Nein; es tut mir leid.
Meine Damen und Herren, die Kritiker sprechen von Chaos, die Kritiker sprechen von Desaster, die Kritiker sprechen von Katastrophe — —
— Meine Damen und Herren, die Kritiker sprechen von Chaos, sie sprechen von Desaster, sie sprechen von Katastrophe in der DDR. Was soll das eigentlich? Ist das Lust am Untergang? Ist das Masochismus? Es wäre doch unser aller deutsches Chaos, unser aller deutsches Desaster.
17386 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990
Dr. Graf Lambsdorff
Hat denn jemand erwartet, daß 40 Jahre sozialistische Mißwirtschaft durch sechs Wochen Soziale Marktwirtschaft überwunden werden können?
Haben wir nicht gewußt, daß sich die massive verdeckte Arbeitslosigkeit in offene Arbeitslosigkeit verwandeln würde? 60 % der Arbeitsplätze gingen verloren, sagt Frau Engelen-Kefer heute. Niemand, meine Damen und Herren, darf die Probleme verniedlichen. Aber wir können uns doch nicht selber hinterher zu tumben Toren erklären!
— Wenn Sie es wollen, tun Sie es. Ich habe nichts dagegen. Aber nicht für uns!
Gewiß, meine Damen und Herren, einiges ist schlechter gekommen als vermutet. Die Lage der Wirtschaft der DDR ist noch schwieriger, als wir es vorher gesehen haben.
Es gab manche zwar verständliche, aber schädliche Unerfahrenheit der dort Regierenden. Und es gibt die schreckliche faktische und psychologische Hinterlassenschaft des SED-Regimes.
Es ist ein Berg von Problemen; wohl wahr.
Es sind auch Fehler gemacht worden auf allen Seiten. Die Treuhandanstalt ist viel zu spät in Gang gekommen. Deshalb hat sie im Juli Geld mit der Gießkanne verteilt, auch an absolut nicht lebensfähige Betriebe. Die Umwandlung staatlicher in private Monopole, arbeitsrechtliche Investitionserschwernisse vielfältiger Art, die sich die DDR noch nicht leisten kann
— unter anderem die SPD in der DDR; die stellt dort den Arbeitsminister —, die immer noch anhaltende Selbstbedienung der Altfunktionäre in den DDR-Betrieben, das Verbot privater Satellitennutzung für die Herstellung von Telekommunikationsverbindungen durch das Postministerium der DDR, realitätsferne Tarifabschlüsse, mangelnde Haushaltsdisziplin — ja, es ist wahr, es sind auch Fehler gemacht worden auf vielen Seiten.
In diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren, zur Haushaltsdisziplin nur ein Wort. Es wird bei uns keine Steuererhöhungen zur Finanzierung der deutschen Einheit geben.
Wir brauchen sie nicht. Wir würden unsere Wirtschaft belasten, und wir würden ja auch die DDR belasten, meine Damen und Herren, denn wir sind bald auch steuerlich ein Land. Was soll das Ganze?
In dem Zusammenhang will ich nur eines anmerken.
Wir hören — bisher ist da nichts entschieden —, daß es vielleicht den Bundeshaushalt 1991 erst im nächsten Jahr geben soll.
Das muß sehr sorgfältig überlegt werden, und Vor- und Nachteile müssen abgewogen werden, ob wir wirklich zu diesem Verfahren übergehen sollen.
— Bei jedem Anflug von Nachdenklichkeit wird man durch ziemliches Getöse gestört. Aber lassen wir es so sein.
Meine Damen und Herren, wir sollten aufhören, ein düsteres DDR-Gemälde zu malen. Die Menschen brauchen Optimismus. Sie brauchen Zuversicht, und sie haben es nötig, daß man ihnen Mut macht.
Zu Recht beklagt unser Kollege Ehrenberg, dessen Einsatz in der DDR ich mit Respekt erwähne, daß immer nur über die Fehlleistungen von Kombinaten und großen Unternehmenseinheiten gesprochen wird und daß die vielfältigen Initiativen von Mittelständlern, von Selbständigen in der DDR und auch solchen, die aus der Bundesrepublik kommen, kaum Erwähnung finden. Warum sagt denn keiner, daß es den Rentnern — entgegen der Hetzkampagne der PDS vor der Volkskammerwahl — so vernünftig geht, daß niemand mehr darüber redet und keine Klagen hochkommen? Sind wir dazu da, nur die negativen Punkte aufzulisten?
