Rede von
Waltraud
Steinhauer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Seit 1982 hat die SPD-Bundestagsfraktion durch parlamentarische Anfragen und Gesetzentwürfe Vorschläge für ein einheitliches Kündigungsrecht für alle Arbeitnehmer eingebracht. Nach den jüngsten Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 verstoßen die unterschiedlichen Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte gegen das Grundgesetz. Das Musterurteil der höchsten Instanz greift unmittelbar in die Arbeitsverhältnisse von Millionen Beschäftigten ein.
Die Ungleichheit sieht das Gericht darin, daß Arbeiter nach den arbeitsrechtlichen Vorschriften kürzere Kündigungsfristen haben als Angestellte. So sind die sozialen Folgen bei einer Kündigung höchst unterschiedlich. Arbeiter werden innerhalb von in der Regel zwei Wochen auf die Straße gesetzt, Angestellte mit einer Frist von sechs Wochen zum Quartalsende.
Man kann nicht deutlich genug darauf hinweisen: Es war nicht die Politik der Bundesregierung, sondern es war das Bundesverfassungsgericht, das Millionen Arbeitern zu einem großen sozialen Fortschritt verholfen hat.
Die Feststellung, daß ungleiche Kündigungsfristen für Arbeiter und für Angestellte verfassungswidrig sind, bewirkt den weiteren Abbau eines unzeitgemäßen Zweiklassensystems in der Arbeitnehmerwelt.
Es liegt in der Logik des Karlsruher Urteils, daß die Arbeiter, die bisher nur einen Kündigungsschutz von zwei Wochen haben, nun an die Sechswochenfrist der Angestellten herangeführt werden. Wenn ein solch einschneidendes Stück Sozialpolitik im Gerichtssaal gemacht werden muß, dann sind die derzeit in der Verantwortung stehenden Politiker der Regierungskoalition ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden.
Was längst erledigt sein könnte, haben sie auf die lange Bank geschoben. Wohl wissend, daß sich in Bonn die Unsitte herausgebildet hat, Karlsruher Urteile einfach auf Eis zu legen, setzt das Gericht dem Gesetzgeber nun ein Ultimatum: Es muß die unterschiedlichen Kündigungsfristen bis Juni 1993 angleichen, d. h. eine neue Regelung muß bis dahin verabschiedet sein.
Aber so lange brauchen wir nicht, meine sehr verehrten Herren und Damen, noch in dieser Legislaturperiode kann das Gesetz verabschiedet sein;
denn die SPD-Fraktion hat wie bereits in der letzten Legislaturperiode einen entsprechenden Gesetzentwurf mit dem Ziel eingebracht, einheitliche Fristen zu erreichen. Danach soll die ordentliche Kündigung für alle Arbeitsverhältnisse mit einer Frist von sechs Wochen zum Quartalsschluß gelten. Wie nach geltendem Recht sollen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine kürzere Kündigungsfrist, die einen Monat allerdings nicht unterschreiten darf, vereinbaren können. Damit würde dem Anliegen der Verfassungsrichter entsprochen und eine Ungerechtigkeit im Arbeitsleben beseitigt; denn die Unterscheidungsmerkmale sind immer fragwürdiger und widersprüchlicher geworden.
Die Bundesverfassungsrichter wollten sich mit der Unterscheidung von überwiegend geistiger und überwiegend körperlicher Arbeit erst gar nicht abgeben. Sie führen aus — ich zitiere —: „Denn ein rechtfertigender Grund für die ungleichen Kündigungsfristen liegt darin nicht". Wer die moderne Arbeitswelt kennt, weiß, daß die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten ohnehin sehr schwierig ist. Die unterschiedlichen Kündigungsfristen weisen auf letzte Reste einer ständisch gegliederten Klassengesellschaft hin. Eine Gleichstellung ist längst überfällig. Die Unterschiede verwischen sich im Lebensstil und im Bewußtsein inzwischen immer mehr und mehr, was dazu beiträgt — das weist auch die Statistik aus —, daß die Zahl der erfaßten Angestellten ständig wächst.
