Rede von
Dr.
Graf
Otto
Lambsdorff
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wenn in der Debatte der Volkskammer gestern eines deutlich geworden ist — und zwar weniger wegen des nicht verabschiedeten Wahlrechts, sondern mehr wegen der Diskussion am späten Nachmittag und frühen Abend —, dann das eine: Die deutsche Einheit duldet wahrlich keinen Aufschub mehr; es ist höchste Zeit!
Am Abend hat die Volkskammer — und das ist das erste frei gewählte deutsche Parlament im anderen Teil unseres Vaterlandes — folgende Bitte an uns, an den Deutschen Bundestag, gerichtet: Die Verfassungsorgane der Bundesrepublik werden gebeten, die Möglichkeit zu eröffnen, die Wahlen zum gesamtdeutschen Parlament in Verbindung mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 14. Oktober 1990 durchzuführen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 17383
Dr. Graf Lambsdorff
Diese Bitte erinnert uns an unseren obersten Verfassungsauftrag, ein freies und geeintes Deutschland in einem friedlichen Europa herzustellen.
— Die Liberalen haben selbstverständlich zugestimmt, verehrter Herr Kollege Ehmke.
Die Koalition aus CDU/CSU und FDP will den Wunsch der Volkskammer erfüllen, und deswegen haben wir den Entschließungsantrag in die heutige Sitzung eingebracht. Wir wissen — und ich glaube, auch Sie wissen es, meine Damen und Herrren —, daß die Mehrheit unter den Menschen in der DDR für schnellen Beitritt nach Artikel 23 und für schnelle Wahlen noch viel größer ist als im Parlament der DDR.
Lieber heute als morgen — das ist die Antwort des vielzitierten Mannes auf der Straße, wenn Sie ihn in der DDR treffen und fragen.
Die Menschen wollen wählen, sie wollen bald wählen, sie wollen selbst entscheiden, und sie wollen in der staatlichen Ordnung der deutschen Einheit leben.
Vergessen wir bei der Diskussion um Wahlen doch nicht: Es sind dieselben Menschen, die sich an der Volkskammerwahl am 18. März zu 93 % beteiligt haben. Sie wollen wählen. Hören wir auf davon zu reden, sie würden mit Wahlen überfordert. Sie haben 40 Jahre lang nicht wählen dürfen; jetzt wollen sie es!
Am 18. März war die Entscheidung für die schnelle deutsche Einheit und für den ersten Staatsvertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion.
Wollen wir die heutige Bitte wirklich zurückweisen? Gewiß, solange die äußeren Aspekte auf dem Weg zur deutschen Einheit nicht geklärt waren, konnten wir nicht handeln. Aber die Zwei-plus-Vier-Gespräche, der NATO-Gipfel in London, das Treffen im Kaukasus hatten das von Bundesaußenminister Genscher gezogene Fazit: Die äußeren Aspekte sind bis dahin zu klären. Dies ist bestätigt worden von Ihrem, von unserem Kollegen Egon Bahr. Wir dürfen entscheiden, wir können entscheiden; aber wir sagen nein.
Ich finde es bedrückend, ich finde es traurig: Die Hoffnungen vieler Menschen in beiden Teilen unseres Vaterlandes zerschellen am Nein einer Partei, die unbezweifelbar große politische Verdienste am Weg der Deutschen zur staatlichen Einheit hat.
Warum, meine Damen und Herren, so frage ich, verweigert sich die SPD — von den GRÜNEN war nichts anderes zu erwarten — dieser Herausforderung? Haben Sie Ihre eigenen Reden nach dem Fall der Mauer nicht mehr im Ohr?
Die liberalen Parteien in Ost und West, die ab übermorgen eine liberale Partei in ganz Deutschland sein werden, waren die ersten, die für frühen Beitritt
und für frühe gesamtdeutsche Wahlen eingetreten sind. Wir sind damals auch von Ihnen kritisiert worden, auch von der CDU/CSU kritisiert worden.
