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    Plenarprotokoll 11i220 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 220. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 17379 A Absetzung des Punktes 2 von der Tagesordnung 17379B Stellungnahmen zur geschäftsordnungsrechtlichen Situation Bohl CDU/CSU 17379 C Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD 17380 B Baum FDP 17381 A Häfner GRÜNE 17381 C Zusatztagesordnungspunkt 1: Aussprache zur Vorbereitung der deutschen Einheit Dr. Graf Lambsdorff FDP 17382 D Brück SPD 17384 C Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 17384 D Lafontaine, Ministerpräsident des Saarlandes 17388A Stratmann-Mertens GRÜNE 17392 A Dr. Graf Lambsdorff FDP 17393 A Dr. Waigel, Bundesminister BMF 17394 A Dr. Ehrenberg SPD 17395 A Huonker SPD 17396 A Frau Matthäus-Maier SPD 17399 C Frau Dr. Vollmer GRÜNE 17400 C Rühe CDU/CSU 17404 B Klose SPD 17406 D Breuer CDU/CSU 17408 A Rühe CDU/CSU 17410 A Seiters, Bundesminister BK 17410 D Stratmann-Mertens GRÜNE 17411 C Dr. Haussmann, Bundesminister BMWi 17413 A Stobbe SPD 17414 C Dr. Blüm, Bundesminister BMA 17417 A Schreiner SPD 17418 B Dr. Penner SPD 17419 B Frau Matthäus-Maier SPD 17420 C Dr. Ehmke (Bonn) SPD 17421 A Gattermann FDP 17423 A Dr. Schäuble, Bundesminister BMI 17423 D Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD 17425 A Dr. Sperling SPD 17425 B Frau Unruh fraktionslos 17426 D Wüppesahl fraktionslos 17428A Mischnick FDP 17430 B Namentliche Abstimmungen 17431 B, C Ergebnisse 17431C, 17433 B Nächste Sitzung 17434 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 17435* A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Czaja, Dewitz, Sauer (Salzgitter), Lowack, Windelen, Jäger, Lummer, Schulze (Berlin), Nelle, Rossmanith, Dr. Kappes und Böhm (Melsungen) Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zur vereinbarten Aussprache zur Vorbereitung der deutschen Einheit (Drucksache 11/7657) 17435* B Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 17379 220. Sitzung Bonn, den 9. August 1990 Beginn: 10.07 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Abelein CDU/CSU 09. 08. 90 Dr. Biedenkopf CDU/CSU 09. 08. 90 Buschfort SPD 09.08.90 Dr. Daniels (Regensburg) GRÜNE 09. 08. 90 Dr. Dollinger CDU/CSU 09. 08. 90 Duve SPD 09.08.90 Frau Folz-Steinacker FDP 09. 08. 90 Frau Garbe GRÜNE 09. 08. 90 Frau Geiger CDU/CSU 09. 08. 90 Grünbeck FDP 09.08.90 Dr. Göhner CDU/CSU 09. 08. 90 Dr. Häfele CDU/CSU 09. 08. 90 Frau Dr. Hellwig CDU/CSU 09. 08. 90 Frau Hoffmann (Soltau) CDU/CSU 09. 08. 90 Hoss GRÜNE 09.08.90 Kalisch CDU/CSU 09.08.90 Dr. Knabe GRÜNE 09. 08. 90 Kreuzeder GRÜNE 09.08.90 Lennartz SPD 09.08.90 Lenzer CDU/CSU 09.08.90 Frau Luuk SPD 09. 08. 90 Dr. Mahlo CDU/CSU 09. 08. 90 Meneses Vogl GRÜNE 09. 08. 90 Niegel CDU/CSU 09.08.90 Dr. Pfennig CDU/CSU 09. 08. 90 Pfuhl SPD 09.08.90 Rauen CDU/CSU 09.08.90 Dr. Riedl (München) CDU/CSU 09. 08. 90 Frau Rock GRÜNE 09. 08. 90 Frau Schilling GRÜNE 09. 08. 90 Schmidt (München) SPD 09. 08. 90 Frau Schmidt (Nürnberg) SPD 09. 08. 90 Dr. Schneider (Nürnberg) CDU/CSU 09. 08. 90 Dr. Schöfberger SPD 09. 08. 90 Schreiber CDU/CSU 09.08.90 Schulhoff CDU/CSU 09.08.90 Frau Dr. Segall FDP 09. 08. 90 Dr. Soell SPD 09. 08. 90 Frau Trenz GRÜNE 09. 08. 90 Waltemathe SPD 09.08.90 Dr. de With SPD 09. 08. 