Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bitte meinen Vorredner, Ministerpräsident Lafontaine, es nicht als Mißachtung zu empfinden, wenn ich nicht breit auf seine Ausführungen eingehe. Dabei spielt die Tatsache eine Rolle, daß er keinerlei Alternativen zur Regierungspolitik aufgezeigt hat — an keiner Stelle.
Er hat das Geschehen kommentiert.
Das war teilweise interessant, z. B. seine Ausführungen über Nation Europa im Vergleich zu den Nationen. Wir haben da keine Probleme. Wir sind nicht nur die Deutschland-Partei, wir sind auch die Europa-Partei.
Aber wenn Sie schon einen Vergleich mit den Vereinigten Staaten von Amerika anstellen, dann muß man einen wesentlichen Unterschied nennen: In den USA sind die Einzelstaaten nur administrative Einheiten; in Europa sind die Staaten Gehäuse der nationalen Kulturen, der französischen, der italienischen, der britischen und der deutschen Kultur. Sie werden erhalten bleiben. Sie zu beseitigen wäre ein Unglück für die Welt; aber das wollen Sie ja auch nicht.
Meine Damen und Herren, die Integration von Ausländern steht dem nicht entgegen. Es ist selbstverständlich, daß wir dazu bereit sind. Nachdem Sie, Herr Lafontaine, in den letzten Wochen neue Erkenntnisse zum Asylrecht gewonnen haben,
wäre es gut, wenn Sie Ihre Partei dazu bringen könnten, nun auf die Vorschläge einzugehen, die wir bereits seit Jahren machen.
Vielleicht könnte in dieser für das Leben der Bevölkerung außerordentlich wichtigen Frage ein nationaler Konsens entstehen.
Ich will noch ein Zweites zu Ihren Ausführungen sagen. Diese Regierung hat die Opposition nun wirklich nicht von der Mitwirkung am politischen Geschehen ausgeschlossen. „Wir brauchen die Opposition
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 221. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. August 1990 17449
Dr. Dregger
nicht" — das ist kein Wort, das der Bundeskanzler oder ich ausgesprochen haben; das hat einmal Herbert Wehner gesagt. Wir waren uns immer darüber klar, daß wir im deutschen Einigungsprozeß natürlich auch die Opposition, insbesondere die größte Oppositionspartei, die SPD, brauchen.
Ich möchte mich für die Zusammenarbeit, die wir in den letzten Wochen weitgehend erlebt haben, bei Ihnen, Herr Kollege Vogel, ausdrücklich bedanken.
Wir haben natürlich keinen Runden Tisch eingerichtet. Runde Tische braucht man dort, wo die Demokratie noch nicht verwirklicht ist.
Der Runde Tisch hier ist dieses Parlament, ist dieses Haus, in dem jeder seine Meinung sagen kann.
Wir, die CDU/CSU, begrüßen und unterstützen die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers, d. h. seine so überaus erfolgreiche Deutschlandpolitik.
Die Zweistaatlichkeit Deutschlands wird am 3. Oktober beendet sein. Von diesem Zeitpunkt an wird es nur noch ein deutsches Parlament und nur noch eine deutsche Regierung geben, die für Deutschland und für das ganze deutsche Volk sprechen können. Damit, meine Damen und Herren, geht ein Ziel in Erfüllung, für das wir, die Union, über die Jahrzehnte hinweg ohne Schwanken eingetreten sind, seitdem es uns gibt.
Die Entscheidung über den Beitritt der DDR gemäß Art. 23 lag allein bei der Volkskammer der DDR. Wir beglückwünschen unsere Kolleginnen und Kollegen zu ihrem Beschluß, den sie am heutigen Morgen gefaßt haben.
Wir danken in dieser Stunde vor allem dem Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière, und seiner Regierung
für die schwere und erfolgreiche Arbeit, die sie aus dem Stand heraus — ohne Vorbereitung, ohne Erf ah-rung, ohne einen leistungsfähigen administrativen Unterbau, ohne Bundesländer und ohne eine kommunale Selbstverwaltung, wie wir sie kennen — übernehmen mußten.
Ich bin sicher, daß unsere Kolleginnen und Kollegen in der DDR, insbesondere Lothar de Maizière, in der geschichtlichen Würdigung eine besseren Platz erhalten werden, als es aus der Kritik der letzten Wochen herausgeklungen ist.
Lothar de Maizère und diejenigen, die ihn unterstützt haben, haben im besten preußischen Sinne ihre Pflicht erfüllt.
Jede darüber hinausgehende Einzelwertung mag ungerecht sein. Trotzdem möchte ich eine Frau und zwei Männer hervorheben. Ich meine die Präsidentin der Volkskammer, Frau Bergmann-Pohl,
die dem ersten freien Parlament für das Gebiet der DDR nach Jahrzehnten der Unterdrückung mit Würde, Augenmaß und Charme vorgestanden hat.
Ich nenne den Fraktionsvorsitzenden der CDU , Günther Krause, der auch als Verhandlungsführer der DDR eine ganz ungewöhnliche politische Leistung erbracht hat.
Ich nenne schließlich den bisherigen Fraktionsvorsitzenden der SPD in der Volkskammer, Richard Schröder, der bis zu seinem Rücktritt vor wenigen Tagen unserem Land als Demokrat und deutscher Patriot in vorbildlicher Weise gedient hat.
