Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin in der Hoffnung hierhergekommen, die Gelegenheit zu haben, nach einem Sprecher der größten Regierungspartei oder nach einem Sprecher der Regierung in die Debatte eingreifen zu können. Nun hat der Vorsitzende der kleineren Regierungspartei das Wort ergriffen. Aber auch das ist ja keine Überraschung mehr, haben doch die letzten Tage uns gelehrt, daß die Vorliebe der Unionsparteien für kleine Parteien so groß geworden ist, daß man das Wahlrecht so konstruieren möchte, daß auch die kleinste Bürgerbewegung demnächst die Möglichkeit hat, im Bundestag vertreten zu sein.
Ich möchte an das anknüpfen, was wir im Gespräch mit der Bundesregierung zustande zu bringen versucht haben. Wir haben versucht, im Gespräch mit der Bundesregierung einen Dialog darüber zustande zu bringen, was jetzt unverzüglich geschehen kann, um den Menschen in der DDR zu helfen.
Dies ist das erste Anliegen der SPD. Daher appelliere ich noch einmal an Sie: Unterlassen Sie ständige Diskussionen über das Wahlrecht und über Wahltermine! Treten Sie mit uns in einen konstruktiven Dialog darüber ein, was wir jetzt tun können, um die soziale Katastrophe in der DDR zu vermeiden!
Voraussetzung, meine Damen und Herren, dafür ist, daß man der Wahrheit ins Gesicht schaut und daß man nicht der Versuchung unterliegt wie Graf Lambsdorff es hier genannt hat, die Wahrheit ständig zu beschönigen.
Ich habe die Entscheidung zur Einführung der D-Mark in der DDR zum 1. Juli als die wichtigste finanzpolitische Entscheidung der letzten Jahrzehnte bezeichnet. Die Frage, die bereits jetzt zu beantworten ist, ist, ob die Erwartungen, die an diese Entscheidung geknüpft worden sind, eingetreten sind. Ich zitiere hierzu den Bundeskanzler. Er sagte anläßlich dieser Entscheidung:
Den Deutschen in der DDR kann ich sagen, was auch Ministerpräsident de Maizière betont hat: Es wird niemandem
— ich wiederhole: Es wird niemandem —
schlechter gehen als zuvor, dafür vielen aber besser.
Meine Damen und Herren! Graf Lambsdorff hat hier bereits darauf hingewiesen, daß niemand über den drastischen Anstieg der Arbeitslosigkeit in der DDR überrascht sein konnte.
Arbeitslosigkeit ist für uns eine existenzielle Frage.
Es war daher ein Fehler, mit der Einführung der D-Mark zu sagen: Es wird niemandem schlechter gehen als vorher. Die Menschen in der DDR, meine Damen und Herren, sehen dies mittlerweile ganz anders. Auf Grund des Zinsanstiegs
und auf Grund des Anstiegs der Mieten in der Bundesrepublik gibt es auch in der Bundesrepublik Leute, die von der Einigungspolitik des Kanzlers Nachteile haben.
Sie sagten anläßlich der Einführung der D-Mark, meine Damen und Herren: Man muß der Wahrheit ins Gesicht schauen;
und für die Menschen in der Bundesrepublik gilt: Niemand wird wegen der Vereinigung Deutschlands auf etwas verzichten müssen.
Auch dieser Satz war grundlegend falsch.
Es ist doch von niemanden zu bestreiten, daß die Einheit dreistellige Milliardensummen kosten wird und daß diese dreistelligen Milliardensummen vom deutschen Steuerzahler aufgebracht werden müssen. Wie man angesichts einer solchen Situation sagen kann, niemand wird hier auf etwas verzichten müssen, das erklären Sie demnächst den Wählerinnen und Wählern in der Bundesrepublik!
Nun komme ich zu den Vorgängen in der Volkskammer. Am Anfang der letzten Woche lasen wir unter der Überschrift „Ich mache keine Sperenzchen" folgende Ausführungen des Ministerpräsidenten der DDR:
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 17389
Ministerpräsident Lafontaine
Ich wehre mich dagegen, Beitrittserklärungen abzugeben, bevor ich einen Einigungsvertrag habe. Meine Forderung lautet: Wir müssen den Einigungsvertrag abschließen, und jeder Versuch, die Regierung in ihren Ausgangspositionen zu schwächen, ist verantwortungslos.
Er sagte weiter:
Wenn man aber erklärt, der Beitrittsantrag wird zu diesem oder jenem Zeitpunkt wirksam, kann uns ein Verhandlungspartner sagen: Wir kommen nicht überein. Legen wir es beiseite. Es erledigt sich durch Fristablauf.
Dies war die Position des Ministerpräsidenten der DDR zu Beginn der letzten Woche.
