muß doch im Ernst befürchten, daß dabei die großen und wichtigen Errungenschaften des Grundgesetzes, zu denen wir alle beigetragen haben, angetastet werden oder sogar auf der Strecke bleiben.

    (Beifall bei der SPD)

    Im übrigen besteht unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit bei der Vollendung der deutschen Einheit auch in anderen damit zusammenhängenden Fragen fort. Es liegt an Ihnen, ob eine solche Kooperation zustande kommt. Wenn nicht bereits andere Motive dafür ausreichen, sollte jedenfalls ein Blick auf die



    Dr. Vogel
    Zusammensetzung des Bundesrates die richtige Antwort nahelegen.
    Jeder versteht, daß die Sorge um den Golfkrieg und um die Entwicklung im Baltikum und in der Sowjetunion die politische Aufmerksamkeit fast vollständig beansprucht. Schon die Probleme der deutschen Einigung treten dahinter im Augenblick stärker zurück, als es ihrer Bedeutung für Millionen von Menschen entspricht. Deshalb habe ich diese Probleme ausführlicher angesprochen. Wir dürfen aber auch die anderen innenpolitischen Aufgaben nicht vergessen, von deren Bewältigung das Wohlergehen unseres Volkes in besonderem Maße abhängt. Wir dürfen auch nicht so tun, als ob es in den alten Bundesländern nicht auch zu verbessern, zu verändern und zu reformieren gäbe.

    (Beifall bei der SPD)

    Dazu gehören die ökologische Erneuerung unserer Wirtschaft und die substantielle Verminderung des Energieverbrauches. Die Golfkrise hat die Notwendikgeit, unsere Abhängigkeit vom Öl zu verringern, übrigens noch zusätzlich unterstrichen. Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch.
    Weiter gehören dazu aber auch das Zuwanderungsproblem, dessen Lösung — wenn ich es richtig verstanden habe — bei den Koalitionsverhandlungen eher ausgeklammert wurde, und die Pflegeproblematik, deren Regelung Sie vertagt haben, obwohl die Zahl der Pflegebedürftigen ständig steigt und der Pflegenotstand andauert. Wir sind ja bereit, der Einladung zu folgen, an einer erneuten Diskussion teilzunehmen. Aber, Herr Bundeskanzler, auf diesem Sektor fehlt es doch nicht an der breiten Diskussion, sondern daran, daß es für die vernünftige Lösung deshalb keine Mehrheit gibt, weil sich Ihre Koalition auf diese vernünftige Lösung bisher nicht einigen konnte.

    (Beifall bei der SPD) Trotzdem sind wir zur Diskussion bereit.

    Ich nenne die Wohnungsnot, die den Menschen im Osten und im Westen unseres Landes zunehmend zu schaffen macht und die durch Fehlentscheidungen in den vergangenen Jahren zusätzlich verschärft worden ist. Auch hier laufen die halbherzigen Außerungen der Koalitionsvereinbarungen und der Regierungserklärung im Ergebnis auf eine Vertagung und damit eher auf ein Laufenlassen hinaus. Denn diese 20-Prozent-Entscheidung ist ja nun wirklich auch nicht Fisch und nicht Fleisch.
    Dann erwähne ich den drohenden Verkehrsinfarkt, der sich durch immer häufigere und umfassendere Verkehrszusammenbrüche ankündigt und schon jetzt Millionen von Menschen täglich das Leben vergällt!
    Auch die Gleichstellung der Frauen ist noch immer weit von ihrer Realisierung entfernt.
    Wir werden dabei vor allem auch für die soziale Gerechtigkeit kämpfen. Sie konfrontieren uns immer wieder mit schlimmen Verstößen gegen diese Gerechtigkeit. Einige habe ich schon genannt. Ein weiteres schlimmes Beispiel ist die Ausweitung der Steuervergünstigung für Hilfen in Privathaushalten. Sie werden niemandem klarmachen können, Herr Bundeskanzler, es sei gerecht, daß jemand mit 240 000 DM im Jahr
    für eine Kinderhilfe im Hause vom Staat über 9 500 DM erstattet bekommt, während der Normalverdiener noch nicht einmal die Kindergartenbeiträge für den Kindergartenplatz von der Steuer abziehen kann. Das ist doch ungerecht!

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/ GRÜNE)