Meine Damen und Herren, es gibt vier Daten der deutschen Revolution, die von besonderer Bedeutung sind: der 9. November 1989, die Öffnung der Mauer, der 16. Juli 1990, die Einigung zwischen Kohl und Gorbatschow im Kaukasus, der 3. Oktober 1990, der Tag des Beitritts der DDR, und schließlich der 2. Dezember 1990, die gesamtdeutsche Bundestagswahl.
Schon der Beginn dieser deutschen Revolution, die Demonstrationen von Tausenden, Hunderttausenden und Millionen Landsleuten in der DDR, war ungewöhnlich. Diese Demonstrationen verliefen ohne jede Gewalt von seiten der Demonstranten. Diese waren nicht vermummt. Sie trugen Kerzen durch die Straßen ihrer Städte und stellten sie den Bewaffneten vor die Stiefel. Die Welt hat es, durch die modernen Medien vermittelt, gesehen — mit Erstaunen, mit wachsendem Respekt und schließlich mit Bewunderung. Unsere Landsleute in der DDR haben damit, wie ich es schon in meinem kurzen Beitrag am 9. November 1989 in diesem Hause gesagt habe, ein moralisches Kapital geschaffen, das jetzt dem ganzen deutschen Volk zugute kommt.
Wir akzeptieren den 3. Oktober 1990 als den Termin des Beitritts, den die Volkskammer beschlossen hat. Im Hinblick auf die außenpolitischen Aspekte war es der frühestmögliche Termin.
Der Wahltermin vom 2. Dezember, meine Damen und Herren, ist — leider — nicht der frühestmögliche Termin. Aus diesem Hinauszögern einer wesentlichen vertrauensbildenden Maßnahme ergeben sich Nachteile. Hierfür tragen Sie, meine Damen und Herren von der SPD, die Verantwortung, weil Sie sich im Hinblick auf die notwendige Zweidrittelmehrheit einem früheren Wahltermin verweigert haben. Wir werden es auch so schaffen. Ich bin davon überzeugt, daß die
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auf Baisse gerichtete Spekulation Ihres Kanzlerkandidaten Lafontaine nicht aufgehen wird.
Ich hatte zu Beginn meines Beitrags den 16. Juli als wesentlichen Tag für den Prozeß der deutschen Einigung bezeichnet. Dieser Tag steht für den geschichtlichen Augenblick, in dem die Sowjetunion der staatlichen Einheit Deutschlands im westlichen Verbund zugestimmt hat. Dies bei den Gesprächen im Kaukasus mit Gorbatschow erreicht zu haben, ist die bisher größte staatsmännische Leistung des Bundeskanzlers Helmut Kohl.
Damit tritt das Deutschland des Jahres 1990 außenpolitisch unter besseren Bedingungen in die Geschichte ein als das Bismarck-Reich von 1871. Die geschichtliche Erfahrung aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es, daß wir als Land in der Mitte Europas nicht ohne Verbündete leben können. Unsere Mitgliedschaft in der NATO verhindert eine Wiederholung dessen, was in den beiden ersten Weltkriegen passierte.
Aber wir verkennen nicht unsere Aufgabe als Land in der Mitte Europas. Als Teil des Westens werden wir alles tun, um den Ausgleich mit dem Osten, mit der Sowjetunion, und unseren mittel-osteuropäischen Nachbarn, den Ungarn, den Tschechen und Slowaken und den Polen, herbeizuführen. Meine Damen und Herren, welch eine Chance, daß wir jetzt mit Zustimmung aller unserer Nachbarn die Einheit Deutschlands, damit aber auch die Einheit Europas herstellen können.
Ist das für uns wirklich mit untragbaren Lasten verbunden? Ich frage umgekehrt, in die entgegengesetzte Richtung zielend — das ist die Zukunftsrichtung, die die Welt längst erkannt hat — : Wann hätte es das je gegeben, daß in einer seit Jahren prosperierenden Volkswirtschaft wie der unseren, deren knappstes und wertvollstes Gut die leistungsfähigen Menschen sind, 16 Millionen Deutsche, Menschen wie wir, der gleichen Sprache, der gleichen Mentalität und des gleichen Arbeitswillens, hinzugetreten sind? Begreifen unsere Kleingeister, die in diesem sich vereinenden Deutschland eine Politik des Neides nach beiden Seiten machen, eigentlich, wie sehr sie sich an unserer Zukunft versündigen?
Gewiß, wir haben einen Berg von Problemen zu lösen; das haben wir immer gewußt und auch gesagt. Aber wir haben auch gesagt, daß wir uns zutrauen, diese Probleme zu lösen. Das werden wir auch können. Niemand hat Anlaß, daran zu zweifeln. Das Wichtigste, was wir als Bundesrepublik Deutschland in das vereinte Deutschland einbringen, ist nicht unsere gegenwärtige Prosperität; die muß auch immer neu erwirtschaftet werden. Das Wichtigste — das ist auch die Basis jener Prosperität — sind Freiheit und Recht, ist die Rechtsstaatlichkeit, an der es in der DDR bislang völlig gefehlt hat. Die Diktatur hat die Menschen zu Untertanen gemacht, nicht zu Bürgern, und
das wird sich ändern. Das ist die wesentlichste Änderungen für die DDR.
Ich sage daher: Wichtiger noch als die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ist die Rechts- und Verfassungsunion, ist die Einheit Deutschlands auf der Grundlage der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte. Der 3. Oktober 1990 ist ein glücklicher Tag in der Geschichte unseres Volkes und Europas.