Wenige Tage später war es ganz anders. Es wurde ein Beitrittstermin genannt. Zur Begründung wurde angeführt: Bei den Vorbereitungen zu den Verhandlungen zum Einigungsvertrag hat die Zwischenbilanz ergeben, daß in den Bereichen Finanzen, Arbeit und Soziales, Wirtschaft, Handel und Landwirtschaft die Probleme der Aufarbeitung von 40 Jahren sozialistischer Mißwirtschaft größer sind als erwartet. Dies ist nicht die Stunde der Ressortbewertung. Die Fakten sprechen für sich.
Es ist richtig, meine Damen und Herren: Mittlerweile sprechen die Fakten für sich. Es ist an der Zeit, daß wir die Fakten zur Kenntnis nehmen, um endlich zu richtigen Lösungsansätzen zu kommen.
Ich habe gesagt: Man muß der Wahrheit ins Gesicht schauen. Man darf insbesondere nicht der Versuchung erliegen, immer wieder unwahre Behauptungen zur Grundlage von Entscheidungen zu machen.
Ich nehme jetzt den Antrag der CDU/DA-Fraktion in der Volkskammer, um zu belegen, daß dies immer wieder versucht wird, nicht nur in der Würdigung des Bundeskanzlers, welche Auswirkungen die schnelle Einführung der D-Mark wohl haben werde. In diesem Antrag heißt es zur Begründung des Beitritts:
Bereits jetzt ist Konsens mit der Bundesrepublik in den für die DDR-Bevölkerung besonders wichtigen Fragen erreicht:
Erstens. Rechtsangleichung.
Zweitens. Sicherung der Voraussetzungen für einen schnellen wirtschaftlichen Aufbau.
Drittens. Schaffung sozialverträglicher Regelungen für die Beschäftigten einschließlich des öffentlichen Dienstes der NVA.
Meine Damen und Herren, nichts von alledem stimmt. Es besteht kein Konsens mit der Bundesrepublik in diesen entscheidenden Fragen. Es ist unzulässig, daß die Bevölkerung der DDR auf diese Art und Weise in der Volkskammer getäuscht wird.
Ich lese hierzu ein Schreiben des Chefs der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen vor, der sich gegen diese Art der Darstellung verwahrt hat.
— Wenn ich mich auf den Chef der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen beziehe, dann hat dies eine für Sie ganz reale Grundlage: Das Land Nordrhein-Westfalen ist Verhandlungsführer für die A-Länder, wenn es um den Einigungsvertrag geht. Meine Damen und Herren, nehmen Sie endlich zur Kenntnis, daß Sie im Bundesrat mit einer anderen Mehrheit konfrontiert sind.
Wenn Sie weiter meinen, Sie können mit Überrumpelungsversuchen und Täuschungsmanövern das Tempo der Einheit bestimmen,
wird es Ihnen so ergehen wie vor ein paar Tagen dem Lokführer, der plötzlich unsanft von der Lokomotive genommen wurde und fühlen mußte, daß das Tempo und die Richtung anders verlaufen, als er sich das vorgenommen hatte.
Ich stelle für die Mehrheit der Bundesländer fest. Erstens. Es trifft nicht zu, daß zum Thema Rechtsangleichung Einverständnis besteht. Der Vertragsentwurf enthält derzeit lediglich ausfüllungsbedürftige Blankettformulierungen, jedoch keinerlei inhaltliche Übereinstimmung.
Zweitens. Es trifft nicht zu, daß die Voraussetzungen für einen schnellen wirtschaftlichen Aufbau der DDR gesichert wären. Das Gegenteil ist der Fall.
Selbst der Bundeskanzler hat gesagt: Es ist notwendig, in der DDR einen Kassensturz zu machen. Aus Sicht der Länder ist dies dringend notwendig, bevor über die Regelungen der Finanzbeziehungen zwischen dem Bund und den Ländern im vereinten Deutschland gesprochen werden kann.
Schließlich trifft es überhaupt nicht zu, daß es einen Konsens über die Schaffung sozialverträglicher Regelungen für die Beschäftigten einschließlich des öffentlichen Dienstes und der NVA gebe. Es geht hier um 1,7 Millionen Menschen. Wir haben noch keine Antwort gefunden, die wir ihnen geben, wenn es darum geht, Stellen abzubauen — das ist notwendig — und Überleitungsverträge anzubieten. Täuschen Sie die Menschen doch nicht, indem Sie sagen, das Problem sei geregelt. Nichts ist geregelt. So zynisch kann man mit den Menschen nicht umgehen.
Es ist gut, daß das Manöver der Koalitionsparteien — ich muß wohl präzisieren: des Bundeskanzlers — von der Presse durchschaut worden ist. Ich zitiere zunächst einmal die „Welt", die ja nicht in dem Verdacht steht, Ihnen übelzuwollen. Dort heißt es:
17390 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990
Ministerpräsident Lafontaine
Unter diesen Gesichtspunkten und in Anbetracht der miserablen wirtschaftlichen und sozialen Situation in der DDR ist ... klar: Wichtig ist der schnelle Beitritt, nicht aber die hastige Wahl.
Bekennen Sie sich zu Ihrer Verantwortung und stellen Sie sich dem schnellen Beitritt.
Im „stern" heißt es heute — —