90 Zink CDU/CSU 09.08.90 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Czaja, Dewitz, Sauer (Salzgitter), Lowack, Windelen, Jäger, Lummer, Schulze (Berlin), Nelle, Rosmanith, Dr. Kappes und Böhm (Melsungen) (alle CDU/CSU) zum Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zur vereinbarten Aussprache zur Vorbereitung der deutschen Einheit (Drucksache 11/7657) (Zusatztagesordnungspunkt 1) Unser Abstimmungsverhalten zu Drucksache 11/7657 verbinden wir mit der nachdrücklichen Aufforderung Anlagen zum Stenographischen Bericht an die Bundesregierung, in einer Zusatzvereinbarung die Wahlberechtigung aller deutschen Staatsangehörigen, wo immer sie leben, zu ermöglichen, und stützen uns dabei auf folgende Gründe: 1. Der jetzige § 12 des Bundeswahlgesetzes entspricht nicht in allen Teilen den verfassungsrechtlichen Erfordernissen einer ersten gesamtdeutschen Wahl. Diese ist von einmaliger, überragender Bedeutung, da sie als einen „wichtigen Schritt zur Herstellung der Deutschen Einheit die Wahl des Deutschen Bundestages durch das ganze Deutsche Volk" regeln soll (so zweiter Präambelsatz des Vertrages). Nach allgemeiner Rechtsauffassung ist das Deutsche Volk im Sinne des Grundgesetzes, von dem nach Art. 20 GG „alle Staatsgewalt ausgeht" , die Summe aller deutschen Staatsangehörigen. Dies hat eben erst (in Sachen Kommunalwahlrecht für Ausländer) vor dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts Prof. Papier namens der Bundesregierung vorgetragen. Allen, die deutsche Staatsangehörige sind, muß, soweit sie es wünschen, die Beteiligung an der Wahl möglich sein. Dies verlangt das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 2 GG. 2. Die Wahlberechtigung ist in der Bundesrepublik Deutschland und in den westlichen Demokratien nicht an den Wohnsitz im Wahlgebiet gebunden. Nach § 12 des Bundeswahlgesetzes sind u. a. alle deutschen Staatsangehörigen in den 21 Mitgliedstaaten des Europarates, einschließlich aller deutschen Staatsangehörigen im EG-Gebiet und deutschen Staatsangehörigen in anderen Staaten, sofern sie nicht mehr als 10 Jahre dort ihren ordentlichen Wohnsitz haben, in der Regel wahlberechtigt. Vom Prinzip der „Seßhaftigkeit" wurde bei der Wahlberechtigung seit langem zugunsten des Demokratieprinzips abgegangen. Größere Gruppen deutscher Staatsangehöriger vom Wahlvorgang auszuschließen wäre nicht systemgerecht. Nicht wahlberechtigt sind jetzt deutsche Staatsangehörige, die über 10 Jahre im Ausland leben, insbesondere aber auch - bei gesamtdeutschen Wahlen besonders gravierend - alle deutschen Staatsangehörigen, „die vor Inkrafttreten der (Ost-) Verträge die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen" (BVerfG E 40,171). Das gilt nach deutschem Staatsangehörigkeitsrecht auch für deren Nachkommen. Allen deutschen Staatsangehörigen, auch jenen, die bei Beginn der Vertreibungsmaßnahmen die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen und die sich darauf berufen, sowie ihre Nachkommen, - auch wenn ihnen später die polnische Staatsangehörigkeit oktroyiert wurde - „steht diese Staatsangehörigkeit weiter zu" (BVerfG E 40,171). Denn es kann u. a. auch den Ostverträgen nicht die Wirkung beigemessen werden, „daß die Gebiete östlich von Oder und Neiße mit dem Inkrafttreten der Ostverträge aus der rechtlichen Zugehörigkeit zu Deutschland entlassen und der Souveränität, also sowohl der territorialen wie der personalen Hoheitsgewalt der Sowjetunion und Polens endgültig unterstellt worden seien" (BVerfG E 40,171). 