    Ich will noch etwas ansprechen — ich weiß, wie schwierig das ist, und man kann das auch nicht schwarzweiß darlegen — : Es geht darum, wer die wegen der Verfassungswidrigkeit des Kinderfreibetrages zuviel gezahlten Steuern zurückbekommt. Ich klage Sie wegen der Verfassungswidrigkeit gar nicht an. Ich weiß ja, wann das Gesetz gemacht worden ist. Ich spreche von der Rückerstattung. Nur der bekommt die zuviel gezahlten Steuern zurück, der sich einen Steuerberater leisten kann oder eben, weil er dem Staat mißtraut, in jedem Fall von vornherein Einspruch einlegt. Das ist doch nicht das letzte Wort. Das kann doch nicht so bleiben. Sie laufen nämlich auch Gefahr, Herr Finanzminister, daß jeder Steuerzahler in Zukunft vorsorglich alle Rechtsmittel ausschöpft, weil er dann bei Rückerstattungen dabei ist, während der Gesetzesgläubige der Dumme ist.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Sie Herr Bundeskanzler, haben gestern auf solche Feststellungen einmal mehr mit dem Vorwurf geantwortet, hier äußere sich der Sozialneid. Herr Bundeskanzler, meine Kritik geht von einem aus, der ja von diesen unmöglichen Bestimmungen begünstigt wird. Ich könnte ja, wenn ich wollte, von der Steuerbegünstigung Gebrauch machen. Ich habe natürlich auch einen Steuerberater, der dafür sorgt, daß die Dinge berücksichtigt werden. Das ist doch nicht Sozialneid. Ich spreche doch für andere, nicht für mich.

    (Beifall bei der SPD)

    Lassen Sie sich bitte sagen: Wer das Streben nach Gerechtigkeit als Neid herabsetzt, der läßt erkennen, daß er ein Grundelement unseres Zusammenlebens geringer achtet, nämlich eben die Gerechtigkeit,

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE — Hornung [CDU/CSU]: So einfach ist das nicht!)

    von der übrigens schon Augustinus gesagt hat — damit Sie sich nicht wieder aufregen: ich zitiere ihn —, die Staaten seien Räuberbanden, wenn sie der Gerechtigkeit entbehrten. Und deswegen kämpfen wir für Gerechtigkeit!

    (Beifall bei der SPD — Bohl [CDU/CSU]: Er hat nur Neue Heimat und Co op dabei vergessen! — Hornung [CDU/CSU]: Ja, da gibt es eine ganze Menge Beispiele!)

    Die Koalitionsvereinbarungen und der Start der Bundesregierung sind auf breite Kritik gestoßen, und zwar bis hin zu Zeitungen, in denen wir das üblicherweise nicht feststellen können: „Niederschmetternd mittelmäßig", „Der Start ist mißglückt", „Mit Geburtsfehlern — Kabinett ohne Glanz", „Ohne Phantasie und Mut", „Auf langer Talfahrt" gehören dabei noch zu den milderen Urteilen. Es wird niemanden



    Dr. Vogel
    verwundern, daß wir Sozialdemokraten zu keinem anderen Ergebnis kommen.

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ihr kommt zu gar keinem Ergebnis!)

    Unsere Konsequenz ist aber, daß wir unsere Alternativen noch sorgfältiger entwickeln.

    (Bohl [CDU/CSU]: Sie haben noch nicht einmal die Führungsstruktur in Ihrer Fraktion geregelt!)

    — Nun kümmern Sie sich mal nicht um unsere Führungsstruktur. Wir machen so etwas in zehn Tagen. Gucken Sie einmal, wie das anderswo zugeht!

    (Beifall bei der SPD)

    Kümmern Sie sich mal nicht um alles, Herr Bohl!

    (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Doch, Sie kümmern sich ja auch!)

    Schauen Sie mal, daß Ihre Leute an der richtigen Stelle klatschen und nicht immer die Zurufe erst kommen müssen, also bitte!

    (Beifall bei der SPD)

    Es wird niemanden verwundern, daß wir zu keinem anderen Ergebnis kommen. Unsere Konsequenz ist, daß wir unsere Alternativen noch sorgfältiger entwikkeln und noch nachdrücklicher vertreten werden. Unsere Aufgabe — die Aufgabe und Funktion der Opposition — ist noch wichtiger geworden. Wir können nicht an Stelle der Regierung oder der Mehrheit handeln, aber wir haben vielfältige Möglichkeiten, auf die Meinungsbildung und den Entscheidungsprozeß Einfluß zu nehmen. Immer wieder erleben wir ja auch, daß uns Dinge, die wir gegen Ihren Widerstand vorschlagen, nach einiger Zeit als Mitteilungen, als alte Bekannte, in der Regierungserklärung begegnen, zum Beispiel das kommunale Wahlrecht für EG-Ausländer. Das ist ein alter Bekannter; er sei herzlich begrüßt!

    (Beifall bei der SPD)

    Wir werden all diese Möglichkeiten nutzen, damit die Politik korrigiert wird, damit Schaden von unserem Volk abgewendet wird und damit Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität die zentralen Grundwerte unseres Gemeinwesens bleiben — im Streit, wo immer notwendig, im Zusammenwirken, wo immer möglich. Als die älteste demokratische Partei Deutschlands kennen wir unsere Verantwortung. Wir wollen dieser Verantwortung gerecht werden.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD sowie Beifall bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste und des Bündnisses 90/ GRÜNE)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dregger.

(Abgeordnete der SPD verlassen den Saal — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Bleibt da, da könnt ihr noch was lernen!)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Alfred Dregger


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Vogel, es gab Feststellungen in Ihrer Rede, denen ich zustimmen kann,
    und einige Passagen, denen ich mit Vergnügen zugehört habe.

