Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands begrüße ich den Beschluß der Volkskammer der DDR, den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik mit Wirkung vom 3. Oktober festzustellen. Wir begrüßen diesen Beschluß deshalb, weil er die Grundlage für die Menschen in der DDR dar-
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stellt, in Zukunft ihr Leben in Freiheit zu verwirklichen.
Wir sehen in diesem Beschluß aber auch die Grundlage für die große Zukunftsaufgabe, die sich uns allen jetzt stellt. Die staatliche Einheit, meine Damen und Herren, ist das eine. Sie ist Voraussetzung für das, was jetzt vor uns liegt. Jetzt gilt es, die wirkliche Einheit herzustellen, und die heißt für uns Sozialdemokraten: Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse für die Menschen in der DDR und in der Bundesrepublik.
Es ist an diesem Tag geboten, sich mit Dank an die Menschen zu erinnern, ohne die dieser Beschluß nicht möglich geworden wäre. Es ist richtig, in dieser Stunde an die politisch Verfolgten in der DDR zu erinnern. Sie haben in der Zeit der Unterdrückung die Demokratie lebendig gehalten. Sie haben durch ihr persönliches Opfer deutlich gemacht, daß der Mensch nur dann ein erfülltes Leben haben kann, wenn er in Freiheit lebt. Sie haben deutlich gemacht, daß jedes System, das zur Unterdrückung greift, weil es glaubt, ein vermeintliches Paradies in Zukunft zu verwirklichen, zum Scheitern verurteilt ist,
weil der Freiheitswille der Menschen nicht auszurotten ist.
Wir erinnern an die politisch Verfolgten. Natürlich erinnere ich für die SPD an die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Hitler-Faschismus in der DDR weiter im Widerstand waren und zu Tausenden in die Konzentrationslager gehen mußten bzw. deportiert wurden. Ich erinnere, meine Damen und Herren, an die Flüchtlinge. Nur die Flüchtlinge waren es, die der Weltöffentlichkeit immer wieder deutlich gemacht haben, daß das Unrechtsystem der DDR ein System der Unterdrückung ist. Für meine Generation war das Schicksal des Peter Fechter bedeutend, der am 17. August 1962 den Tod fand und den ich hier stellvertretend für viele Menschen nennen möchte, die bei der Flucht aus der DDR umgekommen sind.
Ich erinnere an die Bürgergruppen in der DDR, ohne die der demokratische Erneuerungsprozeß in der DDR nicht möglich geworden wäre. Daraus erwachsen uns Verpflichtungen.
Ich erinnere auch an die Rolle, die die Kirchen in der DDR, und in Osteuropa gespielt haben. Ohne die Rolleder Kirchen in der DDR und in Osteuropa gäbe es nicht die Einheit nicht.
Meine Damen und Herren, wir müssen sehen, daß die Freiheitsbewegung in Osteuropa ein gesamteuropäischer Prozeß war. Daher war es richtig, auch an die zu erinnern, ohne die die Erneuerung in der DDR nicht
möglich geworden wäre, an die polnische Solidarnosc und an die Charta 77.
Es ist auch geboten, den Politikerinnen und Politikern zu danken, die am Anfang dieser Entwicklung standen und die sie über Jahre ermöglicht haben. An erster Stelle steht Michail Gorbatschow, ohne dessen Reformpolitik in der Sowjetunion weder die Erneuerung in Osteuropa noch die demokratische Erneuerung in der DDR möglich geworden wäre.
Das Entscheidende der Politik Gorbatschows ist der Versuch, die Sowjetunion zu europäisieren. Es wird in diesen Jahren unsere Verantwortung sein, ob wir erkennen, daß dieser Versuch der Europäisierung der Sowjetunion einer konstruktiven Antwort des Westens bedarf. Dies verlangt vor allem von uns, uns jetzt nicht nur auf die deutsch-deutschen Probleme zu konzentrieren, sondern die Interessen der Völker OstEuropas mit einzubeziehen und die Interessen der Sowjetunion sorgfältig abzuwägen.
Es ist richtig, in dieser Stunde an die Unterstützung der westlichen Verbündeten zu erinnern; an François Mitterrand, der nach anfänglichen Differenzen, die auch jetzt nicht verschwiegen werden sollen, den Prozeß der deutsch-deutschen Einheit europäisch abgestützt hat, und an George Bush und an die übrigen Verbündeten, ohne deren Unterstützung die deutsche Einheit nicht möglich geworden wäre.
