Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Volksvertreterinnen und Volksvertreter! Der Herr Innenminister hat das zum guten Schluß alles sehr pathetisch sagen können. Das hört sich auch alles sehr gut an. Die großen Verdienste des Herrn Bundeskanzlers werden natürlich überhaupt nicht geschmälert. Wer sollte das denn eigentlich tun? Nur, warum hat er dann heute nicht das Wort ergriffen?
— Verzeihen Sie bitte: Er ist doch nun einmal der große Mann
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 17427
Frau Unruh
— rechnen Sie mir bitte den Beifall nicht an —,
der sagt: Ohne mich wäre das nicht erreicht worden. Aber dann doch bitte auch ein Wort des Mutes an die Bürger in der DDR, die selbstverständlich des Mutes bedürfen.
Wenn der Herr Innenminister jetzt sagt, die sind es gewöhnt, alles immer nur einstimmig, jetzt genügt das, da fehlten ja nur neun Stimmen, muß ich dem entgegenhalten: Dieser Wahlvertrag benötigt an und für sich eine Vierfünftelmehrheit.
Wie wollen wir denn, wenn wir uns selbst ernst nehmen, einen gesamtdeutschen Haushalt zusammenkriegen, für den es sehr wohl einer enormen Milliardenverschuldung bedarf?
Herr Graf Lambsdorff hat vorhin in seiner Rede auch die Rentner erwähnt. Es tut mir als Interessenvertretung der Grauen Panther natürlich sehr weh, Herr Lambsdorff, daß Sie in der Bundesrepublik Deutschland nach Ihrem liberalen Verständnis nicht vehement dafür eingetreten sind, daß es hier zumindest eine Mindestrente gibt, damit nicht Millionen alter Frauen über 60 nur 800 DM im Monat zur Verfügung haben.
— 8 Millionen alter Damen über 60 haben nur so wenig Rente zur Verfügung. Ich kann mich immer nur wundern, wie hier geredet wird, wie man pastoral etwas verkündet, wie Sie, Graf Lambsdorff, auch noch Kraft Ihrer besonderen Männlichkeit meinen,
Sie könnten damit eine Wählerstimme in der DDR, was Renten angeht, für sich als FDP gewinnen. Das glauben Sie doch wohl selbst nicht.
Hier hat sich auch der Herr Wirtschaftsboß — ebenfalls FDP — geäußert. FDP heißt ja Partei des Eigentums. Warum denn nicht? Eigentum verpflichtet, meine Herren und Damen. Nur, da hört es bei Ihnen dann auf. Es hätte mich sehr interessiert, heute vom Wirtschaftsminister zu hören, wieso die DDR die siebte Weltwirtschaftsmacht hat sein können. Es hätte mich sehr interessiert, wie man so etwas bei soviel „Dummheit" der DDR-Arbeiter, der DDR-Facharbeiter hat erreichen können. Im Gegenteil: Man hat unseren BRD-Arbeitslosen weismachen wollen, wäret ihr so hochqualifiziert wie die DDR-Jungs gewesen, dann gäbe es hier auch nicht die große Arbeitslosigkeit.
Ich glaube, in diesem Mischmasch Ihrer persönlichen Darstellungen haben im wesentlichen Sie von der CDU/CSU und der FDP die Stimmen bei uns im Volk verloren — das sind doch nun einmal Tatsachen —, weil der Bürger und die Bürgerin doch merken: Was quatschen die für ein dummes Zeug, während ich draußen im alltäglichen Leben mit etwas ganz, ganz anderem zurechtkommen muß?
Damit Ihnen, verehrter Minister Blüm, einmal die Schnute gestopft wird, sage ich folgendes — ich hätte
zwar gern nach Ihnen geredet, aber die Minister haben immer Vorrang — : Die Rente in der DDR — zu diesem Thema kriege ich Hunderte von Briefen — sieht nach 45 Berufsjahren jetzt so aus: meine Frau 575 DM und ich als Mann — das hat mir jemand aus der DDR geschrieben — 672 DM.
— Sie fragen: Wie war es vorher? Das war nicht gut, Herr Genscher: geistig so hochstehend und so etwas Dummes zu sagen.
Inzwischen sind ja die Mieten gestiegen, verehrter Freund Genscher. Die Friseurpreise sind gestiegen. Stellen Sie sich einmal vor, daß Sie beim Friseur 40 % mehr bezahlen.
Der Freund von der CDU sagte vorhin: Frau Unruh, ich verstehe gar nicht, warum der Joghurt in der DDR 30 Pfennig teurer ist. Das sind eben die Dinge, mit denen die Menschen, im wesentlichen alte Menschen, zu tun haben. Die alten Menschen können ja nicht irgendwo schwarz reinkloppen. Sie kommen nicht mehr zurecht. Unser Minister hat sachlich recht, wenn er behauptet, daß es über 30 % mehr sind. Aber was kann ich damit drüben in der freien oder Sozialen Marktwirtschaft — verzeihen Sie das Wort sozial; ich bin etwas gehandikapt, das Wort in diesem Bundestag zu gebrauchen — anfangen?
Wissen Sie, daß bei uns 6 Millionen Bankkunden im Schuldturm sitzen, Menschen, die sich verschuldet haben, kleine Unternehmen, die sich verschuldet haben, die auf Grund irgendwelcher Schicksalsschläge
— und sei es nur, weil um die Ecke herum ein Supermarkt genehmigt wurde — Bankschulden nicht mehr bezahlen können? Und siehe da: Sie sind für ihr Leben vernichtet.
In der DDR machen Bankbriefe die Runde: Kommt, verschuldet euch, es geht rund. Und wo sind die Gehälter zuerst angepaßt worden? Bei Banken und Versicherungen, natürlich auch — man höre und staune — im öffentlichen Dienst. Ein Berufsbeamtentum wird auch versprochen. Genau die Bonzen, die Sie hier verteufeln, wollen Sie also nach ein, zwei oder drei Jahren in das Schlaraffenland eines Berufsbeamtentums bringen. Da kann etwas nicht stimmen.
Sie haben aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nichts gelernt. Sie erkennen nicht, in welchem Klassensystem wir hier leben. Frauen, die bei uns 35 Jahre lang gearbeitet haben, bekommen ganze 600 Mark Rente.
— Sie müssen lernen, wie es draußen aussieht. — Zur gleichen Zeit beträgt die Beamtenmindestpension 1 730 DM.
Ich nehme es den SPDlern übel, daß sie beim Rentendeal mitgemacht haben. Ich hoffe, die SPD distanziert sich noch davon. Und wenn Herr Lafontaine das große Wunder der SPD werden soll, soll er auch dazu ein klares Wort sagen, statt als erstes, nachdem er
17428 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990
Frau Unruh
favorisiert worden war, zu sagen: Nein, nein, mit Mindestrente oder Mindestversorgung, das wird nichts.
Wir müssen wissen, wie reich wir sind und daß wir nach unserer Verfassung verpflichtet sind, Menschen nicht in Armut, nicht zur Mülltonne zu schicken.
Ich will diese Regierung ablösen. Ich sage das klipp und klar.
Ich will eine geänderte SPD. Vielleicht schafft das Herr Lafontaine. Ich wollte immer den alten Vogel, und dabei bleibt es auch.
Deshalb werden wir Grauen Panther, die Überpartei Die Grauen, in der DDR wie hier organisiert, versuchen, über 5 To zu kommen. Wir schaffen das auch — das weiß ich — , weil Ihnen die Alten und die verlassenen jungen Leute zeigen werden, daß es in diesem unseren Land eine moralische neue Kraft geben wird.