    (Zuruf von der SPD: Das ist etwas ganz Neues!)

    — Das steht auch nicht im Widerspruch dazu. Ich möchte feststellen, daß Sie es nicht leicht haben. Ich nehme an, daß Sie dieser Feststellung zustimmen.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Wer hat's denn schon leicht? — Zuruf von der SPD: Mit Ihnen haben wir es nicht leicht!)

    Sie sollen die Opposition anführen mit einer Partei im Rücken, die in allen existentiellen Fragen der deutschen Nation zerstritten ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei der SPD)

    „SPD in der Bewertung des Golfkriegs heillos zerstritten" ,

    (Hornung [CDU/CSU]: Und zwar öffentlich!)

    so eine aktuelle Überschrift in einer der heutigen Tageszeitungen.
    Was für die Bewertung des Golfkriegs gilt, galt auch für die Bewertung der Chancen, die sich nach dem 9. November 1989 für die Verwirklichung der deutschen Einheit boten. Es lag gewiß nicht an der mangelnden Kooperationsbereitschaft der Bundesregierung, von der Sie gesprochen haben, wenn die SPD in dieser historischen Stunde der deutschen Geschichte keine einheitliche Position gefunden hat und nicht mit Nachdruck für die Verwirklichung der Einheit zu dem Zeitpunkt eingetreten ist, zu dem sie möglich war.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

    Herr Dr. Vogel, Sie sollen die Opposition gegen eine Regierung anführen, die sich zwar von Zeit zu Zeit von der deutschen oder internationalen Presse in die Mangel nehmen läßt — daß der Zeitpunkt der Koalitionsverhandlungen dafür besonders geeignet ist, wissen wir auch noch aus einer Zeit, in der die SPD an solchen Koalitionsverhandlungen beteiligt war —, von der sich dann aber immer schnell herausstellt, daß sie die erfolgreichste Regierung in Europa ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Nach acht Jahren der Kanzlerschaft von Helmut Kohl ist Deutschland wiedervereinigt.

    (Lachen bei der SPD)

    — Das haben wir nicht durch Gelächter geschafft, sondern durch aktive Politik für die deutsche Einheit! Nach acht Jahren Kanzlerschaft von Helmut Kohl ist die Wirtschaft im Westen Deutschlands in bester Verfassung, haben die neuen Bundesländer trotz aller Schwierigkeiten eine gute Chance eines wirtschaftlichen Aufschwungs, ist das soziale Netz wieder gefestigt und sind wir Vorreiter des Umweltschutzes in Europa. Auf diese und andere Erfolge sind wir stolz. Wir werden unsere bewährte Politik fortsetzen.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU)




    Dr. Dregger
    Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers weist den Weg.
    Wir leben in einer schwierigen Phase der internationalen Politik. Die Gewaltanwendung sowjetischer Truppen gegen die baltischen Republiken und der Krieg in der Golfregion sollten auch der Opposition die Augen geöffnet haben. Recht und Sicherheit, Freiheit und Einheit werden den Völkern nicht geschenkt. Sie müssen in der politischen Praxis erarbeitet und gegen alle negativen Einflüsse verteidigt werden. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe, der sich niemand entziehen kann oder entziehen sollte.
    Die deutsche Politik in der vor uns liegenden Legislaturperiode steht daher unter einem zentralen Gebot: dem Gebot der Solidarität. Der Bundeskanzler hat das gestern in seiner eindrucksvollen Regierungserklärung im einzelnen begründet.
    Meine Damen und Herren, in der Tat geht es in der deutschen Politik um Solidarität: Solidarität in Deutschland, Solidarität in Europa und Solidarität in der Welt.

    (Zuruf von der SPD: Und auf dem Mond!)

    Zur Solidarität in Deutschland: Viele Menschen in Deutschland sind verunsichert. Zu lange hat es am parteiübergreifenden Gesamtwillen zur Einheit gefehlt. Die SPD im Westen hat den Einigungsprozeß des Jahres 1990 mehr erlitten als miterkämpft.

    (Hornung [CDU/CSU]: Und verzögert!) Darunter leidet die SPD noch heute.


    (Bohl [CDU/CSU]: So ist es!)

    Sie, meine Damen und Herren der SPD, hatten — wie viele Äußerungen Ihres Kanzlerkandidaten und seiner Mitstreiter zeigten —

    (Bohl [CDU/CSU]: Wo ist der eigentlich?)

    nicht begriffen, daß unsere nationale Frage für 16 Millionen Menschen zugleich die soziale Frage gewesen ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Ihnen hat es daher damals nicht nur an politischem Weitblick gefehlt, sondern ein Stück weit auch an der Solidarität mit den Unterdrückten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Bohl [CDU/CSU]: So ist es, jawohl!)

