Rede von
Dr.
Hartmut
Soell
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Zunächst möchte ich positiv festhalten, Herr Lowack, daß sich auch die Position der CSU im Lauf der Zeit verändert hat. Der Nichtverbreitungsvertrag hat nicht zum Versailles mit kosmischen Ausmaßen geführt, von dem damals ihr Vorsitzender Franz Josef Strauß gesprochen hat.
— Sicher.
Herr Kollege Lowack, wenn Sie meinen, daß Atomwaffen zur Friedlichkeit dieser Welt beigetragen haben, dann kann ich dem so nicht zustimmen; denn die Tatsache, daß kein Krieg hier in Europa stattgefunden hat — weltweit haben ja seit 1945 rund 150 Kriege stattgefunden — , hat weniger mit der Existenz von Atomwaffen zu tun als mit der relativen Rationalität der hier in Europa beteiligten Mächte. Wenn Ihre Logik stimmte, müßte man in alle Krisengebiete der Welt nur Atomwaffen für die jeweiligen Konfliktgegner exportieren, dann wäre die Welt schon viel friedlicher. Diese Logik ist wohl nicht akzeptabel.
Wir wollen mit diesem Antrag gemeinsame Positionen der Nichtkernwaffenstaaten zur Erneuerung und inhaltlichen Erweiterung dieses 1995 auslaufenden Vertrags formulieren, um ihn auch ab 1995 mehrheitsfähig zu halten.
Der Kollege Feldmann hat den Einwand gebracht, eine solche Konferenz brächte kaum sinnvolle Ergebnisse, weil die Interessen der Nichtkernwaffenstaaten viel zu unterschiedlich seien. Ich möchte im Lichte unserer Forderungen, die wir in Punkt 3 genannt haben, analysieren, wie unterschiedlich die Interessen sind.
Die Interessen an einer umfassenden nuklearen Abrüstung nach Art. VI des Vertrags sind doch wohl gemeinsame Interessen. Wenn Abrüstung tatsächlich in großem Umfang stattgefunden hätte, wären wir sicherlich sehr viel weiter mit dem Nichtverbreitungsregime. Das, was bisher war — einschließlich INF-Vertrag — , ist jedenfalls bis zur Nagelprobe des Verzichts auf die Modernisierung der Kurzstreckenwaffen zunächst einmal Umrüstung und nicht substantielle Abrüstung.
Ebenso gibt es sicherlich ein gemeinsames Interesse an der Forderung nach einem umfassenden Testverbot unter den Nichtkernwaffenstaaten. Selbst das Verbot von friedlichen Kernexplosionen ist erreich-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 186. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Dezember 1989 14403
Dr. Soell
bar, wenn die ersten beiden Forderungen erfüllbar sind. Wir hatten bisher unter den Nichtkernwaffenstaaten nur eine Kernexplosion — die indische 1974 —, von der wir nicht genau wissen, ob sie tatsächlich friedlichen Zwecken gedient hat. Seitdem haben wir keine Kernexplosion mehr gehabt.
Auch bei der vierten Forderung, der Forderung nach umfassender Kontrolle für alle Anlagen für Kernbrennstoffe, ist ein entscheidendes Vorankommen möglich, wenn es substantielle Fortschritte in den ersten beiden Forderungen gibt, nämlich Abrüstung und umfassendes Testverbot.
Die fünfte Forderung, die Forderung nach dem Exportverbot von nuklearer Technologie in Nichtvertragsländer, ist so lange notwendig, wie die Anhäufung von Atomwaffen als Zeichen des Großmachtstatus' bzw. zur Abschreckung möglicher militärischer Gegner weitere Länder in der Dritten Welt in die Versuchung bringt, nach Atomwaffen zu streben oder wegen der Tatsache, daß chemische Waffen immer stärker die Atomwaffen des kleinen Mannes werden, nach chemischen Waffen und ihren Trägersystemen zu streben.
Gestern haben wir in der Aktuellen Stunde diskutiert, ob der Malta-Gipfel der Anfang vom Ende der in Jalta geschaffenen Ordnung war. Wir haben in den letzten Monaten und Jahren eine dramatisch veränderte internationale Situation im Ost-West-Verhältnis erlebt. Das Ost-West-Verhältnis war sehr stark konstituierend für die Schaffung dieser riesigen Massen von Nuklearsprengköpfen.
