Rede von
Gerald
Häfner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Während wir hier reden, verlieren Tausende von Menschen in der DDR ihren Arbeitsplatz, ihre Lebensgrundlage, ihr Haus oder auch ihr Grundstück, etwa weil das Grundstück z. B. plötzlich irgendeinem Herrn im Westen zugesprochen wurde, der dies wiederum von seinen Eltern geerbt und
davon vielleicht lange Zeit überhaupt nichts gewußt hat und der selber zehnmal soviel Wohlstand und Luxus hat wie die armen Betroffenen dieser merkwürdigen „Wiedergutmachung" in der DDR, die nun um ihre Existenz und um ihre Zukunft fürchten.
Ich sage dies aus folgendem Grunde: In der DDR herrscht eine katastrophale wirtschaftliche und soziale Lage. Hunderttausende verlieren ihren Arbeitsplatz, verlieren ihren Lebensraum, ihre Zukunft. Die Bundesregierung, die dies alles mit ihrem überhasteten Gestolpere in die Einheit zu verantworten hat, bleibt davon merkwürdig kalt und unberührt. Sie sorgt sich mehr um ihr eigenes Überleben, um ihre Wahlchancen als um das Überleben der Betriebe und der Menschen in der DDR.
Deshalb reden wir — dem Antrag der Koalitionsfraktionen folgend — heute über das Wahlrecht und über den Beitrittstermin und nicht über die Erhöhung z. B. der Bundeszuschüsse für die Arbeitslosen-, Renten- oder die Krankenversicherung in der DDR, über die Sanierung der Umwelt und der Betriebe in der DDR. Sanieren, so hat uns im Ausschuß Deutsche Einheit Graf Lambsdorff gesagt, stehe übrigens gar nicht zur Debatte. Liquidieren nicht sanieren sei die Aufgabe der Treuhandanstalt, die jetzt die Verantwortung für die Betriebe in der DDR trägt. Das ist der Geist, in dem diese Einheit betrieben wird! Diese katastrophale wirtschaftliche und soziale Lage in der DDR ist nicht gottgegeben, sie ist menschengemacht. Sie, die Bundesregierung, tragen dafür die Verantwortung.
Wer jetzt so tut, als sei er über diese Entwicklung erstaunt,
— auch Sie — , der lügt oder hat von Anfang an nicht gewußt, was er tut, als er den Menschen in der DDR blitzartig Wohlstand versprochen und uns gesagt hat, das koste nichts.
Wer so blauäugig und unverantwortlich in derartige Prozesse hineingeht, der ist ungeeignet, in solch sensiblen und labilen Phasen deutscher und europäischer Geschichte Verantwortung zu tragen. Das sollte hier einmal sehr deutlich gesagt werden.
Die schlagartige Herstellung eines einheitlichen Marktes mit einheitlicher Währung konnte nur dazu führen, daß die wirtschaftlich Stärkeren die wirtschaftlich Schwächeren verdrängen. Dieses gleiche Verdrängen wollen Sie nun auch in der Frage des Wahlrechts praktizieren. Sie wollten die Wahl vorziehen — das ist der erste Schritt — , um den Folgen der eigenen Politik aus dem Weg zu gehen. Sie wissen, daß die meisten derjenigen, die jetzt in Kurzarbeit gedrängt werden, in Kürze auf der Straße stehen und arbeitslos sein werden.
Sie glauben, es würde dadurch etwas besser werden, daß man möglichst schnell wählt, weil Sie — und das sehr zu Recht — Ihre Wahlchancen mit jedem Tag mehr schwinden sehen. Die Gründe aber, die Sie für dieses Vorziehen nennen, sind nur vorgeschoben. Denn die katastrophale wirtschaftliche und soziale Lage in der DDR wird nicht durch einen früheren Beitritts- oder Wahltermin geändert. Sie wird nur geändert durch sofortige materielle und wirtschaftliche Hilfe. Genau hier verschließen Sie sich mickrig und kleingläubig, weil Sie die Konsequenzen Ihrer eigenen Politik und Ihrer eigenen Versprechungen nicht tragen wollen und weil Sie sich nicht trauen, vor das deutsche Volk zu treten und zu sagen, daß die Behauptung, dies alles ginge ohne zusätzliche Kosten und Steuererhöhungen, schlicht falsch sei. Sie scheuen davor zurück, zuzugeben, daß Sie sofort noch tiefer in die Tasche greifen müssen, wenn Sie noch schlimmere Folgen verhindern wollen.
Wie soll man solche Art gefährlicher Volksverdummung noch beurteilen? — Der Streit um das Wahlverfahren und um den Wahl- und Beitrittstermin trägt also nicht zur Lösung dieser Probleme bei, sondern, im Gegenteil, er lenkt nur davon ab. Zur Lösung beitragen würde, wenn Sie Ihre Fehler eingestehen und daraus die notwendigen Konsequenzen ziehen würden.
