Rede von
Thomas
Wüppesahl
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(GRÜNE)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GRÜNE)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach diesem mehr autosuggestiven Beitrag versuche ich, noch ein bißchen Außenwirkung zu erzielen.
Zwei kurze Repliken auf Beiträge im Laufe des Vormittags. Graf Lambsdorff formulierte, daß ihm vor der Umweltentwicklung in der DDR nicht bange sei. Neben vielen anderen Beispielen führte er die Einführung schadstoffarmer Motoren in Automobilen an. Ich denke, diese Darstellung macht sehr deutlich, daß das Umweltproblem auf dieser Seite des Hauses nicht begriffen worden ist. Schadstoffarme Autos fahren auch in der Bundesrepublik — zwar noch nicht in der Anzahl, wie es technisch möglich wäre, aber doch in erheblichem Maße — , und wir stehen vor dem Verkehrskollaps. Wir haben gerade wegen des Autoverkehrs in diesem Sommer ein Ozonproblem wie noch nie zuvor und viele andere Probleme allein im Verkehrsbereich. Ich denke wirklich, daß mit einer solchen Äußerung dokumentiert wird, daß die Dimension der Umweltproblematik in keinster Weise begriffen worden ist.
Ein zweiter Gesichtspunkt aus den ersten Stunden der Debatte führt zurück auf den Coup am Wolfgangsee. Die Grundgesetzänderung wurde, wie schon mehrfach bemängelt, über die Presse bekanntgegeben. Erst dann erfolgte das Parteiengespräch — „natürlich" — unter Ausschluß der GRÜNEN. Ich denke, jedem wird klar sein, daß hier nicht der ernsthafte Versuch im Raume stand, eine Zweidrittelmehrheit für eine Grundgesetzänderung herbeizuführen.
Ich denke, daß den wenigsten bewußt geworden ist, was tatsächlich bezweckt worden ist — es konnte ja auch erreicht werden — , nämlich daß der schnelle Beitritt der DDR zur Bundesrepublik spätestens zum 14. Oktober dieses Jahres gesichert ist. Dieser Beitrittstermin stand auf Grund der Position, die Herr de Maizière zwischenzeitlich eingenommen hatte, zur
Disposition und war natürlich nach dem Vorschlag, den Herr de Maizière, selbst als Bauer von unserem Kanzler Kohl vorgeschickt, der Öffentlichkeit unterbreitet hatte, festgeklopft.
Dieser Vorschlag hatte aber noch einen zweiten Zweck. Es war der Test, ob vielleicht doch der Mißbrauch der Mehrheit in diesem Parlament durchgeht, ob man eine manipulierte Vertrauensfrage durchziehen kann. Dieser Test scheiterte. Das Ergebnis aber, die Festlegung des 14. Oktober diesen Jahres als Beitrittstermin, ist ja auch etwas.
Insgesamt — das zeigt auch der heutige Debattenablauf — ist diese Diskussion von gestern und heute ein erneutes Beispiel dafür, wie dieses Parlament, wie schon so oft, nicht der Beratung, sondern dem Wahlkampf der etablierten Parteien dient, und dies auf dem Rücken von Millionen von Wählern. Es gab Redebeiträge, im besonderen von Herrn Minister Blüm, die kaum zur Sache gehalten worden waren, sondern nur allgemeines Trara und Motivationssetzungen etc. enthielten.
Insgesamt zeigt der heutige Debattenablauf den real existierenden Parlamentarismus in der Bundesrepublik Deutschland in wirklich erschreckendster Weise. Ich benutzte bewußt die Vokabel real existierender Parlamentarismus, weil die Verfehlungen, die Verstöße gegen das Grundgesetz und die eigene Geschäftsordnung, die allein in den letzten zwei Jahren praktiziert worden sind — ich konnte sie dokumentieren — , abenteuerlich und atemberaubend sind.