— Herr Kollege Lowack, wenn Sie hier dazwischenrufen: Sie wissen genau, wenn Sie die Geschichte der Atomrüstung betrachten, daß die USA in der Atomrüstung immer einen Schritt voraus waren, bis hin zur Zahl der Sprengköpfe, einschließlich des riesigen Modernisierungsschritts der Mehrfachsprengköpfe, die selbst steuerbar sind. Hier hat die Sowjetunion nachgezogen. Wir haben dies nie begrüßt, sondern immer bedauert. Hier war immer das Streben nach Parität angesichts der amerikanischen Vorrüstung vorhanden.
Wir hören immer wieder, daß die Abschreckung sozusagen ein politisches Verhältnis in Waffen ausdrücke. Nun verändern sich die politischen Verhältnisse fundamental. Wir sehen heute, daß wir in Strategie und Rüstung diesen veränderten politischen Verhältnissen in keiner Weise gerecht werden.
Das sieht man am deutlichsten in der Frage der Modernisierung der Kurzstreckenraketen. Die Modernisierung solcher Kurzstreckensysteme und auch von Tausenden von nuklearen Gefechtsfeldwaffen ist doch eine absurde Vorstellung angesichts der Situation, daß diese Waffen die Menschen in der DDR, in der CSSR und in Polen treffen und diese Länder völlig zerstören würden. Wenn Sie jetzt überlegen, ob diese Art von Abschreckung noch länger aufrechtzuerhalten ist — und wir wissen, daß sie immer mehr Züge der Selbstabschreckung trägt —, dann müssen Sie auch einmal überlegen, ob wir nicht angesichts der ungeheuren Verletzlichkeit hochindustrialisierter Staaten
auch durch konventionelle Waffen über Atomwaffen tatsächlich noch verfügen müssen.
Auch die andere Begründung, die sozusagen philosophischer Art ist, wenn man etwa an die Begründung denkt, die André Glucksmann in der „Philosophie der Abschreckung" gegeben hat, ist inzwischen nicht mehr zu rechtfertigen. Er hat dort gesagt: Die Existenz von Atomwaffen ist der Versuch, eine Art Ersatz für die sonst fehlende Kommunikation zwischen den öffentlichen Meinungen der demokratischen Länder und der totalitär regierten Länder in Osteuropa zu schaffen. In dem Maße, in dem es dort eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit gibt, in dem es dort funktionierende demokratische Institutionen gibt, in dem es dort einen Dialog über Sicherheitspolitik und damit ein Stück Kontrolle über Sicherheitspolitik gibt, entfällt dieses Argument. Wo bleiben da die Vorschläge für eine radikale Abrüstung der Nuklearwaffen? Wo bleibt hier das Umdenken?
Deswegen fordern wir eine solche Vorkonferenz, um auch diese Themen mit zu diskutieren, eine Vorkonferenz der Nicht-Kernwaffenstaaten, die dazu beitragen kann, diesen Prozeß des Umdenkens und der Umorientierung des Handelns zu beschleunigen und dem Prinzip der Nichtweiterverbreitung mehr Geltung zu verschaffen. Denn Ihre Gewißheit, Herr Kollege Schäfer, daß wir 1995 eine satte Mehrheit für die Verlängerung des Vertrages haben werden — und wir brauchen diese Mehrheit für die Verlängerung dieses Vertrages —, kann ich so nicht teilen. Es wird eine Menge von zusätzlichen Problemen geben, wenn wir noch in gleichem Umfang diese Anhäufung von Atomwaffen haben und wenn wir noch in gleichem Umfang das strategische Denken haben, das damit verletzt ist. Wenn Sie 1990 einmal in Beziehung zu dem Jahr des Abschlusses des Nichtverbreitungsvertrages 1968 setzen, dann wird doch offenbar, daß wir inzwischen — selbst wenn wir in ein bis zwei Jahren eine 50prozentige Reduzierung der strategischen Kernwaffen erreichen würden, und das ist noch nicht gesichert — trotzdem das Vielfache an Vernichtungskraft hätten, gemessen an der Zeit des Abschlusses des Nichtverbreitungsvertrages von 1968. Das heißt, die Großmächte haben ihre Verpflichtung aus Art. VI in keiner Weise eingehalten. Das ist eigentlich das Thema, das wir nach wie vor vor uns haben. Hier gibt es aus den Reihen der Nicht-Kernwaffenländer eine immer stärkere Aversion gegen diese Art des Nichtverbreitungsregimes. Die Mehrheit für die Fortsetzung des Vertrages 1995 ist jedenfalls sehr gefährdet. Ich möchte sehr appellieren, daß Sie unserer Forderung auf eine Konferenz der Nicht-Kernwaffenländer zustimmen.
Ich bedanke mich sehr für die Aufmerksamkeit.