Aber es ist ebenso notwendig — hier ergänze ich den Bundeskanzler — , an die Leistungen der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland in den letzten 40 Jahren zu erinnern.
Ohne die Westintegration Adenauers wäre dieser Weg nicht möglich gewesen. Aber ohne die Ostpolitik Willy Brandts wären wir nicht da, wo wir heute stehen.
Ohne den KSZE-Prozeß, den die Regierung Schmidt gegen viele Widerstände auf den Weg gebracht hat, wäre es nicht möglich, die deutsche Einheit heute zu feiern.
Nach der Erinnerung an die Leistungen der sozialdemokratischen Kanzler stehe ich nicht an, auch Ihre Leistung, Herr Bundeskanzler Kohl, im Kaukasus hier zu erwähnen. Das Ergebnis im Kaukasus war ein großer Erfolg Ihrer Regierung, weil es eine Weichenstellung für Gesamtdeutschland war, von der die Menschen in Deutschland profitieren.
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Nicht unerwähnt lassen möchte ich an dieser Stelle — das werden Sie verstehen — die Verdienste des Bundesaußenministers, der in Ihrer Regierung die Kontinuität der Ostpolitik der Regierungen Brandt und Schmidt gewahrt hat
und sicher einen Anteil daran hat, daß der anfänglichen Konfrontation eine besonnene Politik Platz gemacht hat.
Ich anerkenne auch — hier begrüßen wir alte Bekannte —, daß der Erfolg im Kaukasus nur durch die Anerkennung der polnischen Westgrenze, durch die Halbierung der Truppen und durch die Festlegung möglich geworden ist, daß die DDR eine atomwaffenfreie Zone ist. Ich begrüße dies nach all den Debatten, die wir in den letzten Jahren um diese Themen geführt haben, ausdrücklich.
In diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren, unterstützen wir die Erklärung des Bundesaußenministers vom gestrigen Tag. Der endgültige Verzicht des neuen Deutschlands auf ABC-Waffen ist langjährige Forderung der deutschen Sozialdemokratie.
Wenn wir uns die Stationen des Einigungsprozesses in den letzten Jahrzehnten vergegenwärtigen, dann müssen wir erkennen, daß er uns zwei Verpflichtungen für die Zukunft hinterläßt. Dies ist das Entscheidende: Wir müssen den Einigungsprozeß demokratisch organisieren. Das sind wir all den Menschen schuldig, die als Verfolgte oder als Bürgerrechtler unter den kommunistischen Diktaturen für die Demokratie gestritten haben.
Und wir müssen den Prozeß europäisch organisieren, weil es, insbesondere in Osteuropa, nicht verstanden würde, wenn wir jetzt dem Fehler erliegen würden, uns allzusehr auf die deutsch-deutschen Fragen zu konzentrieren.
Der Appell, den Einigungsprozeß demokratisch zu organisieren, meine Damen und Herren, hat natürlich Konsequenzen.
Erstens. Wir müssen endlich entscheiden, daß es eine Verfassung erst dann gibt, wenn das Volk über die Verfassung abgestimmt hat.
Daher mein Appell an Sie: Sorgen Sie dafür, daß bald
der Verfassungsrat konstituiert werden kann und daß
bald die Deutschen in Ost und West als der Souverän
über die Grundlagen ihres Zusammenlebens abstimmen können.
Zweitens. Die Demokratie erfordert eine Stärkung des Föderalismus. Wir haben gerade in der Bundesrepublik in den letzten 40 Jahren mit dem Föderalismus gute Erfahrungen gemacht. Wenn es da oder dort Besorgnisse über ein größer werdendes Deutschland gibt, dann ist die richtige Antwort eine Stärkung des Föderalismus, zusammen auch mit den neuen Ländern, die in der DDR gebildet werden.
Demokratie bedeutet für uns Sozialdemokraten auch Herstellung der Wettbewerbsgleichheit der Parteien, der Chancengleicheit der Parteien in der DDR.
Das heißt, eine klare Regelung für das Blockvermögen der SED und der Blockparteien ist erforderlich, bevor es einen Einigungsvertrag geben kann.