17436* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 Das Bundesverfassungsgericht begründet dies auch mit völkerrechtlichen Hinweisen, u. a. mit den von polnischer Seite entgegengenommenen Erklärungen des Bundesaußenministers Scheel im November 1970, mit der über den Notenwechsel mit den Verbündeten vor Vertragsunterschrift unterrichteten Warschauer Regierung, mit dem für die Vertragsmächte erkennbaren Willen der Bundesrepublik, „nicht über den territorialen Status Deutschlands zu verfügen", mit dem Wortlaut von Art. IV des Warschauer Gewaltverzichtsvertrages (BVerfGE 40,171-174). „Nach alledem haben die Vertragspartner die Bundesrepublik Deutschland nicht für befugt halten können, Verfügungen zu treffen, die eine friedensvertragliche Regelung vorwegnehmen". Politische Absichtserklärungen, die weitergehen, können die Vertragsentscheidungen eines gesamtdeutschen Souveräns nicht präjudizieren und die Rechtslage der besonders bedrängten Deutschen nicht verändern. Unser Grundgesetz und seine Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht haben bis zu einer rechtmäßigen Entscheidung des gesamtdeutschen Souveräns mit rechtlicher Verbindlichkeit für das Handeln der deutschen Verfassungsorgane festgeschrieben, daß „Deutschland" rechtlich als Staat und Völkerrechtssubjekt vorerst in den Grenzen von 1937 fortbesteht. 3. Das Wahlrecht gehört zu den wichtigsten Rechten eines Staatsangehörigen. Die Ausgrenzung gerade der bedrängten deutschen Staatsangehörigen durch Ausschluß von der Ausübung des Wahlrechts bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen würde einen besonders gravierenden Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG, gegen das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 2 GG, gegen die von Verfassungs wegen auch für diese Deutschen bestehende Schutzpflicht bedeuten und nicht systemgerecht sein. „Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 GG) untersagt den unberechtigten Ausschluß von Staatsbürgern von der Teilnahme an der Wahl (BVerfG E 36,141). Er verbietet dem Gesetzgeber, bestimmte Bevölkerungsgruppen aus politischen ... Gründen von der Ausübung des Wahlrechts auszuschließen" (BVerfG E 28,229; 36,141). Anders als bei früheren Wahlen müssen diese deutschen Staatsangehörigen bei Wahlen „zur Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands" und zu deren Vorbereitung wahlberechtigt sein, da das gesamte Deutsche Volk aufgefordert bleibt, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Man darf die Deutschen in diesen vorerst noch nicht „aus Deutschland entlassenen Teilen" jenseits von Oder und Neiße nicht anders behandeln als die im Gebiet der DDR lebenden Deutschen oder gar als Deutsche z. B. in der Türkei oder in Argentinien. Ob eine spätere Verfassungsänderung den Deutschlandbegriff „aushebeln" könnte, wird anhand von Art. 25 GG und Art. 79 Abs. 3 GG zu prüfen sein; sie kann aber keinesfalls Grund- und Menschenrechte deutscher Staatsangehöriger beseitigen oder ungeschützt sein lassen. Jedenfalls sind jetzt die Deutschen aus allen Teilen Deutschlands am Wahlvorgang zu beteiligen.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Wolfgang Schäuble