Die Menschen in der DDR fragen mit Recht nach der Zukunft von Arbeitsplätzen, Wohnungen, der allgemeinen Versorgung, der Landwirtschaft, der Umwelt. Was, meine Damen und Herren, muß geschehen, damit wir hier weiterkommen?
Erstens. Die Treuhandanstalt muß schnell voll funktionsfähig werden. Sie hat die wichtige Aufgabe, die sanierungsfähigen Betriebe herauszufinden, ihnen über die Liquiditätsklemme der nächsten Monate zu helfen und dabei gleichzeitig zu sortieren, wem nicht mehr geholfen werden kann und welche Betriebe geschlossen werden müssen.
Der Hinweis auf die notwendige Schließung von konkursreifen Betrieben ist bitter, insbesondere, wenn man an regionale Schwerpunkte wie im Kupfererzbergbau denkt. Aber dieser Wirtschaftszweig kann in Deutschland und eben auch in der DDR nicht mehr rentabel betrieben werden. Man kann hier nur schließen.
— Uranbergbau ganz sicher auch, abgesehen von all den unmenschlichen Belastungen, die den dort Arbeitenden zugemutet worden sind. Kriminelle Veranstaltungen waren und sind das!
Es ist besser, jetzt schnelle und scharfe Schnitte zu machen und den Betroffenen Arbeitslosengeld zu
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 17387
Dr. Graf Lambsdorff
zahlen, als ihnen vorzugaukeln, ihre Betriebe könnten noch einmal rentabel werden.
Ich stimme auch hier mit Frau Engelen-Kefer überein — es steht heute in der Zeitung —, marode Betriebe sollten besser heute als morgen geschlossen werden. Sie hat recht.
Aber, meine Damen und Herren, noch viel wichtiger als das Arbeitslosengeld sind Qualifizierung, Umschulung, Weiterbildung, Ausbildung. Das muß ermöglicht werden, und regionale Investitionsprogramme zur Schaffung neuer Arbeitsplätze müssen angekurbelt werden. Das ist in der DDR jetzt vonnöten.
Erhaltungssubventionen, Herr Ministerpräsident des Saarlandes — ich denke, da sind wir uns einig — würden nur zu Erscheinungen führen, wie wir sie in der Vergangenheit — teilweise gemeinsam — in Ihrem Bundesland zu bewältigen versucht haben. Für sie gab es noch eine energiepolitische Rechtfertigung; die läßt sich so in der DDR nicht finden.
Die Bauwirtschaft bietet der DDR die Chance, auf breiter Front und schnell neue Arbeitsplätze zu schaffen. Es gibt gewaltige Beschäftigungsmöglichkeiten. Jeder, der in die DDR fährt, braucht sich ja nur umzusehen. Sie müssen ergriffen, sie müssen genutzt werden. Marktwirtschaftliche Wohnungswirtschaft ist keine sozial unverträgliche Veranstaltung. Sie will die Wohnbedingungen aller Gruppen der Gesellschaft einschließlich der sozial Schwachen, wie es Rentner und Alleinerziehende sind, verbessern.
Der seit 1936 geltende Mietstopp in der DDR muß wenigstens für neue Investitionen aufgegeben werden. Sonst kommen sie nicht. Schrittweise muß die Mietanpassung im Gleichklang mit der Einkommenssteigerung vollzogen werden. Die heutigen Mieten decken nicht einmal die öffentlichen Gebühren für den Grundbesitz. Sozial Schwache und Rentner müssen über die Einführung des Wohngeldes einen angemessenen Ausgleich für höhere Belastungen erhalten.