Ein Tugendbold nach dem anderen kommt im Auftrage seiner Partei nach vorne und versucht, den Menschen einzureden, daß man gerade zum Wohle der Menschen in diesem Lande rede. Es ist geradezu süffisant. Man kann es wirklich nur als Theater — in diesem Fall ist es ein klassisches Sommertheater — charakterisieren und das, was der Kanzler an Parlamentsverständnis praktiziert, lediglich als ein Bismarcksches Parlamentsverständnis beschreiben. Das Parlament wird geholt, wenn er es gerade braucht. Die zuständigen Gremien in diesem Parlament, also das Präsidium und der Ältestenrat, machen dies auch mit.
Vergegenwärtigen Sie sich bitte, daß wir diese beiden Tage vom Ergebnis her umsonst aus dem Urlaub geholt worden sind. Beachten Sie auch die Kosten, wobei dies unter Berücksichtigung der Gesamtkosten nebensächlich ist.
Der eigentliche Zweck aber, dieses Wahlgesetz gestern und heute zu verabschieden, ist fehlgelaufen. Das ist ein Gesichtspunkt, der heute morgen bei der Geschäftsordnungsdebatte zu kurz gekommen ist.
Daß das parlamentarische Fiasko, das die Regierung gestern nacht und heute mit der festen Programmierung, daß die Volkskammer dieses Wahlgesetz verabschieden werde, erlebt hat, nicht deutlich geworden ist, zeigt wieder einmal, wie die Oppositionsparteien versagen. Daß die SPD dort nicht draufschlägt, verstehe ich; sie trägt dieses Wahlgesetz letztlich mit. Daß dies aber die GRÜNEN das nicht süffisanter darstellen und den Scherbenhaufen, der gestern und heute angerichtet worden ist, rhetorisch entsprechend ausschlachten, kann ich nicht verstehen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 17429
Wüppesahl
Die Normalität des Parlamentarismus — wie er heute nacht in der DDR-Volkskammer zu einem Teil zum Leben erwacht ist —, daß eben einmal etwas nicht so läuft, wie es die Regierung gerne hätte, wird auch nicht positiv gewürdigt. Wir jedenfalls sind umsonst aus den Ferien gekommen. Wir haben mit diesen beiden Tagen wiederum ein Beispiel dafür, wie saturiert, wie feist unsere Regierung in ihren Sesseln sitzt.
Ich möchte noch ein Detail anfügen. Die Entscheidung der DDR-Volkskammer ist heute nacht gefallen, weit bevor der Dienst in Bonn um 7 oder 8 Uhr aufgenommen wurde. Es gab offensichtlich in der Bundeshauptstadt Bonn niemanden als Stallwache, der diese veränderte Entscheidungsgrundlage hätte umsetzen können.
Dazu möchte ich Ihnen noch folgendes sagen. Ich selbst habe gestern abend um 22.45 Uhr 34 Änderungsanträge zur zweiten Lesung des Wahlgesetzes abgegeben. Mir war es nicht möglich, dies auf offiziellem Wege zu tun. Durch einen Zufall konnte ich die Persönliche Referentin von Frau Süssmuth erreichen.
— Ich bitte, Sie, was für Zustände. Jede Polizeidienststelle, jede Bundeswehrdienststelle hat über Nacht einen Beamten vom Dienst.
Wir haben in diesen zwei Tagen die Situation gehabt, daß ein Gesetz verabschiedet werden soll, das Grundfesten für demokratische Verfahrensabläufe enthält und in der Bundeshauptstadt ist noch nicht einmal jemand in der Lage, eine Entscheidung der Volkskammer, wie sie heute nacht getroffen wurde, parlamentarisch entsprechend umzusetzen, so daß selbst Bundesminister wie Herr Engelhard und andere heute morgen um 9 Uhr völlig überrascht zum Plenum kamen. Das ist in der Tat nur eines von vielen Beispielen dieses real existierenden Parlamentarismus. Ich kann nur davor warnen, ihn dem Gesamtreich in dieser Weise aufzudrücken.