    Oder ging es der SPD und anderen Kritikern zu schnell? Heute sehen doch wohl alle, daß das Fenster zur deutschen Einheit nur für kurze Zeit offenstand. Dafür, daß Helmut Kohl die unwiederbringliche Gunst der Stunde genutzt hat, sollten wir alle ihm dankbar sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Solidarität muß auch — und damit greife ich eine Forderung von Jochen Vogel auf — das Verhältnis zwischen den alten und den neuen Bundesländern bestimmen. Die alten haben dazu auch deshalb Anlaß, weil sie in mancherlei Hinsicht von der Wiedervereinigung profitieren. Nahezu überall in der westlichen Welt gibt es Anzeichen nachlassender Konjunktur, ja der Rezession. Im alten Bundesgebiet
    setzt sich der wirtschaftliche Aufschwung dagegen fort — nicht trotz, sondern wegen der Wiedervereinigung. Die deutsche Einheit ist das beste Konjunkturprogramm, das sich denken läßt.

    (Dr. Vogel [SPD]: Ja, für den Westen!)

    Die westlichen Bundesländer haben ihretwegen Steuermehreinnahmen, weit über die bisherigen Schätzungen hinaus. Sie sollten diese Mehreinnahmen mit den neuen Bundesländern teilen, und zwar sofort und nicht erst 1994.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Herr Kollege Schauerte hat im Landtag von Nordrhein-Westfalen bemerkenswerte Ausführungen zum Verhältnis von Steuermehreinnahmen der westdeutschen Länder und Gemeinden zu ihren Aufwendungen für die deutsche Einheit gemacht. Danach übersteigen nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern auch in anderen Bundesländern die einigungsbedingten Mehreinnahmen erheblich die einigungsbedingten Mehrausgaben.
    Ich sage das ohne Vorwurf, aber mit der deutlichen Aufforderung an Länder und Gemeinden in Westdeutschland, sich nun zu einer großen und wirkungsvollen solidarischen Leistung an die Länder und Gemeinden im Gebiet der bisherigen DDR zu entschließen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, es kann doch nicht sein, daß in den alten Bundesländern noch die letzte Stadt ihr sogenanntes modernes Spaßbad bekommt, während Dresden und die Ostseestädte zerfallen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Wir sind ein Volk und ein Land; Wohlstandsunterschiede im jetzigen Ausmaß sind nur auf sehr begrenzte Zeit erträglich. Ich unterstreiche, was der Bundeskanzler gestern gesagt hat — ich zitiere ihn — : „ ... müssen wir in dieser Legislaturperiode zu einer Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen kommen, die ... auch die neuen Bundesländer voll einschließt" .
    Auch die Sozialpartner sind gefordert. Sie sollten bei ihren Tarifverhandlungen auf zwei Gefahrenpunkte Rücksicht nehmen. Erstens. Der Abstand der Realeinkommen zwischen Ost und West darf sich nicht vergrößern; er muß abgebaut werden. Sonst laufen wir Gefahr, daß immer mehr Arbeitnehmer aus den neuen Bundesländern in die alten abwandern. Zweitens. Die Einkommensentwicklung in der ehemaligen DDR muß sich im Rahmen der Produktivitätsentwicklung halten. Geschieht das nicht, dann werden die Konkurse und die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern zunehmen.
    Ich nenne nur die Stichworte „Erfolgsbeteiligung", „Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand" und „Solidaritätspakt aller gesellschaftlich wichtigen Gruppen", um deutlich zu machen, daß die von mir geforderte Rücksichtnahme durchaus in sozial verträglicher Weise verwirklicht werden kann. Das muß auch bei den jetzigen Tarifverhandlungen für den öffentli-



    Dr. Dregger
    chen Dienst berücksichtigt werden. Die Finanzwirtschaft der neuen Bundesländer und ihrer Gemeinden ist auf das äußerste angespannt. Wer das alles ignoriert, handelt unsolidarisch und gefährdet den Einigungsprozeß,

    (Dr. Vogel [SPD]: Richtig!)

    indem er den noch nicht sehr leistungsfähigen Unternehmen und Verwaltungen in den neuen Bundesländern die Grundlage entzieht.
    Daß wir in den Bereichen der Sozialversicherung, Herr Kollege Vogel, in denen Überschüsse erzielt werden, z. B. in der Rentenversicherung, die Beiträge senken, hatten Sie zu erwähnen vergessen.

    (Dr. Vogel [SPD]: Das geht auf Kosten der Reserven!)

    Daß wir dort, wo wegen der schlechten Wirtschaftslage in den neuen Bundesländern Defizite entstehen, nämlich in der Arbeitslosenversicherung, die Beiträge anheben, ist systemgerecht und, wie ich meine, auch angemessen.

    (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Die anderen werden Sie auch wieder anheben!)

