Auch wenn Sie ertappt worden sind, hören Sie sich ruhig an, was die Presse zu Ihren Manövern zu sagen hat:
Die Aktion Wahltermin 14. Oktober und ihre Begründung sind Wählertäuschung. Wenn es den beiden Regierungschefs Kohl und de Maizière wirklich nur um die Rettung der im Koma liegenden DDR ginge, dann hätten sie den schnellstmöglichen Beitritt vereinbaren sollen.
Denn das ist längst überfällig: schneller Beitritt auch ohne Wahlen. Auch dann, verehrter Herr Bundeskanzler, kann man nämlich Kassensturz machen und handeln.
Aber das ist es ja, was Kohl nicht will. Jetzt gleich und vier Monate vor den Wahlen am 2. Dezember die ganze trostlose Wahrheit der Zahlen auf den Tisch legen und dann vermutlich Steuererhöhungen beschließen.
Meine Damen und Herren, wenn ich jetzt höre, daß Sie den Haushaltsentwurf zurückgezogen haben und daß Sie von uns verlangen wollen, wir sollten uns ohne Kenntnis eines Haushaltsentwurfes zu einem Wahltermin bereit erklären, dann muß ich Ihnen sagen: Ein solches Täuschungsmanöver der Wählerinnen und Wähler wird es nicht geben.
Sie müssen lernen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
— Die Wahrheit und die Wirklichkeit in der DDR sind nicht Anlaß zu solch albernem Gelächter, wie Sie es hier abhalten, sondern Anlaß zu tiefer Besorgnis.
Hören Sie endlich auf, all diejenigen, die alternative Vorschläge zum Prozedere machen und eine andere Einschätzung der Lage in der DDR haben als Ihre
beschönigende Einschätzung als Gegner der Einheit zu diffamieren.
Worum es geht, ist, daß Sie sich, Herr Bundeskanzler, der Verantwortung stellen müssen, die jetzt auf Sie zukommt. Verstecken Sie sich nicht immer wieder hinter der Regierung der DDR.
Es war fast schäbig, mit anzusehen, wie man zunächst versucht hat, die Frauen und Männer der neuen DDR-Regierung zu hofieren — es war ja regelrecht eine Invasion festzustellen, um Phototermine mit ihnen zu bekommen — , und wie man jetzt probiert, diese Männer und Frauen über die Presse niederzumachen und ihnen Unfähigkeit vorzuwerfen. Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Wenn einige von Ihnen innerhalb kürzester Zeit vor die Aufgabe gestellt worden wären, mit dem ehemaligen Rechtssystem der DDR arbeiten zu müssen, wollte ich nicht sehen, wie diese ausgesehen hätten.
Unterlassen Sie es, von Ihrer Verantwortlichkeit dadurch abzulenken, daß Sie die Fehler immer wieder der Regierung der DDR anlasten wollen, während die Erfolge wohl immer nur Erfolge der Bundesregierung sind.
Ich wies bereits darauf hin — dies scheint sich immer noch nicht durchgesetzt zu haben; ich sehe dabei auf die Regierungsbank — : Sie brauchen für den Fortgang der Einigungspolitik parlamentarische Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat. Ich bitte, dies endlich zur Kenntnis zu nehmen.
— Ich will Ihnen sagen, warum ich bitte, dies endlich zur Kenntnis zu nehmen: Als wir am Freitag unterrichtet wurden, daß ein neuer Wahltermin ins Auge gefaßt worden sei, verhandelten die Bundesregierung und die Regierung der DDR mit unseren Beauftragten immer noch auf der Grundlage eines Wahltermins im Rahmen des Grundgesetzes. Meine Damen und Herren, eine solche Behandlung lassen wir uns nicht mehr bieten. Das ist der plumpe Versuch, uns zu täuschen und zu betrügen.
Wenn Sie ernsthaft der Überzeugung gewesen wären — Graf Lambsdorff, ich wende mich in Fortsetzung des Gespräches, das sachlich zwischen uns verlief, an Sie —, dann hätte das Prozedere doch ein ganz anderes sein müssen. Man kann doch nicht mit solchen Taschenspielertricks eine solche Vereinbarung erreichen wollen. Man muß doch vorher mit denen
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Ministerpräsident Lafontaine
reden, die man braucht, um das Grundgesetz zu ändern.
Meine Damen und Herren, Sie haben zu einem Parteiengespräch eingeladen — so habe ich es vom Bundeskanzler gehört —, um darüber zu beraten, was jetzt zu tun sei.
Ich greife dieses Parteiengespräch gerne auf. Aber es gibt mehr Parteien — darin stimme ich Ihnen zu, Frau Vollmer — als die, die eingeladen worden sind.