So wurden beispielsweise in der chemischen Industrie oder in der Nahrungsmittelbranche Tarifverträge ausgehandelt, in denen von Arbeitern und Angestellten nicht mehr die Rede ist. Ein uneinheitlicher Arbeitnehmerbegriff ist nicht mehr zeitgemäß, und einer heutigen modernfen Industriegesellschaft wird er nicht mehr gerecht.
Das Arbeitsrecht ist hinter diesen Realitäten zurückgeblieben, weil sich die konservative Mehrheit dieses Hauses an dieses heiße Eisen nicht herangetraut hat. Nun sind es die Gerichte, die dem Gleichheitsgrundsatz zum Durchbruch verhelfen müssen. Das ist eine Ohrfeige für die Regierenden.
Die Regierungskoalition ist nach wie vor uneinsichtigt: Unter dem Vorwand, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes umzusetzen, wird Sozialabbau betrieben. Die Kündigungsfristen für Angestellte sollen von bisher sechs Wochen auf zwei Wochen verkürzt werden. Für alle Arbeitnehmer soll also eine kürzere Kündigungsfrist gelten. Dies muß man dem Einigungsvertrag entnehmen. Die Möglichkeit, Fortschritte zu praktizieren, gehört nicht zum Konzept der Konservativen.
Es ist makaber: Jahrelang wurde von der Bundesregierung auf die nicht erfolgte Verfassungsgerichtsentscheidung verwiesen, wenn es darum ging, die überfällige Gleichstellung im Kündigungsrecht für Arbeiter und Angestellte vorzunehmen. Dies haben Sie uns gegenüber immer eingewandt.
Frau Steinhauer
Nun versucht sie die Untätigkeit offenbar mit der Angleichung des Arbeitsrechtes in der ehemaligen DDR zu begründen. Die Bundesregierung könnte nun belegen, daß sie nicht nur dann flott ist, wenn es um den Abbau von Arbeitnehmerrechten geht — ich erinnere an § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes und an das berühmt-berüchtigte Beschäftigungsförderungesetz —, sondern auch dann, wenn es darum geht, Fortschritt zu praktizieren und Verfassungsvorschriften einzuhalten. Bereits am 16. November 1982 hatten die Richter die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten in bezug auf die Berechnung der Betriebszugehörigkeit verlangt. Das hat die Koalition erst im Mai 1990 geregelt.
— „Immerhin" ist wohl völlig unangebracht!
Jetzt muß Schluß sein mit dem Schneckentempo.
Rechtssicherheit ist jetzt gefragt: Es darf bei Kündigungen künftig nicht zu einem Urteilswirrwarr kommen. Eine schnelle gesetzliche Regelung ist das Gebot der Stunde. Solange der Gesetzgeber keine neue Regelung erläßt, wird es in der Übergangszeit, je nach Arbeitsgericht, zu sehr unterschiedlichen Urteilen kommen. So könnten die Gerichte in der gesetzeslosen Übergangszeit Kündigungsprozesse der Arbeiter so lange aussetzen, bis eine Neuregelung geschaffen wird. Andere Gerichte könnten die Kündigungsfrist bei Arbeitern als verfassungswidrig erklären und die jetzt gültige Frist für Angestellte anwenden. Wieder andere Gerichte könnten trotz des Urteils aus Karlsruhe weiterhin die 14-Tage-Frist anwenden und darauf verweisen, daß es kein neues Gesetz mit einer festgeschriebenen Frist für Arbeiter gibt. — Ausgetragen wird das auf dem Rücken der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.