    Erfreulich ist die Tatsache, daß die Neuverschuldung des Bundes im Jahre 1990 nicht, wie bisher erwartet, 67 Milliarden DM, sondern 50 Milliarden DM beträgt. Aber auch 50 Milliarden DM sind für die Bundesrepublik Deutschland eine große Summe, die das Einstehen des Bundes für den Bedarf der neuen Bundesländer deutlich macht. Um einen Vergleich zu haben: die Nettoneuverschuldung des Bundes ist von 1989 bis 1990 immerhin von 19 Milliarden DM auf ca. 50 Milliarden DM gestiegen.
    Die Opposition erweckt seit Monaten den Eindruck, daß sie Steuererhöhungen geradezu herbeisehnt. Man kann die Steuerpolitik auch zum Anfachen des Sozialneids mißbrauchen. Wer den Sozialneid hier wie in der alten DDR anheizt, nützt niemandem, am wenigsten dem sogenannten kleinen Mann. Sozialneid lähmt; zur solidarischen Hilfe, auf die es ankommt, motiviert er nicht. Ich empfehle Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, noch einmal den Beitrag nachzulesen, den Ihr Mitglied Professor Karl Schiller bei der Anhörung vor dem Ausschuß Deutsche Einheit am 7. November 1990 geleistet hat. Es war auch eine eindrucksvolle Warnung vor dem Sozialneid im Gewand der Steuerpolitik.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Den hört von denen keiner mehr!)

    Ich meine, auch für 1991 sollten der Bund, die westdeutschen Bundesländer und ihre Gemeinden alles tun, um ihre Ausgaben und die damit verbundene Neuverschuldung in Grenzen zu halten. Daß Nordrhein-Westfalen für 1991 Mehrausgaben von nahezu 7 % plant,

    (Hornung [CDU/CSU]: Für was denn?)

    ist, wie ich meine, in dieser Situation absolut unangemessen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Steuererhöhungen sind nicht das erste, sondern das letzte Mittel, um den Haushaltsausgleich herbeizuführen. Wir begrüßen es daher, daß der Bundesfinanzminister für 1991 einen Haushaltsentwurf ohne Steuererhöhungen vorlegen will. Erst wenn wir Dauer und Kosten des Golfkrieges sowie unsere Beiträge für die Entwicklung in Ostmitteleuropa, in Südosteuropa und in der Sowjetunion einigermaßen übersehen, können wir eine verantwortbare Entscheidung zur Steuerpolitik treffen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP — Zurufe von der SPD)

    Die politische Teilungsgrenze ist gefallen. Jetzt geht es darum — auch darin stimme ich mit Herrn Vogel überein — , die vielen Barrieren zu überwinden, die uns immer noch trennen. Das gilt für die Verkehrsbarrieren ebenso wie für die Barrieren im Kommunikationswesen, einem Bereich, in dem die Deutsche Bundespost bzw. das Unternehmen Telekom zur Zeit Hervorragendes leistet. Das gilt noch mehr für die geistigen Barrieren in unseren Köpfen. Um sie abzubauen, sind Einfühlungsvermögen und Takt, auch Mut auf beiden Seiten gefragt.
    Für die Deutschen in den alten Bundesländern besteht kein Anlaß zu Überheblichkeit und Besserwisserei. Wäre die Geschichte anders verlaufen, wäre nicht Mitteldeutschland, sondern Westdeutschland in die Hand der Kommunisten gefallen, dann wären heute die Westdeutschen auf die Hilfe der Mitteldeutschen angewiesen.

    (Bundeskanzler Dr. Kohl: Sehr gut!)

    Daß es heute so ist, wie es ist, sollte die Westdeutschen freuen; denn Hilfe zu leisten ist gewiß schöner, als auf Hilfe angewiesen zu sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/ GRÜNE)

    Herr Engholm hat in einem Gespräch mit der Mainzer „Allgemeinen Zeitung", nachzulesen in der Ausgabe vom 17. Januar, zur Berufung des Kollegen Ortleb zum neuen Bundesminister für Bildung und Wissenschaft gesagt — ich zitiere —, ob jemand dieser Aufgabe gewachsen sei, der 40 Jahre lang in einem völlig anderen System gelebt habe, müsse sich erst noch erweisen. Ich frage Sie: Wie sollen wir nach 40 Jahren zueinander finden, wenn allein die Herkunft aus der ehemaligen DDR Grund genug ist,

    (Bundeskanzler Dr. Kohl: Sehr gut!)

    einem Kollegen aus Rostock die Kompetenz abzusprechen?

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/GRÜNE und Beifall auf der Regierungsbank)

    Das war ein schlimmer Mißgriff des designierten SPDVorsitzenden. Deswegen habe ich ja so viel Mitgefühl, Herr Kollege Vogel, zu Beginn meiner Rede zum Ausdruck gebracht.

    (Dr. Vogel [SPD]: Immer dieses Mitgefühl! Wo sind wir denn?)




    Dr. Dregger
    Die deutsche Einheit auch sozial und ökonomisch zu vollenden, das ist die große innenpolitische Aufgabe der nächsten Jahre. Aber wir vernachlässigen deshalb nicht andere drängende Reformaufgaben. Ich nenne: Hilfen für Familien und Alleinstehende mit Kindern, die weitere Verbesserung unserer Umwelt und die Einführung einer Pflegeversicherung. Diese Reformen kommen den Deutschen in beiden Teilen Deutschlands zugute.
    Zur Familienpolitk: Wir werden das Erziehungsgeld zum 1. Januar 1993 um weitere sechs Monate auf zwei Jahre verlängern.