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Kollege Sperling, ich nehme das natürlich zur Kenntnis. Aber: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Sie jetzt von etwas anderem reden?

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    Wir haben nämlich gerade von dem Beschluß der Volkskammer gesprochen. Ich meine: Es ist ja gut; wenn man eine Zwischenfrage stellt, hört man wenigstens hinterher zu. Aber noch besser ist es, man hört schon vorher zu, bevor man die Frage stellt.
    Wir haben gerade darüber gesprochen, daß die Volkskammer gestern nachmittag mit der von Ihrer Kollegin Däubler-Gmelin angesprochenen Mehrheit einen Beschluß gefaßt hat,

    (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Ganz knapp!)

    den Deutschen Bundestag oder die Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland zu bitten, eine frühere Wahl zu ermöglichen durch eine Änderung des Grundgesetzes. Sie haben heute nacht einen Beschluß zum Wahlvertrag gefaßt. Dort haben sie zwar eine Zweidrittelmehrheit der abstimmenden Abgeordneten gehabt, eine klare, aber nicht eine Zweidrittelmehrheit der gesetzlichen Zahl der Mitglieder der Volkskammer. Deswegen ist die notwendige Mehrheit nicht zustande gekommen. Deswegen wird die Sitzung am 22. August sein, und wir werden das Vergnügen haben, am 23. noch einmal hier zusammenzukommen, und der Bundesrat wird sich, wie vorgesehen, am 24. damit befassen, und der Wahlvertrag tritt, wie vorgesehen, dann am 24. in Kraft.
    Ich möchte gerne noch, Herr Präsident, meine Damen und Herren, einige wenige Sätze sagen, weil Herr Kollege Lafontaine bisher offenbar nicht die Gelegenheit hatte, von dem Chef seiner Staatskanzlei, der an den Verhandlungen teilgenommen hat, sich zum Einigungsvertrag informieren zu lassen, was denn da wirklich besprochen worden ist. Wahrscheinlich hat er dort genauso zugehört, wir er es während der ganzen Debatte tut, nämlich gar nicht.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Deswegen weiß er nichts. Herr Lafontaine, es wäre wirklich nett, wenn Sie, da Sie ein paar Dinge nun wirklich — —

    (Ministerpräsident Lafontaine [Saarland]: Werden Sie nicht unverschämt; ich höre Ihnen die ganze Zeit zu! — Dr. Waigel, Bundesminister der Finanzen: Er kann doch nicht zuhören!)

    Es wäre wirklich liebenswürdig, wenn Sie ein paar wenige Dinge zur Kenntnis nehmen würden. Das erspart uns einiges.
    Wir haben in den Verhandlungen über den Einigungsvertrag — und Ihr Herr Kopp wird es Ihnen be-
    17426 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990
    Bundesminister Dr. Schäuble
    stätigen; er hat es vor der Presse auch öffentlich gesagt — bei jedem Schritt der Verhandlungen, vor und nach den Verhandlungen, in den Verhandlungen mit den Ländern völlig einvernehmlich gesprochen. Sowohl nach der ersten wie nach der zweiten Verhandlungsrunde haben sich die Länder — übrigens durch den von Ihnen erwähnten Sprecher der Länder — ausdrücklich für die faire, korrekte, umfassende Beteiligung der Länder an den Verhandlungen bedankt. Sie haben es sogar am Donnerstagabend in Ost-Berlin bei einer Pressekonferenz gesagt. Deswegen ist es einfach nicht wahr. Herr Lafontaine, wenn Sie solche Aussagen machen, dürfen Sie nicht in den Spiegel schauen, wenn Sie der Wahrheit ins Gesicht sehen wollen. Das dürfen Sie dann nicht.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU)