Meine Damen und Herren, ich sprach von der Verpflichtung den Einigungsprozeß europäisch zu organisieren. Dies setzt uns vor die Aufgabe, uns darüber zu verständigen, was wir zukünftig eigentlich unter „Nation" begreifen wollen. Es ist so viel von der nationalen Frage die Rede gewesen. Aber wir müssen sehen, daß es gilt, wie es Carlo Schmid hier einmal am 25. Februar 1972 formuliert hat, eine Nation Europa zu bauen. Dieser große Sozialdemokrat sagte am damaligen Tage:
Eine Nation kann man nicht durch Vertragsartikel dekretieren und auch nicht durch Vertragsartikel wegdekretieren. Das Entscheidende ist, nicht Verträge von Staat zu Staat schaffen die Nation, sie wird zu sich selber dadurch, daß die Menschen eines Landes als Nation leben wollen, daß sie entschlossen sind, als Gemeinschaft zu handeln und zu leiden, weil sie gemeinsam ihre Seele in bestimmten Menschheitswerten entdekken und diese auf ihrem Gebiet verwirklichen wollen. Das macht die Nation aus; sie ist
— so sagte Carlo Schmid in Anlehnung an den Franzosen Ernest Renan —
ein Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt.
...natürlich müssen wir zu Europa kommen. Aber wenn dieses Europa wirklich Europa sein soll, wird es eines schönen Tages eine Nation Europa geben müssen. Bis dahin wird es nur ein Zusammenschluß, ein Verband von Staaten sein können; um eine wirklich geschichtsmächtige politische Kraft werden zu können, wird es die „Nation Europa" brauchen.
Meine Damen und Herren, dies ist eine Auseinandersetzung, die uns noch bevorsteht, weil entscheidende Bestimmungen unserer Verfassung einem solchen Nationenbegriff noch entgegenstehen. Ich erin-
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nere an den Art. 116 des Grundgesetzes. Der Art. 116 des Grundgesetzes nimmt auf die Abstammung der Staatsbürger Bezug und erklärt sie für konstituierend hinsichtlich der Zugehörigkeit zur Nation.
Die Zeit, meine Damen und Herren, ist über diese Einstellung, die vielleicht noch zu Beginn des Grundgesetzes verständlich war, hinweggegangen.
Wir sind längst zu einer anderen Gemeinschaft geworden. Es leben auf dem Territorium der Bundesrepublik mittlerweile über fünf Millionen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, und es entspricht unserem Verständnis, wie die deutsche Einheit anzugehen ist, daß ich gerade an diesem Tag an diese fünf Millionen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger erinnere.
Was hat dies mit unserem Nationenbegriff zu tun? Wir müssen uns orientieren an dem Nationenbegriff der Vereinigten Staaten, an dem Nationenbegriff Frankreichs oder an dem Nationenbegriff der Schweiz. Es wird unmittelbar einsichtig sein, daß ein Art. 116 nicht für die Französische Republik, für die Vereinigten Staaten oder gar für die demokratische Schweiz konstituierend sein könnte. Konstituierend für die Zugehörigkeit zur Nation — dies ist das Entscheidende, und dies heißt die Nation Europa bauen — muß in Zukunft sein, daß sich eine Gemeinschaft von Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern zu den gleichen Zielen der Verfassung bekennt,
die bereits in der bürgerlichen Revolution in Frankreich vorgegeben waren. Die Werte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die wir heute um den Wert der Schwesterlichkeit ergänzen, sind nicht in den Grenzen einer nationalen Kultur zu definieren, sondern sie sind universalistische Werte, auf die wir uns verpflichten müssen, wenn wir denn die Vereinigten Staaten von Europa schaffen wollen.
Denn es geht nicht nur darum, durch die Veränderungen in Osteuropa die gleichen Lebensbedingungen für die Menschen in der DDR wie für die Menschen in der Bundesrepublik herzustellen. Es geht genauso darum, nach dem Öffnen der Grenzen mit einer großen Herausforderung fertigzuwerden, die ich die Armutswanderung aus den Ländern Osteuropas nenne. Ihre Bewältigung wird eine der großen Aufgaben der Zukunft sein. Wenn wir über die Armutswanderung aus den Ländern Osteuropas sprechen, dann müssen wir redlicherweise sagen: Es gilt, die sozialen Voraussetzungen für die Integration dieser Menschen zu schaffen, d. h wird müssen Wohnungen bereitstellen, d. h. wir müssen Arbeitsplätze anbieten können, d. h. wir brauchen öffentliche Einrichtungen, die bei uns in weitaus zu geringem Maße zur Verfügung stehen.
Ich sage ohne jede Einschränkung: Wir sind als eine der reichsten Nationen der Welt verpflichtet, Hilfe anzubieten und die Integration unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger zu bewerkstelligen.
