Rede von
Dr.
Norbert
Blüm
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich überlege schon den ganzen Morgen, ob unsere Debatte den Ereignissen der letzten zwölf Monate gerecht wird. Man muß sich einmal vorstellen: Im Sommer vergangenen Jahres — noch kein Jahr her — sind Menschen durch Minenfelder gewandert, über Mauern gesprungen, haben Menschen Flüsse durchquert, nur damit wir als Deutsche zusammenkommen können. Jetzt haben wir es geschafft, und nun, Herr Lafontaine, wird hier eine Buchhalterdiskussion geführt, die der historischen Herausforderung nicht entspricht.
Diese Debatte wird bestenfalls in den Anmerkungen der Geschichtsbücher zu finden sein.
Zwei große Ereignisse werden im Gedächtnis der Geschichte bleiben: zum einen der 9. November und zum anderen das Gespräch, das Helmut Kohl mit Gorbatschow geführt hat. Wir schaffen die Einheit Deutschlands mit der Welt, nicht gegen die Welt. Freiheit und Einheit, das ist die große historische Botschaft dieser Tage.
Wenn die Bürger in der DDR die Unterdrücker abgeschafft haben, dann werden wir doch zusammen den Sozialstaat schaffen können. Unterdrücker abzuschaffen ist doch schwieriger, als gemeinsam den Sozialstaat zu schaffen.
Die Botschaft eines jeden Sozialdemokraten, der heute morgen gesprochen hat — ich habe gehofft, es würde sich irgendwann einmal ändern — , war: Krise, Untergang, Verfall. Das ist die sozialdemokratische Botschaft. Wer sagt: „Landsleute in der DDR, wir werden es zusammen schaffen", der macht sich bei der SPD verdächtig. Ich habe Angst, also bin ich. Das ist das neue sozialdemokratische cogito, ergo sum.
Ich kann nicht sortieren, was Sie jetzt wollen. Wenn wir Vorschläge machen, sagen Sie, das sei Vormundschaft. Da habe ich noch Johannes Rau in Erinnerung: Ratschläge sind auch Schläge. — Wenn wir keine Vorschläge machen und uns zurückhalten, sagen Sie: Helmut Kohl versteckt sich hinter der Regierung der DDR. — Es ist schon ein merkwürdiges Bild, wenn man sich vorstellt, Kohl würde sich hinter de Maizière verstecken. Da habe ich schon Schwierigkeiten. Was wollen Sie denn jetzt eigentlich?
Ich sage: Dieses Problem läßt sich lösen. Wir vereinen uns und werden ein Staat. Sie werden doch den Bürgern, die 40 Jahre um ihre demokratischen Wahlrechte betrogen wurden, nicht zumuten wollen, den ersten Schritt in die deutsche Einheit ohne Wahl zu
vollziehen. Das wäre ja wider jeglichen geschichtlichen Sinn. Deshalb finde ich: vereinen und wählen, so schnell es geht.
Herr Lafontaine, nun zu dem, was Sie heute morgen gesagt haben. Wenn ich nicht gewußt hätte, wo Sie sprechen, hätte ich gedacht, Sie würden eine Abrechnung mit der SED vornehmen. Ich hatte gehofft, Sie beschäftigten sich mit den Verursachern der Misere. Es wird doch wohl niemand auf die Idee kommen, daß diese Bundesregierung die Misere in der DDR verursacht hätte. Es sind die Trümmer des Sozialismus, die wir beseitigen. Das ist die Ursache!
Vorwürfe sind noch keine Vorschläge. Deshalb, Herr Lafontaine, frage ich Sie: Was hätten Sie anders gemacht? Umstellung im Verhältnis 1 : 1, waren das Worte?
— Wir haben im Verhältnis von 1 : 1 umgestellt. Das sind die Fakten. Das war bereits das größte sozialstaatliche Angebot am Beginn unserer Einheit.
Hätten Sie es anders gemacht, Herr Lafontaine?
Nun zur Rentenversicherung. Wir führen in der Rentenversicherung das bewährte bruttolohnbezogene System ein. Hätten Sie es anders gemacht, Herr Lafontaine?
Es ist gesagt worden, wir machten nur Worte. Sind das Worte oder sind das Taten?
Wir haben innerhalb von Wochen eine Arbeitslosenversicherung mit einer modernen Arbeitsmarktpolitik und mit mehr als 130 Arbeitsämtern aufgebaut. Ich möchte meinen Respekt vor all denjenigen ausdrücken, die daran mitgewirkt haben. Es ist eine große Leistung, in wenigen Wochen solche Institutionen zu schaffen.
— Es ist heute morgen gesagt worden, es würden nur Worte gemacht, wir hätten nichts getan.
Wir haben geholfen, das Gesundheitssystem vor dem Zusammenbruch zu bewahren.
Ich sage auch meinen Landsleuten: Wir werden es schaffen, den Sozialstaat Deutschland unter einem Dach zu verwirklichen. Es wird keine erste und zweite Klasse, nicht ein Wohlstands-Vorderhaus und ein armes Hinterhaus geben. Freilich, niemand hat versprochen, daß diese Leistungen über Nacht zu vollbringen seien. Aber wir werden den Sozialstaat Deutschland schaffen. Wir schaffen ihn auf dem gesicherten Boden eines gefestigten Sozialsystems in der Bundesrepublik.
17418 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990
Bundesminister Dr. Blüm
Wenn unser Sozialstaat heute in der Verfassung wäre, in der er sich 1982 befunden hat,
hätten wir jetzt alle Hände voll zu tun, um das Sozialsystem vor dem Einsturz zu bewahren. Die Sozialpolitik der letzten acht Jahre hat dazu geführt, daß wir wieder gefestigte Verhältnisse haben, daß die Kassen voll sind und daß wir eine verläßliche Sozialpolitik machen können. Wären die Verhältnisse so wie im Jahre 1982, hätten wir die Hände nicht frei, um zu helfen.
Wer das bestreitet, dem sage ich: Die Rentenversicherung verfügt im Jahr 1990 über die höchste Rücklage seit 1976. Die Krankenversicherung hat im Jahr 1989 einen Überschuß von 9,2 Milliarden DM zu verzeichnen gehabt. Die Beiträge sinken! In der Rentenversicherung betrug das Defzit im Jahr 1983 noch 5,1 Milliarden DM. Die Krankenversicherung hatte noch im Jahr 1986 ein Defizit von 800 Millionen DM.
Wir haben wieder volle Kassen. Das ist die beste Nachricht auch für die Rentner hier. Unser Sozialsystem hat wieder Boden unter den Füßen. Und von diesem gesicherten Boden aus helfen wir unseren Landsleuten in der DDR. Es ist wieder Korn auf dem Speicher.
Ich meine deshalb, daß wir mit der Diskussion aufhören sollten, die wir hier seit acht Jahren führen. Seit acht Jahren erlebe ich die Wiederkehr des Gleichen: Die SPD behauptet den Kahlschlag, und ich antworte mit Fakten.
— Ich antworte mit Zahlen. Soll ich die Zahlen wiederholen?
32 Milliarden DM Rücklage in der Rentenversicherung im Jahr 1990, 5,1 Milliarden DM Defizit im Jahre 1983. Ist das eine Zahl, oder ist das keine Zahl?