In der Frage der Sanierung der Umwelt ist mir für die DDR am allerwenigsten bange. Die Einführung moderner Techniken auf dem Weltmarktstandard — und was neu kommt, wird Weltmarktstandard sein; man wird ja nicht für veraltete Modelle dort investieren — bei der Elektrizitätserzeugung, in der Industrie, der Übergang auf moderne und schadstoffarme Motoren im Verkehrsbereich und die Umstellung der Hausheizungen auf andere Brennstoffe werden dazu führen, daß in relativ kurzer Zeit eine starke Verbesserung der Luftqualität erreicht werden kann.
Die Preislawine im Einzelhandel der DDR nach Einführung der D-Mark beruht nicht zuletzt auf den veralteten Betriebsstrukturen in der DDR und auf der Tatsache, daß die alten SED/PDS-Kader diese Betriebsstrukturen noch beherrschen und beeinflussen können.
Ich habe Vorschläge zur Intensivierung des Wettbewerbs gemacht, und ich bin sicher, daß gemeinsame
Anstrengung und das Abschneiden der alten Zöpfe Besserung versprechen.
Die Landwirtschaft in der DDR ist durch die schnelle Umstellung auf westliche Erzeugnisse schwer getroffen. Die Einbeziehung in den Agrarmarkt der Europäischen Gemeinschaft am 1. August wird helfen. Eins ist aber auch hier klar: Mit der alten Wasserkopfwirtschaft wird eine leistungsfähige DDR-Landwirtschaft in Zukunft nicht mehr leben können. Umstrukturierung macht auch vor den ländlichen Gebieten der DDR nicht halt.
Die unklaren Eigentumsverhältnisse — wir wissen es doch alle — sind ein großes Hindernis. Die FDP hat darauf gedrungen, die Verletzungen privaten Eigentums in der Vergangenheit, soweit es überhaupt noch geht — diese Einschränkung muß man nach der 40jährigen Entwicklung machen —, zu regeln. Aber diese vergangenheitsbezogene Regelung, die jetzt im Einigungsvertrag festgeschrieben werden soll, sollte als Basis für eine Zukunftsregelung gelten.
Der Produktionsfaktor Grund und Boden muß in einer Marktwirtschaft verfügbar sein. Sonst kann man nicht investieren.
Und das ist zur Zeit die Lage der DDR.
Deshalb meinen wir, es wäre gut, wenn die Bundesregierung umgehend mit der Regierung der DDR darüber spräche, wie man, nachdem die Klärung der vergangenen Verletzungen in der Eigentumsfrage nun behandelt und geregelt worden ist, zukunftsgewandt darüber sprechen kann, ob man Erwerber von Grund und Boden von Ansprüchen früherer Berechtigter freistellen kann. Das ist eine schwierige Frage.
Aber alles das — die beschränkte Zeit hier erlaubte nicht, mehr darzustellen — und vieles mehr, meine Damen und Herren, muß jetzt angepackt werden. Es kann besser und schneller und wirksamer und überzeugender angepackt werden, wenn wir alle Schritte zur staatlichen Einheit so schnell wie möglich tun.
Deshalb fordern die Freien Demokraten mit dem Koalitionspartner als beste Lösung den schnellen Beitritt und schnelle Wahlen.
Aber ich sage auch sehr nachdrücklich: Wir werden uns einem Beitrittsersuchen der DDR, das von Wahlen abgekoppelt ist, selbstverständlich nicht entziehen.
Das bleibt die Entscheidung der DDR.
Ich sage nur: Dies ist die zweitbeste Lösung, und es ist nicht die beste Lösung.
— Ja, es gibt eben immer auch noch einmal etwas Besseres als das, was sehr gut ist oder was Sie sehr gut finden, Herr Kollege Jahn.
17388 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990
Dr. Graf Lambsdorff
Heute geht es darum, die Bitte der Volkskammer zu erfüllen und Beitritt und Wahlen am 14. Oktober 1990 zu ermöglichen.
Wir, die Freien Demokraten, halten das für wichtig. Wir halten das für notwendig. Wir sind der Überzeugung, daß den Menschen in der DDR und der Einheit unseres Vaterlandes auf diese Weise am besten und am schnellsten gedient werden kann. Deshalb stimmen wir der Entschließung der Koalitionsfraktionen zu.
Ich danke Ihnen.