Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muß gestehen, daß ich diese Debatte in einem ganz bestimmten Punkt sehr eigentümlich und merkwürdig finde. In der DDR bricht der Wirtschaftskreislauf zusammen. Die politische Stabilität ist nicht mehr das, was sie am Beginn der Regierungszeit de Maizière war.
Die Leute haben Sorgen. Was geschieht hier? Der Kanzler läßt seinen Finanzminister vortragen, wie gesund die Finanzen der Bundesrepublik Deutschland seien.
Er läßt seinen Wirtschaftsminister das Hohelied von der Hochkonjunktur in der Bundesrepublik Deutschland singen.
Die SPD wendet sich den konkreten Problemen der Menschen in der DDR zu und macht durch den Kanzlerkandidaten Lafontaine zehn Vorschläge und das Angebot zum Sachgespräch.
Was macht der Kanzler? Der Kanzler schweigt und schweigt und schweigt. Herr Bundeskanzler, können Sie sich denn nicht vorstellen, daß die Menschen, sowohl unsere Bürger hier als auch die Menschen in der DDR, in dieser krisenhaften Entwicklung in der DDR ein Wort von Ihnen erwartet hätten?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stehen vor der riesengroßen Aufgabe, einheitliche Lebensverhältnisse und Lebenschancen für alle Menschen in Deutschland zu schaffen. Diese Aufgabe verlangt von allen Bürgern Opfer und Leistungsbereitschaft. Sie verlangt Verständnis und vor allem Solidarität. Die Politik hat die Aufgabe, berechenbare Rahmenbedingungen zu schaffen, die auf einem breiten gesamtgesellschaftlichen Konsens beruhen sollten, Herr Bundeskanzler. Diesen Konsens kann man nur durch das Sachgespräch zwischen den politischen Kräften im Lande und anderen beteiligten Kräften herstellen.
Wer wie ich im fast täglichen Umgang mit den Menschen in der DDR seit dem 9. November miterlebt hat, was auf den Straßen in Leipzig, in Berlin und in anderen Städten der DDR so großartig begann, wer miterlebt hat, wie diese Entwicklung die Köpfe und Herzen unserer Mitbürger mit Freude und mit Hoffnung erfüllt hat, der weiß auch, daß die Bereitschaft zum gesamtgesellschaftlichen Konsens und zur Solidarität in jenen Tagen und Wochen lebendig empfunden und auch praktiziert wurde. Doch wo am Anfang Freude
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und Zuversicht herrschten, machen sich jetzt Sorgen und Ängste breit. Herr Bundeskanzler, Sie haben es zu verantworten, daß der gute Wille so vieler unserer Bürger nicht genutzt wurde.
Die Bürger in der Bundesrepublik wissen ganz genau, daß die Einheit teurer wird als Sie vorgeben, Herr Bundeskanzler. Ich gehe weiter: Unsere Bürger sind sogar der Auffassung, daß die Einheit einen hohen Preis wert ist. Warum muten Sie ihnen diese peinliche Vernebelung der wahren Kosten für die deutsche Einheit zu?
Das macht die Politik insgesamt unglaubwürdig, und das schadet der Einheit.
Sie vernebeln nicht nur die Kosten für die Einheit, sondern Sie haben auch bewußt Illusionen geweckt. Statt den Menschen klar und deutlich zu sagen, daß mit der Umstellung der Wirtschaft in der DDR erhebliche soziale Risiken verbunden sind, haben Sie die Menschen in dem Glauben gelassen, die soziale Marktwirtschaft könne über Nacht Wunder bewirken.
Sie haben Enttäuschungen hervorgerufen, weil sich Ihre Prophezeiungen über die Investitionsbereitschaft der westdeutschen Industrie in der DDR auf der Grundlage des ersten Staatsvertrages offenkundig als falsch erweisen.
Herr Bundeskanzler, ich frage mich, warum Sie heute mit solchen Vorwürfen konfrontiert werden, die wir hier nicht nur als Opposition vortragen, sondern die wir landauf, landab hören.
Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß es für die falschen Ansätze Ihrer Politik im deutschen Einigungsprozeß eine gemeinsame Ursache gibt. Das ist Ihr Versuch, die große Sache der deutschen Einigung parteipolitisch zu monopolisieren und CDU-Interessen vor sachlich gebotene Entscheidungen zu stellen.
Es gibt zahlreiche Belege dafür. Der bislang sichtbarste ist Ihr Versuch, im Zusammenspiel mit Herrn de Maizière das Wahlrecht und den Wahltermin parteipolitisch zu manipulieren; wir haben uns darüber heute schon unterhalten. Ich möchte Ihnen sagen, Herr Bundeskanzler, daß dieser Versuch gerade in der DDR auf totales Unverständnis gestoßen ist, weil die Menschen dort zu Recht verlangen, daß Sie, Herr Bundeskanzler, sich um die Lebenschancen der Menschen mehr kümmern als um die Wahlchancen Ihrer Partei.
