Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist die erste Sitzung des Deutschen Bundestages nach dem historischen Verhandlungserfolg von Moskau und Kaukasus. Für mich ist es deswegen selbstverständlich, ein Wort des Dankes an den Bundeskanzler, den Außenminister, die ganze Regierung für diesen großartigen Erfolg für alle Deutschen an den Anfang zu stellen.
Wir als Bundestag müssen uns im übrigen auch selbstkritisch fragen, ob wir nicht manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Ich kann mir kaum ein anderes Parlament auf der ganzen Welt vorstellen, in dem eine Regierung ein solches Verhandlungsergebnis vorlegt, das ein Jahrhundertergebnis ist, und in dem man darüber kein Wort verliert, sondern sich sogleich anderen, scheinbar wichtigeren Fragen zuwendet.
Nein, das ist das eigentliche Ereignis der letzten Wochen. Hiermit ist der Weg für ein freies und souveränes Deutschland freigemacht worden. Dafür sind wir dankbar.
Wir sind auch den Verbündeten dankbar, ohne die das nicht möglich gewesen wäre. Dankbar sind wir auch — ich finde, man muß sich immer in die Lage des anderen hineinversetzen — Michail Gorbatschow, der großen persönlichen Mut brauchte, um den Weg für dieses Verhandlungsergebnis freizumachen.
Manche haben so getan, als ob die Wiederherstellung der staatlichen Einheit ein purer Egoismus der Deutschen wäre. Schauen Sie sich doch einmal die jetzige Weltlage an! Daß die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten kooperieren, um den Frieden und das Recht im Mittleren Osten wiederherzustellen, wäre undenkbar gewesen, wenn nicht auch wir einen Beitrag geleistet hätten, damit sie zusammenarbeiten können.
Theo Waigel hat schon viel zur Rede von Herrn Lafontaine gesagt. Eines ist mir aufgefallen, Herr Lafontaine. Ich habe im Deutschen Bundestag seit Jahren keine Rede mehr gehört, in der so häufig das Wort „Täuschung" verwendet worden wäre.
Seien Sie vorsichtig! Sie müssen sich einmal fragen, wie das auf die Menschen in der DDR und in der Bundesrepublik wirkt. Ich muß Ihnen sagen — das zeigen die Ereignisse der letzten Wochen und Monate — : Es gibt in diesem Hause niemanden, zu dem die Menschen in ganz Deutschland mehr Vertrauen hätten als zu Helmut Kohl, unserem Bundeskanzler.
Herr Lafontaine, Sie werden mit vielen Attributen in Zusammenhang gebracht: Einfallsreichtum, junge Generation, Wendigkeit usw. Aber im Zusammenhang mit Ihnen ist niemals von Berechenbarkeit, Geradlinigkeit und Vertrauen die Rede. Und diese Eigenschaften werden in dieser Situation gebraucht.
Im übrigen — ich muß sagen, daß mir das nicht gefallen hat; ich will das in aller Ruhe sagen — haben Sie, so wie Sie den Bundeskanzler und uns angegriffen haben, immer den Eindruck erweckt, als ob Sie selbst von einer besonders hohen moralischen Position aus sprächen. Ich muß Sie daran erinnern, wie Sie schon mit dem Bundeskanzler Helmut Schmidt umgegangen sind,
was dessen Sekundärtugenden angeht. Ich muß Sie auch daran erinnern, daß Sie, bevor wir durch die Währungsunion den Weg dafür freigemacht haben, daß man in der DDR seine Zukunft finden kann, und wir damit die Übersiedlerwelle gestoppt haben, unsere Sorge und unsere Fürsorge für Übersiedler und
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Rühe
Aussiedler als Deutschtümelei bezeichnet haben. Das sagt alles über Ihre moralische Position.
Ich will nicht so viel zitieren wie Sie, Herr Lafontaine.
— Vielleicht hört er mal einen Augenblick zu. — Ich kann ruhig noch etwas warten.
Ich möchte Helmut Schmidt zitieren. Er hat am 15. September 1989 in der „Zeit" folgendes geschrieben:
Wer heute solche Menschen
— die Übersiedler —
abwehren will, der irrt sich sowohl über unsere Rechtsordnung als auch über seine eigene Moral. Er hat unrecht, wenn er andere der Deutschtümelei zeiht, die jene Solidarität zwischen Angehörigen desselben Volkes fortführen wollen, welche uns seit Kriegsende selbstverständlich gewesen ist.
Soweit Helmut Schmidt. — Herr Lafontaine, ich fürchte, Sie irren sich schon wieder über Ihre eigene Moral, da Sie alles darauf abstellen, daß Sie sich parteitaktische Vorteile davon versprechen, daß die Situation für die Menschen in der DDR schlechter wird, damit es Ihnen besser geht.