Was Sie in der Frage des Wahlrechts aufführen, das ist allerdings — das muß deutlich gesagt werden — an Schamlosigkeit kaum noch zu überbieten. Es tobt ein
17368 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. August 1990
Häfner
Kampf aller gegen alle. Dabei geht es längst nicht mehr um das Wahlrecht, sondern um den Wahlsieg mit den Mitteln des Wahlrechts. Sie glauben, sich das Wahlrecht so hinbasteln zu können, wie Sie es wollen, und erhoffen so für sich selbst die größten Chancen.
Nach dem Grundgesetz stellen die politischen Wahlen, wenn wir einmal von dem Grundsatz der Volksabstimmung, der noch immer nicht gesetzlich umgesetzt worden ist, absehen, das einzige Verfahren dar, in dem das Volk, repräsentiert durch die Wähler, als der ausschließliche Träger der Staatsgewalt seinen politischen Willen verbindlich äußern kann.
Hier also konkretisiert sich das Demokratieprinzip des Grundgesetzes: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. " Wahlen entsprechen nur dann dem demokratischen Prinzp des Art. 20 Abs. 2, wenn alle Bürger und Bürgerinnen die gleiche Chance der Beeinflussung des demokratischen Meinungsbildungs- und Machtbildungsprozesses und alle politischen Kräfte die gleiche Chance des demokratischen Machterwerbs besitzen.
Das heißt, daß das Wahlrecht ein äußerst sensibler Gegenstand ist, der nicht nach machtegoistischen Gesichtspunkten gehandhabt und — das ist an dieser Stelle besonders problematisch — nach unserer festen Überzeugung nicht von einer Mehrheit des Bundestages oder von einer Allianz übereinstimmender Parteiinteressen zwischen den großen Parteien — den Altparteien — benutzt werden kann, um andere in ihren Wahlchancen zu behindern. Aber genau das haben Sie gemacht.
Das wird ein Grund für das Bundesverfassungsgericht sein, das hier vorgelegte Gesetz außerordentlich genau zu prüfen. Das Wahlrecht ist nämlich nicht irgendein Verschiebebahnhof, auf dem derjenige, der gerade das Sagen hat, die Weichen beliebig stellen und andere Züge als den seinen aufs Abstellgleis schieben kann, sondern das Wahlrecht ist das oberste demokratische Recht überhaupt, das der Bevölkerung eine Beteiligung an der politischen Willensbildung einräumt. Es darf daher keinesfalls parteiegoistischen oder machtopportunistischen Gesichtspunkten geopfert werden.
In diesem Kampf um das Wahlrecht zeigt sich immer deutlicher, daß sowohl Helmut Kohl als auch Oskar Lafontaine offensichtlich nicht mehr auf die Kraft ihrer Argumente setzen. Ich sage Ihnen: Streiten sollten wir in den Wahlkämpfen, streiten sollten wir mit Argumenten, streiten sollten wir über Inhalte. Ich freue mich auf diesen Streit; denn wir haben ihn am allerwenigsten zu fürchten, gerade nach dem, was in den letzten Monaten die beiden genannten Seiten, die Koalition und die SPD, geliefert haben; wir freuen uns auf diesen Streit.
Aber wir meinen, man sollte in Wahlkämpfen streiten. Über das Wahlverfahren, also über die Art und Weise, wie gewählt wird, sollte es jedoch möglichst keinen Streit geben; dieses sollte nach Möglichkeit im Konsens geregelt werden. Der oberste, heiligste Grundsatz für den Inhalt des Wahlgesetzes ist der Grundsatz der Gleichheit der Wahl, wie es übrigens auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 38 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes sagt.
Diese Gleichheit der Wahl verlangt, daß jede in der Wahl abgegebene Stimme gleich viel zählt und das gleiche Gewicht bei der Umrechnung der Mandate hat. Das heißt, daß es den gleichen Zählwert und den gleichen Erfolgswert der Stimmen gibt. Gegen dieses Prinzip wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf eklatant verstoßen.
Die sogenannte einheitliche Anwendung der Fünfprozentklausel im gesamten Wahlgebiet ist schon deshalb ein Verstoß gegen das Prinzip der Chancen-und der Stimmengleichheit, weil diese Fünfprozentklausel für Parteien auf dem Gebiet der DDR real eine Sperrklausel von 23,75 To bedeutet, wie Sie alle wissen.
Wir haben eben am 2. Dezember — ich gehe davon aus, daß es bei diesem Termin bleibt — nicht die 12. Bundestagswahl, sondern wir haben die erste gesamtdeutsche Wahl. Und das ist eine Wahl, die besonderen Bedingungen entsprechen muß. Unter anderem muß sie dem Umstand Rechnung tragen, daß wir 40 Jahre getrennte Geschichte in den beiden deutschen Staaten haben.