Ich füge aber ebenso hinzu, daß wir redlicherweise denen, die sich hier engagieren, sagen müssen, daß die Integration auf Grenzen stößt, daß wir von heute auf morgen nicht all das leisten können, was vielleicht im Interesse der Humanität wünschenswert wäre. Daher biete ich noch einmal an, über das Problem der verstärkten Einwanderung aus den Ländern Osteuropas zu sachlichen Gesprächen zwischen den großen Parteien zu finden.
Meine Damen und Herren, es geht um die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in der DDR. Ich sage dies ganz klar, weil sich ein unterschiedliches politisches Konzept hinter dieser Formulierung verbirgt. Wer zu stark auf die staatliche Einheit fixiert ist oder auf sie setzt, verliert allzuleicht die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse aus dem Auge. Entscheidend ist zuerst — dies ist das Politikverständnis der deutschen Sozialdemokratie — , wie es dem einzelnen geht, wie er konkret leben kann. Dann stellen wir die Frage nach der staatlichen Organisation, aber nicht umgekehrt.
Im Vordergrund steht jetzt die Klärung der ökonomischen, der sozialen und der ökologischen Fragen und — meine Damen und Herren, das ist viel zu kurz gekommen — der kulturellen Fragen, die der Einigungsprozeß aufwirft. Zu den ökonomischen und sozialen Entscheidungen ist einiges gesagt worden. Ich sage für die deutschen Sozialdemokraten im Hinblick auf den Einigungsvertrag noch einmal: Es bedarf einer rechtlichen Klärung der Eigentumsverhältnisse, um endlich zu mehr Investitionen in der DDR zu kommen.
Es war ein schwerer Fehler, Graf Lambsdorff, daß Sie im Monat Mai das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" öffentlich gefordert haben und daß das lange Zeit auch das Verhalten der Regierungsparteien bestimmt hat. Dies zu fordern hat durchaus gute Gründe. Aber es ist nicht möglich. Wenn wir wirklich zu schnellen Investitionen in der DDR kommen wollen, dann brauchen wir eine schnelle Verfügbarkeit des Bodens. Dies geht nur, wenn wir dieses Prinzip umkehren: Wir müssen in erster Linie entschädigen und erst in zweiter Linie auf die Rückgabe setzen.
Zweitens. Meine Damen und Herren, es muß eine Klärung für die Altschulden gefunden werden. Es ist richtig, daß dies immer wieder angemahnt worden ist. Ingrid Matthäus-Maier hat frühzeitig auf das Problem aufmerksam gemacht, das entsteht, wenn die maroden Betriebe in der DDR mit den erhöhten Zinssätzen aus dem Westen konfrontiert werden. Eine Klärung der Altschulden ist notwendig — dies ist das Ergebnis aller Gespräche, die ich bisher mit der Landwirtschaft oder mit den Unternehmern aus der DDR geführt habe.
Drittens. Dringend notwendig — und dies sage ich im Hinblick auf den Einigungsvertrag — ist eine Klä-
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rung der Frage des öffentlichen Dienstes. Die Sozialdemokraten können nicht akzeptieren und werden nicht zulassen, daß man die Frage des öffentlichen Dienstes dadurch zu regeln versucht, daß man das Personal in die neuen Länder oder in die Gemeinden der DDR schiebt. Sie wären dann von Anfang an handlungsunfähig. Dies ist keine Lösung der Frage des öffentlichen Dienstes.
Viertens. Ich appelliere noch einmal an Sie auf der Regierungsbank, Herr Bundeskanzler. Es kann geschehen, daß man sich, wenn es um die Kosten der Einheit geht, verschätzt. Bei solchen Umstellungsprozessen ist dies im Grunde die Normalität. Aber wenn man sich bei den Kosten verschätzt hat, dann ist dies kein Grund dafür, möglichst zu verschweigen, was denn die Kosten der Einheit sind. Dies schafft keine Grundlage für ein geregeltes Miteinander der demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik, wenn es darum geht, sich über die Finanzierung der Kosten der Einheit zu verständigen. Das gilt nicht nur für Bund, Länder und Gemeinden. Das gilt für den Haushalt des nächsten Jahres, bei dem Sie ja unsere Unterstützung, so nehme ich an, haben wollen.
Ohne die Klärung der Kosten der Einheit sind viele andere Fragen nicht zu regeln. Ich sprach von der ökologischen Erneuerung. Ich spreche hier nur zwei Themen an. Bei dem Ausbau der Verkehrsstrukturen wollen wir nicht die gleichen Fehler machen wie in der Bundesrepublik, und bei der notwendigen Erneuerung der Energieversorgung können wir nicht nur auf Monopolbildung setzen.