    (Frau Dr. Götte [SPD]: Viel zu spät!)

    Der Erziehungsurlaub mit Beschäftigungsgarantie wird zum 1. Januar 1992 auf drei Jahre ausgeweitet. Hinzu kommen wesentliche Verbesserungen beim Kindergeld und bei den Kinderfreibeträgen.
    Im Umweltschutz ist Westdeutschland der Vorreiter in Europa. Ich nenne drei Beispiele: Der Ausstoß von Schwefeldioxid ging von 3,5 Millionen t im Jahre 1979 auf 0,9 Millionen t im Jahre 1990 zurück. Fast alle neuen Autos mit Benzinmotor haben inzwischen den von uns eingeführten geregelten Katalysator.

    (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das ist objektiv falsch!)

    Wurden in Spraydosen 1989 nur 2600 t Fluorchlorkohlenwasserstoffe verwendet, so waren es 1976 noch 50 000 t.
    In den fünf neuen Bundesländern fand Umweltschutz bis 1989 nicht statt. Heute ist die Umweltsanierung dort bereits in vollem Gange. Durch die vom Bundesumweltminister bereitgestellten Fördermittel werden in den neuen Bundesländern Investitionen in den Umweltschutz in Höhe von 2,3 Mrd. DM ermöglicht.
    Eine dritte große innenpolitische Aufgabe — Herr Vogel, Sie haben das angesprochen — möchte ich hervorheben. Wir werden das letzte große Problem der Sozialpolitik anpacken, das noch ungelöst ist: die Pflege. Wer heute pflegebedürftig wird, hat vielfach keine ausreichende Absicherung. Das wollen wir ändern.

    (Frau Dr. Götte [SPD]: Wann denn?)

    Die Bundesregierung wird dem Deutschen Bundestag, so steht es in der Koalitionsvereinbarung, bis Mitte nächsten Jahres dazu einen Gesetzentwurf vorlegen,

    (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Was nicht viel heißt!)

    und zwar nicht nur vielleicht; das wird so sein. Bisher haben wir unsere Versprechungen gehalten.

    (Dr. Vogel [SPD]: Na, na!)

    Nun zur Solidarität in Europa. Unsere Solidaritätspflicht beschränkt sich nicht auf Deutschland. Sie erstreckt sich wie unser Einfluß und unsere Interessen auf Europa und die Welt. Der Golfkrieg ist der erste Krieg der Weltgemeinschaft UNO gegen einen Aggressor seit dem Koreakrieg. Doch im Unterschied zu
    diesem wird dieser mit Zustimmung der Sowjetunion geführt.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Mit Zustimmung aller!)

    Das ist das Neue, seitdem der Ost-West-Konflikt — ich will es einmal vorsichtig ausdrücken — gedämpft ist.
    Die Welt ist jedenfalls nicht mehr geprägt von der bipolaren Spannung zwischen den beiden Supermächten. Das hat die Vereinten Nationen handlungsfähig gemacht. Deshalb konnte der Sicherheitsrat Beschlüsse fassen, während er früher vom Veto blockiert wurde. Deshalb konnten die USA nach dem Überfall des Irak auf Kuwait zusammen mit Europäern, Arabern, mit asiatischen Staaten, mit Kanada und Australien im Auftrage der UNO eine strategische Gegenkonzentration gegen Saddam Hussein organisieren. Damit hat er leider nicht gerechnet. Sonst hätte er den Krieg gegen Kuwait möglicherweise nicht begonnen.
    Welche Schlüsse sollen wir daraus ziehen? Ich meine, gegen den Aggressor frühzeitig Front zu machen — frühzeitig! — ist die Lehre, die aus dieser Erfahrung zu ziehen ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Der Golfkonflikt macht die Kräfteverhältnisse in der Welt und die Sicherheitserfordernisse Europas deutlich. Zunächst: Wir brauchen weiter eine enge Sicherheitspartnerschaft mit den USA. Wir brauchen sie aus zwei Gründen: erstens, weil wir auf dem alten Kontinent das Gewicht der Weltmacht Sowjetunion ohne die USA nicht austarieren können. Rußland — in welcher Gestalt auch immer — wird Weltmacht bleiben. Die gegenwärtige Krise der Sowjetunion ändert daran nichts.
    Zweitens. Wir brauchen die USA auch, weil unsere Sicherheit von weltweiten Entwicklungen abhängig ist und die USA als einzige westliche Macht zu weltweitem Handeln in der Lage ist.
    Dieser Golfkonflikt hat uns aber auch drastisch vor Augen geführt, was uns Europäern fehlt: eine europäische Sicherheitsunion und ihre Fähigkeit, weltweit zu handeln. Erst eine solche Sicherheitsunion bildet die Basis, auf deren Grundlage europäische Außenpolitik möglich wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Der Außenminister Saddam Husseins hat die Europäische Gemeinschaft bei ihren" Vermittlungsversuchen in keiner Weise ernstgenommen. Ich füge hinzu: Auch der amerikanischen Administration fiel es schwer, zu einer anderen Einschätzung zu kommen.
    Das war schon bei den Mittelstreckenraketenverhandlungen in Reykjavik 1986 so, an denen Europa nicht beteiligt war, obwohl Europa davon in besonderer Weise betroffen war. Daran hat sich nichts wesentliches geändert. Die europäischen Außenminister selbst haben vor Weihnachten daraus die Konsequenz gezogen, eigene Initiativen hintanzustellen, um der amerikanischen Politik den Vortritt zu lassen. Das war vernünftig. Aber es hat auch gezeigt, daß Europa bisher ein seiner ökonomischen Bedeutung entsprechen-