Um auf Schwierigkeiten im Prozeß der deutschen Einigung hinzuweisen, braucht man keinen Kanzlerkandidaten. Nur auf Schwierigkeiten hinzuweisen und Ängste zu schüren ist kein Zeichen von Führungskraft. Wer ein Führungsamt in der Demokratie anstrebt, muß auch Chancen erkennen. Er muß den Menschen durch eine klare politische Alternative einen Weg zeigen.
Jetzt lassen Sie mich noch ein ruhiges Wort zu der Chance, die wir haben, einen früheren Beitritt als den am 2. Dezember, aber in Verbindung mit Wahlen, zu erreichen, sagen. Ich frage einmal: Wo wären wir denn, wenn der Bundeskanzler und der Außenminister nicht das Verhandlungsergebnis in Moskau erzielt hätten? Wir könnten doch gar nicht darüber reden, daß wir einen früheren Beitritt herbeiführen können. Wir waren uns doch immer einig, daß das der richtige Weg ist.
Sie haben in der Vergangenheit im Zusammenhang mit dem Beitritt sogar eine Volksabstimmung gefordert.
)
Ich will Ihnen, Herr Lafontaine, ein Zitat von Ihnen selbst doch nicht ersparen. Es stammt aus einem Interview des Westdeutschen Rundfunks vom 6. März dieses Jahres. Auf die Frage nach der Wiedervereinigung Deutschlands haben Sie gesagt:
Es geht darum, inwieweit die Bevölkerung beteiligt wird bei dieser Frage. Man muß erkennen,
daß es darum geht, die Bevölkerung zu beteiligen, und in diesem Fall nicht nur die Bevölkerung der DDR, sondern auch die Bevölkerung der Bundesrepublik. Für mich ist das Entscheidende, daß sich dieser Prozeß eben nach einer demokratischen Vorgabe vollzieht und daß nicht jemand, der zufällig im Amt ist und in diesem Fall etwa der Bundeskanzler, der ja für diese Politik, die er jetzt einschlägt, kein Mandat hat.
Soweit Oskar Lafontaine.
Also, ich bestreite, daß der Bundeskanzler zufällig im Amt ist. Aber ansonsten haben Sie recht: Wir wollen ein neues Mandat von allen Bürgern in ganz Deutschland.
Die Bundesregierung ist dabei, den grundgesetzlichen Auftrag zur Vollendung der Einheit Deutschlands zu erfüllen. Es bedarf nun einer letzten entscheidenden Amtshandlung durch diesen Bundestag, um nach erfolgtem Beitritt der DDR unverzüglich eine handlungsfähige gesamtdeutsche Regierung zu bilden. Ich meine, daß es diesem historischen Augenblick durchaus angemessen wäre, durch eine Zweidrittelmehrheit dafür zu sorgen, daß alle deutschen Demokraten diese erste gesamtdeutsche Regierung bilden können.
Ich appelliere an Ihren Patriotismus, daß wir diese Chance zu einem frühestmöglichen Beitritt in Verbindung mit Wahlen nutzen. Diese Chance gibt es, und wir sollten sie gemeinsam nutzen.
Herr Lafontaine, als der Bundeskanzler in Moskau war, haben Sie zeitgleich hier auf einer Pressekonferenz erklärt: Die Bundesrepublik macht unbedachte Außenpolitik. — Ja, er nickt; er bestätigt es. Das hat er auch gesagt.
Sie haben den Mangel an Einklang und Abstimmung mit den Nachbarn kritisiert. Als Beleg haben Sie den unglückseligen englischen Minister Ridley zitiert, als Beleg dafür, daß die Politik von Kohl und Genscher international nicht abgestimmt ist. Auf welchem Niveau sind Sie eigentlich außenpolitisch gelandet, Herr Lafontaine?!
Mit der deutschen Einheit wird eine Vision Wirklichkeit. Der Bundeskanzler hat es geschafft, die deutsche Einigung als europäisches Werk anzugehen und sie europäisch einzubetten. Er hat es geschafft, die Zustimmung der Sowjets zu bekommen und gleichzeitig das Vertrauen der Amerikaner zu behalten.
Er hat es auch geschafft, den Terminkalender, den wir innerdeutsch brauchen, um die Einheit herbeizuführen, mit dem auswärtigen Terminkalender zu koordinieren.
Herr Lafontaine, an eines muß ich hier doch noch einmal erinnern, damit klar wird, daß das nicht alles von alleine gekommen ist. Sie und andere waren doch bereit, auf frühe sowjetische Verhandlungspositionen einzugehen und abzuschließen. So wollten Sie etwa auf die sowjetische Forderung eingehen, daß wir einen besonderen Status in der NATO nur politisch und
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nicht militärisch haben müßten, wenn wir in der NATO bleiben sollten.