    Zweitens. Wir haben in einer Reihe von wesentlichen Fragen Einvernehmen erzielt. Das steht unter dem Vorbehalt. Das ist ein erster Vertragsentwurf. Das ist völlig klar. Wir haben dort, wo wir mit den Ländern noch keine völlig übereinstimmende Position haben, zum Beispiel in der Frage der Umsatzsteuerverteilung, dies ja ausdrücklich so angemerkt. Darüber wird weiter zu sprechen sein. Wir haben aber auch die Finanzausstattung der Länder und Gemeinden in der DDR weiß Gott nicht vergessen, sondern wir haben sie in den Art. 7 ff. des Vertragsentwurfs ausdrücklich geregelt.
    Es gibt eine einzige Frage, die dabei noch offen ist, nämlich die, daß die Bundesländer, und das wird ja hoffentlich heute nachmittag im Gespräch der Finanzminister mit Theo Waigel der Fall sein, einem fairen Schlüssel der Umsatzsteuerverteilung zwischen den Ländern bis 1994 zustimmen. Das ist die einzige Frage, die in der Finanzausstattung der Länder in den Verhandlungen noch offen ist. Deswegen können Sie nicht sagen, wir hätten es vergessen. Sondern Sie müßten richtigerweise hier sagen: Wir stimmen dem Vorschlag des Bundes und der Regierung der DDR zu und sind bereit, uns ein klein wenig zu beteiligen. Dann ist auch dieses Problem abschließend gelöst.
    Wir werden im Anschluß im Ausschuß Deutsche Einheit umfassend über die bisherigen Verhandlungen berichten, darüber diskutieren und die weiteren Schritte vorbereiten. Die nächste Verhandlungsrunde beginnt am 20. August.
    Meine herzliche Bitte ist, daß uns notwendige politische Auseinandersetzungen — und niemand vermag natürlich zu übersehen, daß in diesem Jahr gewählt werden wird und daß Auseinandersetzungen immer auch darauf Bezug nehmen — nicht davon abbringen, uns dennoch ein Minimum der Fähigkeit zur Kooperation in dieser wichtigen historischen Zeit zu bewahren. Wir sind bis zum vergangenen Freitag in einem engen Einvernehmen hinsichtlich der Verhandlungen zum Einigungsvertrag gewesen,

    (Widerspruch der Abg. Frau Dr. DäublerGmelin [SPD])

    im übrigen auch, Frau Kollegin Däubler-Gmelin, zum
    Wahlvertrag. Bis zum heutigen Vormittag waren wir,
    wie sich gezeigt hat, über die Parteigrenzen hinweg auch im Konsens, was das Wahlrecht anbetrifft.

    (Abg. Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

    — Nein, ich möchte gerne zum Schluß kommen, weil wir heute auch noch im Ausschuß Deutsche Einheit beraten wollen.
    Meine Bitte an alle ist, daß wir in einer Zeit, in der es wirklich Wichtigeres gibt als manche Themen, die heute behandelt worden sind, uns der Bedeutung dieser Zeit und unserer Verantwortung bewußt bleiben.
    Ich habe gestern bei der ersten Lesung des Wahlvertrags daran erinnert, was sich in den letzten zwölf Monaten alles verändert hat: Vor zwölf Monaten hat der Kollege Seiters wegen des Zulaufs in die Ständige Vertretung in Ost-Berlin seinen Urlaub unterbrechen müssen. Am 9. November 1989 ist die Mauer geöffnet worden, und wir haben im Deutschen Bundestag spontan das Deutschlandlied gesungen. Am 18. März 1990 waren die ersten freien Wahlen in der DDR. Vor wenigen Wochen haben der Bundeskanzler, der Außen- und Finanzminister in Moskau und im Kaukasus den entscheidenden Durchbruch erzielt, daß der Zweite Weltkrieg mit seinen Folgen nun endgültig der Geschichte angehört.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Niemand in Europa, niemand unter den Vier Mächten hat noch einen Vorbehalt gegen die Deutsche Einheit, gegen die Herstellung der vollen deutschen Souveränität, gegen die Zugehörigkeit des vereinten Deutschlands zur Wertegemeinschaft der freien Demokratien auch in der Zukunft.
    In einer solchen Zeit und angesichts der großen Leistungen, die die Deutschen in der DDR in diesen zwölf Monaten erbracht haben, sollten wir natürlich Probleme aufzeigen und darüber sprechen. Aber wir sollten nicht nur Ängste schüren und Krisen herbeireden, sondern auch ein Stück weit Optimismus und Zuversicht vermitteln. Und wir sollten uns unserer Verantwortung bewußt bleiben, die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von Heinz Westphal
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Unruh.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Gertrud Unruh


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (GRÜNE)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GRÜNE)

    Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Volksvertreterinnen und Volksvertreter! Der Herr Innenminister hat das zum guten Schluß alles sehr pathetisch sagen können. Das hört sich auch alles sehr gut an. Die großen Verdienste des Herrn Bundeskanzlers werden natürlich überhaupt nicht geschmälert. Wer sollte das denn eigentlich tun? Nur, warum hat er dann heute nicht das Wort ergriffen?