Die Gemeinden müssen an der Energieversorgung beteiligt werden. Ich habe hier moniert, meine Damen und Herren, daß man es versäumt hat, die Gewerkschaften rechtzeitig am Einigungsprozeß zu beteiligen. Ich ergänze: Es wäre besser gewesen, auch den Städte- und den Gemeindetag mehr in die Beratungen einzubeziehen.
Ich sprach davon, daß wir viel zuwenig darüber geredet haben — und dies ist meine feste Überzeugung —, was dieser Einigungsprozeß eigentlich kulturell bedeutet. Ich zitiere hier Vaclav Havel, der in einem Brief an Gustav Husak aus dem Jahre 1975 beschrieben hat, wie es Menschen geht, die unter einer kommunistischen Diktatur leben müssen. Er schreibt:
Obwohl niemand darüber spricht, fühlen die Menschen sehr genau, womit ihre äußere Ruhe erkauft wird: durch ständige Erniedrigungen ihrer Menschenwürde. Je weniger sie sich gegen diese Erniedrigung unmittelbar wehren — sei es, weil sie fähig sind, sie aus ihrem Bewußtsein zu verdrängen und sich selbst einzureden, daß eigentlich nichts besonderes passiert, oder weil sie es einfach schaffen, die Zähne zusammenzubeißen —, um so tiefer prägt sie sich in ihr emotionales Gedächtnis ein. Das alles setzt sich ab und sammelt sich irgendwo am Boden des gesellschaftlichen Bewußtseins an und arbeitet dort leise weiter.
Meine Damen und Herren, die Befindlichkeit einer Gesellschaft, die jahrelang unterdrückt wurde, müssen wir uns vergegenwärtigen, wenn wir darangehen, die deutsche Einheit zu verwirklichen. Das Wort der Erniedrigung, das Havel gebraucht hat, sollten wir uns bewußtmachen. Daher rate ich dazu: Wir müssen den Prozeß der Einheit so gestalten, daß die Mitbürgerinnen und Mitbürger der DDR die Selbstachtung bewahren können, wenn es um die nächsten Wochen und Monate geht.
Dieser Prozeß, meine Damen und Herren, ist ohne die Kulturschaffenden nicht zu bewerkstelligen.
Ich nenne hier, stellvertretend für viele, ganz bewußt Christa Wolf und Günter Grass
und sage: Wir wollen mit ihnen zusammen den Prozeß der deutschen Vereinigung ins Leben rufen.
Kultur, meine Damen und Herren, ist eine Form des Zusammenlebens. Bei all den Fragen der Ökonomie, der Ökologie und der Sozialpolitik sind die kulturellen Fragen des Zusammenlebens für die Befindlichkeit der Menschen oft entscheidend.
Ich erwähne die Diskussion um die Gleichstellung der Frauen in Beruf und Gesellschaft und in diesem Zusammenhang die Diskussion um den § 218. Ich richte hier eine Bitte an Sie, Herr Bundeskanzler, und an die CDU/CSU: Bitte verständigen Sie sich doch mit der Mehrheit dieses Hauses darauf, daß über die Fragen des § 218 in erster Linie die Hauptbetroffenen entscheiden sollten, nämlich die Frauen.
Dann gibt es klare Entscheidungen und klare Mehrheiten.
Selbstbestimmung hat eine Bedeutung für unser Zusammenleben, und Selbstbestimmung äußert sich auch in solch konkreten, schwierigen, persönlichen, existentiellen Entscheidungen. Ich erinnere nicht nur an die Gleichstellung von Frauen in Beruf und Gesellschaft und an den § 218, ich erwähne auch die Gleichwertigkeit des Wehr- und Zivildienstes. Auch diese Frage verdient im Rahmen des Einigungsprozesses und auf der Grundlage der neueren Entwicklung in Osteuropa eine andere Regelung als die, an die wir uns bisher gewöhnt haben.
Ich erinnere, meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang an die Behandlung von Minderheiten, etwa an die Behandlung der Homosexuellen. Über all den ökonomischen und sozialen Fragen, die wir dringend zu lösen haben, dürfen wir die Fragen des Zusammenlebens nicht übersehen, dürfen wir die
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kulturelle Dimension unserer Entscheidungen nicht aus dem Auge verlieren. Demokratie ist so stark, wie sie in der Lage ist, Minderheiten zu schützen und ihnen Rechte zu gewähren.