Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 3. Oktober vollzieht sich das in
Staatsform, was heute schon Realität ist: die Einheit Deutschlands. Es sollte bei der Betonung dessen, was hier „Freude" genannt worden ist, nicht unterschlagen werden, daß in dieser Entscheidung auch ein Element der Resignation mitschwingt und daß dieses Element der Resignation für die Stimmungslage in dem Gebiet, das heute noch die DDR ist, durchaus nicht untypisch ist. Selbstachtung und Selbstbewußtsein sind Dinge, die viele Menschen dort drüben häufig schmerzhaft vermissen. Diese Haltung werden wir durch blumige Reden, die die konkreten Schwierigkeiten dieses Umgestaltungsprozesses vernebeln, nicht verändern können. Was heute not tut, ist nicht das Schönreden der grauen Wirklichkeit, das Umfärben derselben mit Hilfe von Statistiken. Was heute not tut, sind in der Tat Solidarität und Hilfe auf allen Ebenen staatlicher Verwaltung hier in der Bundesrepublik.
Meine Damen und Herren, wenn man von Hilfe und Solidarität spricht, dann kann man es aber nicht bei der bloßen Versprechung derselben belassen, sondern man muß, bitte schön, auch hinzufügen, wie man diese Solidarität und Hilfe, die sich in Zahlen ausdrükken soll, finanzieren möchte.
Hier ist es in letzter Zeit modern geworden, die Länder zu schelten, sie würden es an dieser Solidarität mangeln lassen. Wir müssen für Niedersachsen — ich denke, das gilt auch für eine Reihe anderer Bundesländer — diesen Vorwurf zurückweisen. Wir haben uns von Beginn des Einigungsprozesses an — Niedersachsen war eines der ersten Länder, die das taten — im bilateralen Verhältnis zu unserem Partnerland Sachsen-Anhalt um aufwendige und rasche Soforthilfe bemüht. Wir tun das auch weiterhin und werden sie nicht einstellen.
Aber, meine Damen und Herren, diese Hilfe ist aus den Haushalten der Gemeinden und der Länder zu finanzieren. Wenn ich sage, wir wollen diesen Beitrag, der uns in erheblichem Maße belastet, auch weiterhin leisten, dann muß ich mich gegen eine Politik verwahren, die noch vor wenigen Wochen betont hat, diese Einheit sei „aus der Portokasse" zu zahlen, und nunmehr in einem einseitigen Vertrag zu Lasten Dritter verfehlte Entscheidungen von den Ländern und Gemeinden finanzieren lassen will.
Es ist an der Bundesregierung, nun endlich klar und durch Zahlen fundiert darzulegen, wie diese Lasten finanziert werden sollen. Ich sage auch — ich weiß, daß das unpopulär ist — : Mit Kürzungen im Bundeshaushalt allein wird das nicht gehen. Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden: Ohne eine Erhöhung der Steuerlasten und der Einnahmen, d. h. ohne eine Finanzierung auch über einen Solidarbeitrag der Bürgerinnen und Bürger, wird sich das nicht machen lassen. Wir sollten aufhören, so zu tun, als käme man um diese Frage herum. Wir sollten statt dessen eine sehr viel vernünftigere Debatte führen, nämlich die Debatte darüber, wie die Lasten, für den
17456 Deutscher Bundestag — 11. — 221. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. August 1990
Minister Trittin
einzelnen oder die einzelne sozial gerecht verteilt, aufgebracht werden können.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Eine Mehrwertsteuererhöhung ist das Unsozialste, was man sich hier denken kann.
Meine Damen und Herren, neben Solidarität und Hilfe bedarf es in dieser Situation auch des Rechtsfriedens. Wer von Rechtsfrieden redet, darf nicht neue Tatbestände und Schnüffelmöglichkeiten schaffen, wie es mit den Neuregelungen zum § 218 oder der unsäglichen Regelung zum § 175 des Strafgesetzbuches nun vorgesehen ist. Mit der vorgesehenen Neuregelung zum § 218 StGB soll ein Handeln, nämlich die Vornahme einer Abtreibung, strafbar sein, nur weil derjenige nicht in dem Gebiet wohnt, wo er es hätte tun dürfen, wenn er dort wohnen würde.
Ich halte es dem Rechtsfrieden für nicht dienlich, eine Wahlgesetzgebung zu verabschieden, die in verfassungswidriger Weise eine einseitige Bevorzugung gerade der DSU und der CSU bewerkstelligen will.
Schließlich und endlich halte ich es für mit dem Rechtsfrieden kaum vereinbar, die Probleme der Zuwanderung von Menschen aus anderen Ländern damit zu verquicken, daß das Recht auf politisches Asyl in Frage gestellt wird. Auch dies sei an die Adresse von Herrn Lafontaine gerichtet.
Ich halte die vorgesehenen vermögensrechtlichen Regelungen im Vertragsentwurf, die eine klare Priorität der Rückgabe vor Entschädigung vorsehen, in keiner Weise für mit dem Rechtsfrieden vereinbar. Man kann doch bei dem Versuch der Korrektur der Geschichte nicht so tun, als brauche man sich lediglich wie in einem Gerichtsverfahren bei einer prozessualen Lösung mit der Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu begnügen.
Meine Damen und Herren, Niedersachsen wird einem Einigungsvertrag nicht zustimmen können, der die erforderliche Abwägung nicht so vornimmt, daß die Entschädigung den klaren Vorrang vor der Rückgabe hat. Ein solcher Einigungsvertrag wäre schon allein deswegen nicht zustimmungsfähig, weil er nicht nur die ökologische und soziale Krise der DDR zum Dauerzustand erheben würde, sondern weil er eben auch und gerade der hier so viel beschworenen marktwirtschaftlichen Entwicklung dieser Länder vehement im Wege steht.