Wir müssen uns darüber verständigen, was jetzt zu tun ist, um den Menschen in der DDR zu helfen. Voraussetzung dafür ist eine richtige Analyse der ökonomischen und sozialen Situation. Voraussetzung dafür ist auch eine wahrhaftige Darstellung der finanziellen Entwicklung des Staatshaushaltes der DDR.
Nun will ich zur Sache kommen.
Sie, Graf Lambsdorff, haben im zweiten Teil Ihrer Ausführungen eine Reihe von Maßnahmen angesprochen, die notwendig sind, um jetzt aus der Krise herauszukommen.
— Das Lachen wird Ihnen noch vergehen.
Meine Damen und Herren, ich haben Ihnen gesagt: Wenn Sie die notwendigen Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat für die Einigungspolitik sicherstellen wollen, dann müssen Sie sich anständig aufführen und demokratisches Benehmen an den Tag legen.
Ich komme nun zum ersten Punkt: Strukturprogramm für die DDR. Wir haben unmittelbar nach dem Fall der Mauer zusammen mit Stimmen in der Öffentlichkeit ein Strukturprogramm für die DDR gefordert. Sie haben das Strukturprogramm damals mit dem Bemerken zurückgewiesen, Sie wollten der Regierung Modrow nicht noch Milliarden hinterherwerfen.
Dies war eine wirtschaftspolitische Fehlentscheidung,
und zwar deshalb, weil, ehe die ersten Milliarden verausgabt worden wären, um das Strukturprogramm für die DDR abzuwickeln, die Regierung Modrow längst nicht mehr im Amt gewesen wäre. Sie haben durch Ihr Zögern einen zügigen Ausbau der Infrastruktur verhindert.
Es ist ein Grundfehler konservativer Wirtschaftspolitik, zu vernachlässigen, daß eine solide staatliche Infrastruktur Voraussetzung für das Funktionieren realwirtschaftlicher Investitionen ist.
Zweitens. Wir bieten nicht nur an, im Rahmen eines Parteiengespräches über ein Strukturprogramm zu reden, sondern wir bieten auch an, über eine steuerliche Präferenz für Investitionen in der DDR zu reden und die entsprechende Entscheidung im Bundesrat zu begleiten.
Wenn ich heute in der Zeitung lese, daß der Wirtschaftsminister erkannt hat, daß die steuerlichen Investitionsbedingungen in der DDR nicht stimmen, weil — man will es ja gar nicht glauben — die steuerlichen Anreize, um im Zonenrandgebiet oder in Berlin zu investieren, immer noch höher als in der DDR sind, dann ist das doch eine Bankrotterklärung Ihrer Regierung und kein Nachweis seriösen Arbeitens.
Drittens. Wir brauchen ein Wohnungsbauprogramm für die DDR, und wir brauchen ein Wohnungsbauprogramm für die Bundesrepublik.
Es geht nicht an, daß wir die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt in der Bundesrepublik vernachlässigen. Sie haben sich hier eine schwere Fehleinschätzung zuschulden kommen lassen. Auf Grund der Wanderungsbewegung aus Osteuropa, auf die ich immer hingewiesen habe, — —
— Ich bin in diesem Zusammenhang von Ihnen lange Zeit wegen Vorschlägen diffamiert worden, die mittlerweile alle im Staatsvertrag enthalten sind.
Sie haben damals eben nicht begriffen, daß jeder junge Mann, der aus der DDR wegrennt, nicht nur hier die Renten sicherstellt, sondern auch in der DDR fehlt, wenn es darum geht, die Produktion aufzubauen. Dies haben Sie damals nicht begriffen.
Ich habe auf die Belastungen des Wohnungsmarktes hingewiesen, die sich auf Grund der Wanderungsbewegungen ergeben. Diese Belastungen sind nicht mehr zu leugnen. Die Mieten steigen. Die Zinsen stei-
17392 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990
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gen. Die Erklärungen, der Wohnungsmarkt sei ausgeglichen, waren falsch. Der Abbau der Fördermittel für den sozialen Wohnungsbau war ein schwerer Fehler.
Wir fordern ein Wohnungsbauprogramm. Die Vorschläge liegen im Bundesrat vor. Wir fordern insbesondere, die Förderung des sozialen Wohnungsbaus wieder aufzunehmen.
Das gleiche gilt für die DDR. Richtig wäre es, in der DDR über den Wohnungsbau Eigentumsbildung zu betreiben und eine Sanierung des völlig maroden Wohnungsbestandes über eine staatliche Förderung zu ermöglichen. Dies wäre ein Konjunkturprogramm für Handwerksbetriebe in der DDR.