Meine Damen und Herren, jetzt sehen wir das alle anders.
Wenn Sie von Blockparteien, Pikkoloflöten und Blockflöten sprechen, dann sage ich Ihnen: Wer diese kollektive pauschale Verurteilung der Vergangenheit der DDR hier betreibt,
versündigt sich an den Menschen der DDR.
Was wollen Sie eigentlich mit zwei Millionen SED-Angehörigen machen? Alle ausgrenzen?
Was wollen Sie mit den Menschen machen, die wegen der Ausbildung und Erziehung ihrer Kinder in die politischen Parteien der DDR gezwungen worden sind und hineingegangen sind? Alle ausgrenzen?
Diese Kollektivverurteilung steht Ihnen schlecht zu Gesicht. Wir werden sie nicht mitmachen. Individuelle Schuld muß gesühnt werden; kollektive Verantwortung kann es nicht geben.
Wir haben in dieser Diskussion wie die Sozialdemokraten immer wieder gesagt: Gewählt werden kann erst dann, wenn der einheitliche Staat durch Beitritt zustande gekommen ist.
Auch bei diesem Punkt besteht jetzt Übereinstimmung. Niemand will mehr eine andere Reihenfolge, auch Ministerpräsident de Maizière nicht mehr.
Jetzt aber geht es um die Frage, ob Beitritt und Wahl auseinandergezogen werden können.
Rechtlich und verfassungsrechtlich kann man es sicher. Politisch ist es aber nicht wünschenswert. Die gestrige Debatte in der Volkskammer hat noch einmal demjenigen, der ihr zuhören konnte, sehr deutlich gemacht, daß mit dieser Möglichkeit, mit dieser Option unter den gegebenen Umständen nur schwer zu rechnen ist.
17384 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990
Dr. Graf Lambsdorff
Herr Ministerpräsident des Saarlandes, Herr Lafontaine, Sie bezeichnen diese Diskussion als albernes Theater und als Affentheater.
Soll das, meine Damen und Herren von der SPD, der Ton der Antwort an die DDR sein; soll er es bleiben? Nicht mit uns, nicht mit den Liberalen und nicht mit dieser Koalition!
Es geht um die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung. Wir nehmen unsere Verfassung ernst.
Deshalb ist sich die Koalition einig: Der Weg über Art. 68 kommt nicht in Betracht.
Aber eine Verfassungsänderung zur einmaligen Abkürzung unserer Legislaturperiode ist möglich und auch nötig.
Verweigert sich der Deutsche Bundestag, dann müssen für wenige Monate Abgeordnete der Volkskammer hierher delegiert werden.
Das sind die typischen Abgeordneten zweiter Klasse, was wir keinem unserer Kollegen zumuten wollen.
— Das ist so ein ähnliches Wahlverfahren wie bei Ihnen beim Parteivorstand vorgesehen; trotzdem ist es aber nicht gut.
Die Bevölkerung der DDR würde von einer Regierung regiert werden, die sie nicht mitwählen durfte; denn Beitritt bedeutet den Übergang aller Autorität und Souveränität auf die Bundesregierung.
Diese Diskussion ist kein Affentheater. Sie zeigt ein merkwürdiges Verständnis von repräsentativer parlamentarischer Demokratie auf Ihrer Seite.
Was, meine Damen und Herren von der SPD, würden Sie eigentlich tun, wenn die DDR ihren Beitritt in der Mitte unserer Legislaturperiode erklären würde? Nach Ihrer Logik müßten die Wähler in der DDR dann zwei Jahre warten, bevor sie wählen dürften.
Es geht nicht um Wahltermine, es geht uns um die Menschen, sagen Sie. Wirklich?
Kann die neue Variante einer Sonthofen-Strategie für
sich in Anspruch nehmen, den Menschen zu dienen?
Es dient den Menschen nur eines: die Hängepartie auf
dem Weg zu einem einheitlichen deutschen Staat so schnell wie möglich zu beenden.
Wir sind ein Volk.