Ich will gar nicht von Herrn Meckel von der SPD drüben reden, der die Sowjets dafür kritisiert hat, daß sie auf dieser Basis abgeschlossen haben und daß man die Abrüstung nicht noch weiter vorangetrieben hat.
Nein, ich muß Ihnen sagen, wir wollen, daß dieser Bundeskanzler und diese Bundesregierung ihre erfolgreiche Politik für die Vereinigung Deutschlands und Europas fortsetzen können. Wir bitten um die Schaffung der Voraussetzungen dafür.
Es ist schon genug darüber gesagt worden, daß die Schwierigkeiten beim Übergang zur Einheit unvermeidlich sind. Ich finde, wir sollten auch nicht darüber streiten, ob es schwer ist, die deutsche Einheit herbeizuführen. Natürlich ist das schwer, sehr schwer sogar. Ich halte das übrigens für schwerer — ich hoffe, ich bin da gerecht — als den Neuanfang in der Bundesrepublik. Die Generation damals konnte nämlich bei Null anfangen. Es ist leichter, ein Haus ganz neu zu bauen, als zwei Häuser zusammenzufügen. — Also, natürlich ist dies schwer.
Aber wir müssen doch darüber streiten, mit welcher Politik und von wem diese Schwierigkeiten am besten beseitigt werden können.
Herr Lafontaine, da kann ich Sie nur warnen; denn wenn Sie darauf hoffen, daß sich Ihre Wahlchancen dadurch verbessern, daß es den Menschen in der DDR schlechter geht, dann kann ich Ihnen nur sagen: Eine weit überwiegende Mehrheit unserer Landsleute in Ost und West sagt: Die Union, diese Regierung hat die entscheidende Wirtschaftskompetenz. Also, auch wenn es schwierig wird, gerade wenn es schwierig wird, wird man die Partei wählen, die am besten mit den Schwierigkeiten fertig wird. Das ist doch der Punkt, über den wir gemeinsam reden müssen.
Ich finde im übrigen, wir sollten in der Debatte das Positive nicht zu kurz kommen lassen. Auch da gilt das Bild von dem Wald und den Bäumen. Sie alle haben doch unsere Landsleute in diesem Sommer erlebt. Vor einem Jahr waren sie noch eingesperrt, heute können sie sich zu Millionen frei bewegen. Auch darüber muß doch im Bundestag gesprochen werden.
In der „Zeit" ist vor wenigen Tagen ein Artikel von Joachim Nawrocki erschienen. Er zitiert einen SPD-Bürgermeister: „Die bedeutenden Veränderungen zum Guten werden von den meisten kaum noch wahrgenommen." Ich finde, auch das gehört in diese Debatte hinein. Es wird dort weiter erklärt: „Der bescheidene Lebensstandard" der DDR, den es gegeben hat, „wurde finanziert durch einen wahnwitzigen Raubbau an Straßen, Schienen, Gebäuden, Fabriken und — vor allem — an der Umwelt und der Gesundheit der Bevölkerung." Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Zukunftsängste, öffentliche Armut seien Probleme für die Bürger. „Aber sie kommen keineswegs unerwartet, und sie werden vor allem Übergangserscheinungen bleiben. Ohne die Wende jedoch wäre die DDR-Wirtschaft unheilbar kollabiert und an ihrem eigenen
Dreck erstickt. Mit jedem Tag wäre der Schaden größer geworden. " — Das sage ich zu Ihnen, da Sie immer erklärt haben, wir hätten zu schnell gemacht. Nein, es zeigt sich jetzt: Man muß noch schneller machen. Wenn wir Ihnen gefolgt wären, dann wären wir im deutschen Einigungsprozeß im Abseits gelandet.
Ich finde, wir sollten mit dieser Debatte unseren Bürgern signalisieren, daß wir alles tun, um auf diesem nicht einfachen Weg die Schwierigkeiten zu lösen. Aber wir sollten ihnen auch signalisieren — das müssen wir übrigens ebenfalls den Deutschen in der Bundesrepublik sagen —, daß wir allen Grund haben, uns auf Deutschland zu freuen.
Lieber Oskar Lafontaine, dies als letzte Bemerkung zu Ihrer Rede: Ich habe eben völlig das Gefühl vermißt, daß dort jemand ist, der sich darauf freut, daß Deutschland jetzt wiedervereinigt wird, daß die Menschen zusammenfinden können. Deswegen fürchte ich, daß Sie mit dieser Rede das Urteil der „Zeit" und auch des „Stern" sowie anderer bestätigt haben, die erklärt haben: Was immer man über Sie sagen kann, aber Sie sind der falsche Mann zur falschen Zeit.
Jetzt geht es darum, die Menschen zusammenzuführen, Deutschland zusammenzuführen. Das kann man nur, wenn man ein Herz für Deutschland hat, Oskar Lafontaine.