    (Frau Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Warum sollte er denn?)

    — Verzeihen Sie bitte: Er ist doch nun einmal der große Mann

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 17427
    Frau Unruh
    — rechnen Sie mir bitte den Beifall nicht an —,

    (Heiterkeit bei allen Fraktionen)

    der sagt: Ohne mich wäre das nicht erreicht worden. Aber dann doch bitte auch ein Wort des Mutes an die Bürger in der DDR, die selbstverständlich des Mutes bedürfen.
    Wenn der Herr Innenminister jetzt sagt, die sind es gewöhnt, alles immer nur einstimmig, jetzt genügt das, da fehlten ja nur neun Stimmen, muß ich dem entgegenhalten: Dieser Wahlvertrag benötigt an und für sich eine Vierfünftelmehrheit.

    (Bohl [CDU/CSU]: Fünfviertelmehrheit!)

    Wie wollen wir denn, wenn wir uns selbst ernst nehmen, einen gesamtdeutschen Haushalt zusammenkriegen, für den es sehr wohl einer enormen Milliardenverschuldung bedarf?
    Herr Graf Lambsdorff hat vorhin in seiner Rede auch die Rentner erwähnt. Es tut mir als Interessenvertretung der Grauen Panther natürlich sehr weh, Herr Lambsdorff, daß Sie in der Bundesrepublik Deutschland nach Ihrem liberalen Verständnis nicht vehement dafür eingetreten sind, daß es hier zumindest eine Mindestrente gibt, damit nicht Millionen alter Frauen über 60 nur 800 DM im Monat zur Verfügung haben.

    (Günther [CDU/CSU]: 8 Millionen!)

    — 8 Millionen alter Damen über 60 haben nur so wenig Rente zur Verfügung. Ich kann mich immer nur wundern, wie hier geredet wird, wie man pastoral etwas verkündet, wie Sie, Graf Lambsdorff, auch noch Kraft Ihrer besonderen Männlichkeit meinen,

    (Oh-Ruhe bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Matthäus-Maier [SPD]: Wie haben Sie das festgestellt, Frau Unruh?)

    Sie könnten damit eine Wählerstimme in der DDR, was Renten angeht, für sich als FDP gewinnen. Das glauben Sie doch wohl selbst nicht.
    Hier hat sich auch der Herr Wirtschaftsboß — ebenfalls FDP — geäußert. FDP heißt ja Partei des Eigentums. Warum denn nicht? Eigentum verpflichtet, meine Herren und Damen. Nur, da hört es bei Ihnen dann auf. Es hätte mich sehr interessiert, heute vom Wirtschaftsminister zu hören, wieso die DDR die siebte Weltwirtschaftsmacht hat sein können. Es hätte mich sehr interessiert, wie man so etwas bei soviel „Dummheit" der DDR-Arbeiter, der DDR-Facharbeiter hat erreichen können. Im Gegenteil: Man hat unseren BRD-Arbeitslosen weismachen wollen, wäret ihr so hochqualifiziert wie die DDR-Jungs gewesen, dann gäbe es hier auch nicht die große Arbeitslosigkeit.
    Ich glaube, in diesem Mischmasch Ihrer persönlichen Darstellungen haben im wesentlichen Sie von der CDU/CSU und der FDP die Stimmen bei uns im Volk verloren — das sind doch nun einmal Tatsachen —, weil der Bürger und die Bürgerin doch merken: Was quatschen die für ein dummes Zeug, während ich draußen im alltäglichen Leben mit etwas ganz, ganz anderem zurechtkommen muß?
    Damit Ihnen, verehrter Minister Blüm, einmal die Schnute gestopft wird, sage ich folgendes — ich hätte
    zwar gern nach Ihnen geredet, aber die Minister haben immer Vorrang — : Die Rente in der DDR — zu diesem Thema kriege ich Hunderte von Briefen — sieht nach 45 Berufsjahren jetzt so aus: meine Frau 575 DM und ich als Mann — das hat mir jemand aus der DDR geschrieben — 672 DM.