Der Zeitdruck, unter dem die gesamte Beratung erfolgt, ist ja offensichtlich. Diesem Zeitdruck hat diese Regierung es auch zu verdanken, daß die Entscheidung in der DDR-Volkskammer heute nicht so ausgefallen ist, wie sie es gerne gewünscht hätte. Es hat offensichtlich auch nichts genützt, daß die Bündnispartner der DDR-Parteien von Bonn aus ständig ihre Peitschenhiebe nach drüben schallen ließen. Es ist auch nicht schwer auszumachen, wie die Telefonkabel zur Zeit surren und schnurren, um Druck auf die Parteien in der DDR auszuüben, damit dieses Desaster von heute nacht — vor allen Dingen für die Bonner Regierung — schleunigst ausgemerzt werden kann.
Die von mir und vielen anderen prophezeiten Auswirkungen der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion sind eingetreten. Über 200 000 Menschen in der DDR sind mittlerweile arbeitslos geworden. Das ist eine Verdoppelung gegenüber den Zahlen vor Einführung der D-Mark in der DDR. Des Kanzlers Worte vom Wolfgangsee — „Die Menschen in der DDR haben jetzt die Freiheit und die D-Mark" — haben ihre zynische Wirklichkeit gefunden: Über 600 000 Menschen dürfen jetzt in Freiheit kurzarbeiten, wobei
Kurzarbeit in diesem Fall eindeutig Arbeitslosigkeit darstellt.
Die CDU/CSU und FDP hasten zur großdeutschen Macht mit der Gewißheit im Rücken: Wenn die Menschen in der DDR erst einmal erkannt haben, was ihnen im ersten Staatsvertrag als Freiheit und D-Mark angedreht wurde, werden sie schwerlich ihre Stimme der Kohl-Regierung geben. Daraus ergibt sich für die Bundesregierung die zwingende Notwendigkeit, so schnell wie möglich zu wählen, ein Kalkül, dessen sich — allerdings mit anderen Vorzeichen — auch die SPD-Wahltaktik bedient. Hier wird ein Parteienstreit auf dem Rücken Tausender geführt, die neben dem Schaden nun auch noch den Spott haben, als stimmgebende Masse verschoben zu werden.
Das Versagen der Opposition im Deutschen Bundestag scheint nicht durch die Kraft oppositioneller Arbeit, sondern mit dem Vorschlag Bundeskanzler Kohls, der von Herrn de Maizière verkündet wurde, beendet zu sein.
Die SPD stimmte dem ersten Staatsvertrag zu. Meine Damen und Herren, damit werden Sie sich nicht aus der Verantwortung für den augenblicklichen Zustand in der DDR stehlen können. Diese Zustände in der DDR haben wir im Augenblick u. a. auf Grund Ihrer Zustimmung zum ersten Staatsvertrag zu konstatieren. Da nützt auch nichts die Erklärung, die Sie in der Debate zum ersten Staatsvertrag abgegeben haben nach dem Tenor: Wenn es klappt, sind wir dabei; wenn es schiefgeht, können wir nichts dafür.
Ehrenworte haben in der CDU ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Erst hieß es, die Vereinigung werde keine Steuererhöhungen nach sich ziehen. Das war, wenn man es seriös betrachtet, nie zu verwirklichen. Im Interview vom Wolfgangsee am vergangenen Sonntag brachte der Kanzler zwischen den Zeilen zum Ausdruck, daß Steuererhöhungen anstehen.
Darauf sollten sich die Menschen in der Bundesrepublik auch vorbereiten.
Herr Blüm hat es heute noch deutlicher formuliert. In seiner dankenswert naiven und offenen Art formulierte er, daß, wenn der Dammbruch eintritt, die Dammbauer nicht für die Überflutung verantwortlich gemacht werden könnten.