Im Mittelpunkt Ihrer Politik muß doch stehen: Wie schaffen wir einheitliche Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland? Wie schaffen wir es, daß die
Menschen in der DDR ihre Hoffnung auf Besserung in überschaubaren Zeiträumen erhalten? Wie schaffen wir es, daß sie nicht aus Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes, der Angst vor den steigenden Preisen, Tarifen und Kosten ihren Mut und ihre Leistungsbereitschaft verlieren?
Nun beobachten wir alle den wirtschaftlichen Verfall in der DDR. Gewiß, der Hinweis, daß diese Wirtschaft bereits in der Verantwortung der Kommunisten bankrott war, bleibt richtig; diesen Hinweis haben wir genauso gemacht wie Sie. Aber er allein hilft nicht weiter. Denn jetzt geht es in dieser Debatte und in den kommenden Wochen darum, daß die Währungsunion eben nicht so greift, wie vorher behauptet wurde. Das liegt vor allen Dingen daran, daß es an begleitenden Strukturmaßnahmen und Hilfsprogrammen für die Wirtschaft gefehlt hat, die gerade die SPD in diesem Bundestag in Verbindung mit dem ersten Staatsvertrag immer wieder gefordert hat.
Wir diskutieren heute in einer Situation, die gekennzeichnet ist durch den rapiden Verfall der staatlichen Autorität in der DDR, den Geldmangel der Gemeinden, die Überforderung der bestehenden Verwaltungen, den fehlenden Aufbau einer neuen Administration. Und wohin man blickt: Vollzugsdefizite an allen Ecken und Enden, von denen niemand überrascht sein darf; denn auf diese Gefahren wurde rechtzeitig hingewiesen.
In dieser Situation, Herr Bundeskanzler, ist vor allen Dingen Regierungshandeln gefordert, und zwar jetzt, in den kommenden Wochen und Monaten.
Ansatzpunkte dafür sind doch da. Der erste Staatsvertrag enthält — übrigens auf Druck der SPD — die Möglichkeit, durch Gespräch, durch Nachverhandeln mit der DDR-Regierung Wirtschaftsförderungsinstrumente bereitzustellen, mit deren Hilfe die notwendigen Strukturanpassungen in der DDR in Angriff genommen werden können. Zehn konkrete Fragen und Vorschläge hat Ihnen Oskar Lafontaine in dieser Debatte gestellt bzw. gemacht. Sie sind bislang alle ohne Antwort geblieben.
Auch der Einigungsvertrag könnte genutzt werden, z. B. durch eine wasserdichte Regelung für die Eigentumsfragen, die u. a. die notwendige Rechtssicherheit für private Investoren in der DDR schafft.
Es ist auch notwendig, daß der Finanzbedarf, der in der nächsten Zeit auf alle Deutschen zukommt, von dieser Bundesregierung umgehend festgestellt und öffentlich gemacht wird, so daß wir darüber reden können, wie diese Kosten unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit aufgebracht werden können. Herr Bundeskanzler, die Dinge regeln sich nicht von allein; das ist ein Irrtum von Ihnen. Es ist wahr: Sie
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müssen den Tatsachen, wie sie in der DDR sind, ins Auge sehen. Ihre Entschlossenheit ist gefordert.
Die SPD hat gesagt — ich möchte das hier wiederholen — : Wir sind bereit, uns den Aufgaben zu stellen und nach Lösungen für die Menschen und ihre Probleme zu suchen. Wir sind auch bereit, Entscheidungen mitzutragen, wenn sie der Sache dienen und wenn wir in die Entscheidungsprozesse auf eine parlamentarisch einwandfreie Weise einbezogen werden. Allerdings warnen wir mit Nachdruck vor einem neuerlichen Versuch, sich durch das Wecken von Illusionen über die Runden bringen zu wollen, Herr Bundeskanzler. Hüten Sie sich davor, den Menschen in der DDR oder hier in der Bundesrepublik Deutschland vorgaukeln zu wollen, mit dem Akt des Beitritts und dem Vollzug der staatlichen Vereinigung sei gewissermaßen automatisch ein Ende der wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten in unmittelbare Nähe gerückt.
Die SPD ist angesichts der krisenhaften Entwicklung in der DDR, wie der Antrag der SPD in der Volkskammer beweist und wie wir es auch hier heute gesagt haben, dafür, daß wir zu einem frühestmöglichen Beitritt der DDR kommen. Wir wollen, daß die Verantwortung für die weitere Entwicklung klargestellt wird. Diese Verantwortung liegt dann bei der Bundesregierung.