Bei der Harmonisierung bestehender Vorschriften muß es darum gehen, die jeweils günstigere Regelung für alle Arbeitnehmer zur Geltung zu bringen. Die Kündigungsfristen für Arbeiter müssen auf des Niveau der Kündigungsfristen für Angestellte angehoben werden. Es darf keine Nivellierung nach unten geben. Das wäre übrigens falsch verstandene Sozialpolitik. Wir wenden uns gegen eine Verschlechterung der sozialen Schutzfunktion im Kündigungsrecht für Angestellte. Das wäre ein Rückschritt in das letzte Jahrhundert. Das Gerichtsurteil darf nicht als Freibrief mißverstanden werden, eine sozialpolitische Errungenschaft für die Hälfte der Beschäftigten auszuhebeln.
Den Tarifvertragsparteien steht es frei, abweichende, differenzierte Regelungen auszuhandeln. In der Regel wird es sich um bessere als die gesetzlichen Vorschriften handeln. Die Möglichkeit der Differenzierung, die von den Richtern ausdrücklich für zulässig erklärt wird, wenn es dafür sachliche Begründungen gibt, sollte der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien überlassen, die über weitaus größere Sachkenntnis und Nähe zur Praxis verfügen.
Bei dem Stichwort Praxis fällt mir im übrigen ein: Ein im Wirtschaftsrat der CDU/CSU an herausragen-
der Stelle tätiger Unternehmer hat in seinen Betrieben längst die gleichen Kündigungsbestimmungen für Arbeiter und Angestellten eingeführt.
Die Angleichung der Kündigungsfristen ist ein Schritt auf dem Weg zu einem einheitlichen Arbeitsrecht in einer modernen Arbeitswelt. Der Kündigungsschutz ist ein wesentlicher Teil unseres sozialen Rechtsstaates und bekräftigt, daß es sich bei Arbeitnehmern um Menschen handelt und nicht um die Arbeitskraft als Ware.
Erwähnt werden muß auch, daß die Weiterentwicklung des Arbeitsrechts insgesamt und des Arbeitsschutzes im Sinne einer Humanisierung und Qualität des Arbeitslebens dazugehören. Die Humanisierung ist auch ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft. Ganz entscheidend hängt die Produktivität von der Gesundheit, den Fähigkeiten und der Einsatzbereitschaft der arbeitenden Menschen ab.
Angesichts der Europäisierung und der Internatio-nalisierung unserer Beziehungen dürfen internationale Regelungen auf niedrigerem Niveau nicht dazu herhalten, den eigenen Standard zu verschlechtern oder gar abzubauen. Es ist ja schon interessant: Wenn Europa etwas Besseres hat, dann gilt das nicht als Beispiel, aber wenn es etwa Schlechteres hat, dann ist das für uns immer ein Beispiel. Das ist Sozialpolitik der Konservativen.
Wie ernst es die Koalitionsabgeordneten mit dem Kündigungsrecht der Arbeitnehmer halten, zeigt sich auch daran, daß sie es nicht einmal für notwendig hielten, in der Schlußberatung im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu diskutieren. Ich fand das makaber, und ich sage das hier auch. Man muß schon bald sagen: Wo sind eigentlich die Verfassungsfeinde?
Ich bin darauf gespannt, wie Sie die Ablehnung heute begründen. Ich möchte die Koalitionsvertreter nochmals auffordern, sich bei der Fortentwicklung des Kündigungsrechtes für Arbeiter im Sinne einer Angleichung an die Bestimmungen für Angestellte nicht zu verschließen. Revidieren Sie Ihre ablehnende Haltung zu unserem Gesetzentwurf!
Die Kollegen und Kolleginnen aus den neuen Bundesländern insbesondere in den Koalitionsfraktionen möchte ich ganz besonders ansprechen. Beginnen Sie Ihre Tätigkeit in diesem Hause nicht als Bremser eines sozialen Kündigungsrechts!
Sie legen sonst den Grundstein für die Teilung der Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern. Stimmen Sie der Empfehlung, den Antrag abzulehnen, nicht zu, sondern fördern Sie ein den modernen Industriegesellschaften entsprechendes Arbeitsrecht, und das heißt: ein Kündigungsrecht, wie es der heutigen Zeit entspricht!