    (Bundesminister Genscher: Wie war es vorher?)

    — Sie fragen: Wie war es vorher? Das war nicht gut, Herr Genscher: geistig so hochstehend und so etwas Dummes zu sagen.

    (Lachen bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

    Inzwischen sind ja die Mieten gestiegen, verehrter Freund Genscher. Die Friseurpreise sind gestiegen. Stellen Sie sich einmal vor, daß Sie beim Friseur 40 % mehr bezahlen.
    Der Freund von der CDU sagte vorhin: Frau Unruh, ich verstehe gar nicht, warum der Joghurt in der DDR 30 Pfennig teurer ist. Das sind eben die Dinge, mit denen die Menschen, im wesentlichen alte Menschen, zu tun haben. Die alten Menschen können ja nicht irgendwo schwarz reinkloppen. Sie kommen nicht mehr zurecht. Unser Minister hat sachlich recht, wenn er behauptet, daß es über 30 % mehr sind. Aber was kann ich damit drüben in der freien oder Sozialen Marktwirtschaft — verzeihen Sie das Wort sozial; ich bin etwas gehandikapt, das Wort in diesem Bundestag zu gebrauchen — anfangen?
    Wissen Sie, daß bei uns 6 Millionen Bankkunden im Schuldturm sitzen, Menschen, die sich verschuldet haben, kleine Unternehmen, die sich verschuldet haben, die auf Grund irgendwelcher Schicksalsschläge
    — und sei es nur, weil um die Ecke herum ein Supermarkt genehmigt wurde — Bankschulden nicht mehr bezahlen können? Und siehe da: Sie sind für ihr Leben vernichtet.
    In der DDR machen Bankbriefe die Runde: Kommt, verschuldet euch, es geht rund. Und wo sind die Gehälter zuerst angepaßt worden? Bei Banken und Versicherungen, natürlich auch — man höre und staune — im öffentlichen Dienst. Ein Berufsbeamtentum wird auch versprochen. Genau die Bonzen, die Sie hier verteufeln, wollen Sie also nach ein, zwei oder drei Jahren in das Schlaraffenland eines Berufsbeamtentums bringen. Da kann etwas nicht stimmen.
    Sie haben aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nichts gelernt. Sie erkennen nicht, in welchem Klassensystem wir hier leben. Frauen, die bei uns 35 Jahre lang gearbeitet haben, bekommen ganze 600 Mark Rente.

    (Widerspruch des Abg. Dr. Bötsch [CDU/ CSU])

    — Sie müssen lernen, wie es draußen aussieht. — Zur gleichen Zeit beträgt die Beamtenmindestpension 1 730 DM.
    Ich nehme es den SPDlern übel, daß sie beim Rentendeal mitgemacht haben. Ich hoffe, die SPD distanziert sich noch davon. Und wenn Herr Lafontaine das große Wunder der SPD werden soll, soll er auch dazu ein klares Wort sagen, statt als erstes, nachdem er
    17428 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990
    Frau Unruh
    favorisiert worden war, zu sagen: Nein, nein, mit Mindestrente oder Mindestversorgung, das wird nichts.
    Wir müssen wissen, wie reich wir sind und daß wir nach unserer Verfassung verpflichtet sind, Menschen nicht in Armut, nicht zur Mülltonne zu schicken.
    Ich will diese Regierung ablösen. Ich sage das klipp und klar.

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    Ich will eine geänderte SPD. Vielleicht schafft das Herr Lafontaine. Ich wollte immer den alten Vogel, und dabei bleibt es auch.

    (Heiterkeit bei allen Fraktionen)

    Deshalb werden wir Grauen Panther, die Überpartei Die Grauen, in der DDR wie hier organisiert, versuchen, über 5 To zu kommen. Wir schaffen das auch — das weiß ich — , weil Ihnen die Alten und die verlassenen jungen Leute zeigen werden, daß es in diesem unseren Land eine moralische neue Kraft geben wird.

    (Heiterkeit bei allen Fraktionen)