Dennoch heben wir schon heute ins Bewußtsein: Der Akt des Beitritts selbst löst die Wirtschafts- und Sozialprobleme des vereinten Deutschlands nicht automatisch. Dafür wird dieses Land Jahre brauchen. Das ist die Wahrheit. Deshalb darf nicht zugelassen werden, daß die berechtigte Freude der Menschen über den Vollzug der staatlichen Einheit benutzt wird, um die Menschen in dem Glauben zu wiegen, mit dem Vollzug der Einheit seien alle Probleme gelöst; denn damit würde der Bundeskanzler sie nur in eine neue Täuschung treiben.
Die Wahrheit ist, daß wir uns auch im vereinigten Deutschland auf einen langen Weg vorbereiten müssen, um die dringend nötigen wirtschaftlichen und sozialen Angleichungen gerecht zu gestalten, und zwar sowohl für die Menschen dort wie auch hier. Dabei wird sich zeigen, meine Damen und Herren, daß die SPD aus ihrer traditionellen sozialen Verantwortung heraus für diese Wegstrecke mit besseren Konzepten aufwarten kann als die Konservativen mit ihren Mogelpackungen.
Ich möchte ein Wort über die Verantwortungsbereitschaft der SPD und über die Grenzen dieser Verantwortungsbereitschaft sagen. Hier in Bonn sind wir Opposition, in der DDR regieren wir — ich sage: noch — mit. Wir haben als Opposition in Bonn von Anfang an gesagt, daß wir zur Mitverantwortung bereit sind. Der Bundeskanzler hat unsere ständig wiederholte Bereitschaft zu dieser Mitverantwortung
fahrlässig zurückgewiesen und damit dem deutschen Einigungsprozeß geschadet.
Die Situation ist auch nicht viel besser geworden, seitdem die SPD im Bundesrat über eine Mehrheit verfügt. Diese Mehrheit zwingt die Bundesregierung zwar zu einer gewissen Zusammenarbeit — es ist also wahr, daß auch die SPD-geführten Länder an den Verhandlungen zum Einigungsvertrag mitwirken —, dennoch hat sich am politischen Verhalten der Bundesregierung nichts geändert. Sie versucht auch jetzt noch, der Öffentlichkeit zu suggerieren, in den Verhandlungen, die jetzt anstehen, sei Wesentliches erreicht worden. Dies wird mit einer gewissen politischen Technik gemacht, um die Menschen in Ruhe zu wiegen.
Dies geschieht, obwohl bislang wesentliche Forderungen der SPD nicht berücksichtigt worden sind. Ich kann Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU und auch von den Freien Demokraten, nur sagen: Wenn das so weitergeht, dann wird es schwierig sein, in Bonn eine Verständigung über den Einigungsvertrag zu erreichen.
In der Regierung de Maizière in Berlin steht es um die Zusammenarbeit mit der SPD und um die Koalitionsbedingungen noch schlechter. Ich weiß aus persönlicher Erfahrung, daß die Sozialdemokraten in der DDR in diese Koalition mit einem tief empfundenen Gefühl der Verantwortung für das Schicksal der Menschen in der DDR eingetreten sind. Sie haben über eine längere Wegstrecke sehr viel eingebracht, um dieser Verpflichtung gerecht zu werden.
Wir haben Achtung vor Ministerpräsident de Maizière empfunden, der auf der Grundlage der geschlossenen Koalitionsvereinbarung und der von der gesamten deutschen Öffentlichkeit kochgeachteten Regierungserklärung große Anstrengungen unternommen hat, um die DDR auf den Beitritt zur Bundesrepublik vorzubereiten. Aber auch dort in der Koalition hat sich die Zusammenarbeit schlagartig verschlechtert, seitdem Herr de Maizière die Fragen des Wahlrechts und den Beitrittstermin ganz offenkundig nicht nach sachlich gebotenen Kriterien, sondern nach parteipolitischen Interessen behandelt.
Dabei sind die Sozialdemokraten zweimal aufs schwerste düpiert worden. Jeder dieser Vorgänge wäre eigentlich Anlaß genug gewesen, die Koalition zu verlassen. Wenn die Sozialdemokraten in der DDR diesen Schritt noch nicht gemacht haben, dann deshalb, weil sie sich verpflichtet fühlen, im Interesse der Menschen der DDR in den anstehenden Verhandlungen ihre Vorstellungen durchzusetzen.
Aber wenn Sie sich, meine Damen und Herren von der CDU hier in Bonn, und wenn sich auch die Christdemokraten in Berlin-Ost weiterhin so engstirnig verhalten und die deutsche Einheit unter parteipolitischen Gesichtspunkten betreiben, dann werden die Sozialdemokraten in der DDR die Koalition noch während der Verhandlungen verlassen, und dann muß Herr de Maizière mit einer Minderheitenregierung
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die nächsten Schritte in die deutsche Einheit verantworten. Überlegen Sie, ob das der richtige Weg ist!