    Dr. Dregger
    des außenpolitisches Gewicht nicht besitzt und daher in internationalen Fragen nur sehr begrenzt handlungsfähig ist. Zwölf Prinzen ohne Kleider, meine Damen und Herren, machen eben noch keinen Kaiser.
    Die Konsequenz: Die Europäer müssen sich endlich auch sicherheitspolitisch zusammenschließen. Die Römischen Verträge müssen einen militärischen Beistandsvertrag einschließen nach der Art und Qualität dessen, was einmal im WEU-Vertrag vereinbart wurde.
    Wenn wir einmal von der Unfähigkeit der Europäer, ihre Ziele und Mittel in Übereinstimmung zu bringen, absehen, dann stehen wir ja im Unterschied zu den 80er Jahren glänzend da. Auch Osteuropa wendet sich heute nach Westen. Es sind die Ideen des Westens, die sich durchgesetzt haben. Damit das Bestand hat, damit Europas politischer Einfluß seinem ökonomischen Gewicht entspricht und damit sich Europa in der Welt behaupten kann, müssen wir die Politische Union schaffen. Europäische Politische Union heißt: gemeinsamer Wirtschaftsraum mit gemeinsamer Währung in gemeinsamer Sicherheit. Das ist unser Ziel.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Alles, was wir allein nicht mehr machen können, gehört in die supranationale europäische Kompetenz. Auf dem Gebiet der Wirtschafts-, Währungs-, Finanz- und Sozialpolitik zum Beispiel kann noch viel im nationalen Rahmen gemacht werden, im Bereich der Sicherheitspolitik dagegen nicht. Daß ausgerechnet dieser Bereich aus der europäischen Einigungspolitik ausgespart blieb, kann man zwar erklären, aber nicht begründen.
    Es kann auch in Zukunft nationale Truppenverbände geben, was ich wegen des inneren Zusammenhalts für zweckmäßig halte. Aber Logistik, Transport, Aufklärung und Operation müssen wir in Zukunft gemeinsam, d. h. natürlich im Rahmen der NATO, europäisch machen. Geschieht das, dann wird die NATO ein Bündnis unter Gleichen, ein Bündnis zwischen Amerika und Europa, das gemeinsam und arbeitsteilig handeln kann.
    Dazu brauchen wir hochbewegliche, teilweise lufttransportfähige und — um der Solidarität und der Abschreckungsfähigkeit willen — multinationale europäische Verbände mit einer gemeinsamen Strategie. Diese Verbände müssen ihre Wirkung in alle Himmelsrichtungen entfalten können. Unsere Chance, auf diese Weise eine Krise zu bewältigen und dabei den Krieg zu vermeiden, wird umso größer sein, je größer der Zusammenhalt dieser Verbände im Bündnis ist und je flexibler sie operieren können.
    Die beiden Regierungskonferenzen, die Ende des letzten Jahres ihre Arbeit begonnen haben, geben die Möglichkeit, beide Ziele zu verwirklichen: die Wirtschafts- und Währungs- sowie die Sicherheitsunion. Die Notwendigkeit der Parallelität beider Regierungskonferenzen ist gestern vom Bundeskanzler mit Recht hervorgehoben worden. Die in diesen beiden Konferenzen liegende Chance sollten wir in gutem Kontakt mit unseren europäischen Freunden, insbesondere mit Frankreich, das in dieser Frage eine Schlüsselrolle hat, nutzen.
    Lassen Sie mich nun noch einiges zur Solidarität in der Welt sagen. So wichtig Europa für uns Deutsche bleiben wird, Frieden und Freiheit können wir nicht allein in Europa finden. Wir brauchen eine Weltfriedensordnung, da wir auch mit den anderen Nationen der Welt nicht nur wirtschaftlich aufs engste verflochten sind. Das gilt besonders für den Nahen und Mittleren Osten, für die Welt des Islam, in deren Mitte Israel sein Existenzrecht behaupten muß. Wir können dieser Welt nicht den Rücken kehren. Wir müssen auch im eigenen Interesse die Vereinten Nationen stärken und sie mit den anderen Friedensmächten in die Lage versetzen, Freiheit und Recht gegen Aggressoren zu verteidigen. Das geht nicht mit Demonstrationen allein. Sie sind sogar schädlich, wenn sie unkritisch den Aggressor Irak, das Opfer Kuwait und die Friedensstreitkräfte der UNO auf eine Stufe stellen. Unsere Solidarität muß den Angegriffenen gelten, in diesem Falle insbesondere Kuwait.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Unsere Solidarität muß dem Bedrohten gelten, also Israel, das am Krieg nicht beteiligt ist, das aber der Aggressor in seinen Krieg hineinziehen möchte. Unsere Solidarität muß den arabischen Staaten gelten, die sich zu Recht fürchten, von Saddam Hussein unterjocht zu werden.
    Ich werde jetzt etwas sagen, was möglicherweise auf Widerspruch stößt; aber es ergibt sich aus dem vorher Gesagten: Wer in dieser Situation in den Ruf „Kein Blut für Öl" einstimmt, der verdunkelt die Wahrheit und besorgt — ob gewollt oder ungewollt — das Geschäft des Aggressors.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Conradi [SPD]: Wer jahrelang aufgerüstet hat, sollte hier keine Sprüche klopfen!)

    Zur Solidarität gehört auch, daß das UNO-Embargo gegen den Irak von uns und allen anderen Ländern strikt eingehalten wird. Verletzungen dieser Pflicht müssen, selbstverständlich in einem rechtsstaatlichen Verfahren, hart bestraft werden. Wer aus Gewinnsucht Waffenexportverbote bricht, muß nicht nur bestraft, sondern er muß — ich unterstreiche das, was der Bundeskanzler gestern gesagt hat — geächtet werden,

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    auch weil er dadurch die Interessen unseres Landes aufs schwerste verletzt.
    Ebenso deutlich sage ich: Wir Deutschen sind nicht gewinnsüchtiger als andere. Der Anteil der kriminellen Elemente ist bei uns wohl nicht größer als anderswo. Kollektivbeschuldigungen der Bundesrepublik Deutschland oder der deutschen Wirtschaft lehnen wir daher ab.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erwartet von der Regierung, daß sie jedem Verdacht weiterhin sorgfältig nachgeht

    (Conradi [SPD]: „Weiterhin?")

    und bei der Wahl der einzusetzenden Instrumente

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Wie bisher!)




    Dr. Dregger
    wirklich bis an die Grenze des verfassungsmäßig Zulässigen geht.
    Nicht nur die Handhabung des Embargos, auch die gesamte Rüstungsexportpolitik bedarf der Überprüfung bei uns und allen anderen Waffenproduzenten. Auch darin stimme ich mit Herrn Vogel überein. Nur wenn für alle die gleichen Maßstäbe gelten und wenn deren Einhaltung international kontrolliert wird, wird sich die Lage grundlegend verbessern. Ich begrüße daher jedenfalls trotz der von Herrn Vogel kritisierten Äußerungen des Präsidenten des BDI, die ich nicht kenne, daß der Bundesverband der Deutschen Industrie und der Industrieverband in den USA diese Ansicht teilen und eine gemeinsame Initiative zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit von Regierungen und Wirtschaft bei militärstrategisch notwendigen Exportkontrollen beschlossen haben.
    Wir Deutschen sind selbstverständlich bereit, gemeinsame Rüstungsexportregeln, z. B. der EG, der NATO oder der UNO, zu akzeptieren und uns ihrer Kontrolle zu unterwerfen.
    Herr Bundeskanzler, wir begrüßen es ganz besonders, daß die Bundesregierung Israel die gewünschten Defensivwaffen liefert. Dazu gehören die Patriot-Abwehrraketen, die es nicht gäbe, wenn nicht Präsident Ronald Reagan das SDI-Programm in Auftrag gegeben hätte.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat damals — Sie erinnern sich — den amerikanischen Präsidenten mit Nachdruck unterstützt — das können nicht alle Fraktionen dieses Hauses in gleicher Weise von sich sagen — , weil SDI ein Abwehrsystem ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich nutze die Gelegenheit, Ronald Reagan, der in den nächsten Tagen seinen 80. Geburtstag begeht, unseren Dank und unsere Glückwünsche auszusprechen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Wir begrüßen es ferner, daß sich die Bundesregierung entschlossen hat, unsere in der Türkei stationierten Bundeswehrsoldaten mit Waffensystemen auszustatten, die sie zur Abwehr eines Angriffs benötigen. Wir sehen darin eine Bestätigung unserer Entschlossenheit, unsere Bündnispflichten gegenüber der Allianz — in diesem Falle gegenüber dem NATOLand Türkei — ebenso zu erfüllen, wie wir als Deutsche in den hinter uns liegenden Jahrzehnten die Bündnissolidarität der NATO jederzeit in Anspruch nehmen konnten.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, Handeln ist besser als Reden. Konkrete Hilfeleistungen für Israel, Bündnissolidarität gegenüber der Türkei und konkrete Maßnahmen zur Kontrolle von Rüstungsexporten sind besser als Betroffenheits- und Schamgesten mancher deutscher Politiker, die ohnehin nicht selten den Eindruck erweckten, sie wollten vom Thema ablenken, um es sich zu ersparen, klar gegen den Aggressor und
    ebenso klar für die UNO und den Einsatz ihrer Streitkräfte Stellung zu beziehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)