Rede von
Dr.
Hartmut
Soell
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Sehr verehrte Kollegen! Malta war nicht die Fortsetzung von Jalta, aber vielleicht — vielleicht! — war es der Anfang vom Ende von Jalta. Denn es gibt eine unübersehbare historische Beziehung zu Jalta. Dort ist Polen — die Freiheit Polens — mit verspielt worden. Malta steht inmitten eines Prozesses, an dessen Anfang — nämlich in der Aufhebung der von Jalta ausgehenden Ordnung — der Kampf um die Freiheit Polens gestanden hat, die Jahre 1980/81. Das sollten wir hier durchaus mit erwähnen, weil es in den Kontext gerade auch der Diskussion und Bewegungen der letzten Wochen gehört, häufig aber vergessen wird.
Teilweise war Malta sogar das direkte Gegenteil von Jalta. Lesen Sie etwa die Pressekonferenzen nach. Beide Seiten mußten zugeben, daß die Weltmächte gewissen Bewegungen fast ohnmächtig gegenüberstehen, allerdings, muß ich hinzufügen, nicht der Bewegung in Deutschland. Kiew und auch die Botschaftergespräche der Vier in Berlin waren unüberhörbare Signale, daß es so nicht ist. Wir haben in der Tat die Situation, daß, wie Josef Joffe in der Süddeutschen Zeitung geschrieben hat, die Lösung der deutschen Frage längst nicht mehr in alliierten Händen liegt, aber auch noch lange nicht in deutschen Händen.
Frau Vollmer ist leider nicht mehr da. Sie hat die Bewegung in der DDR und auch die Folgen der zehn Punkte falsch wahrgenommen. In der DDR hat neben der ideologisch-politischen Revolution auch eine Revolution der steigenden Erwartungen stattgefunden. Das auslösende Moment dafür war der 9. November. Ich sehe die zehn Punkte als einen wenn auch sehr unvollkommenen Versuch an, aus dem Gefängnis der eigenen Rhetorik — Wahlkampfrhetorik — zu ent-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Dezember 1989 14339
Dr. Soell
kommen und zu sagen: Wiedervereinigung in dem traditionellen Sinne steht nicht auf der Tagesordnung, sondern das wird schrittweise in Übereinstimmung mit unseren europäischen Nachbarn in Ost und West erfolgen.
Hier möchte ich den Kolleginnen und Kollegen von der CDU sagen:
Dort in der DDR heißt es: „Wir sind das Volk". Sie kleben jetzt: „Wir sind ein Volk". Denken Sie an die Spannungen zwischen Freiheit und Einheit im 19. Jahrhundert und daran, wie tragisch diese Spannung aufgelöst worden ist. Ich sage Ihnen, es ist sehr, sehr wichtig für Sie, sich wieder sehr viel mehr an die Zurückhaltung in der Sprache gewöhnen zu müssen. Sie müssen von Ihrer Wahlkampfrhetorik Abstand nehmen und sehr genau auch das wahrnehmen, was rings um uns her diskutiert wird.
Ich bin dafür, daß wir an allen europäischen Baustellen gleichzeitig arbeiten: am Westtrakt Vorbereitung des Binnenmarktes, an dem übergreifenden Sicherheitsfundament und an dem Sicherheitsdach. Hierzu gehört auch die ökologische und ökonomische Zusammenarbeit zwischen West- und Osttrakt. Aber ich bin ebenso dafür, daß wir am deutschen Mitteltrakt intensiv arbeiten. Es kann durchaus sein, daß Teile dieses Mitteltrakts früher fertig werden als andere Teile des europäischen Hauses. Nur, sie müssen immer wieder bei der Fertigstellung anderer Bauteile in Europa eingepaßt werden.
Die Amerikaner mahnen ein neues atlantisches Denken an. Dabei haben sie eine ganz besonders wichtige Aufgabe. Es geht dabei um unsere Möglichkeiten der Beeinflussung der amerikanischen Politik, auch über den Kongreß. Die Amerikaner haben in Europa die geringsten Sorgen über Gleichgewichtsprobleme. Ich sehe ihr Votum für ein neues atlantisches Denken zumindest als einen Ansatz — noch nicht sehr konkret, aber doch erkennbar —, daß die bisherigen Bündnisstrukturen, so wichtig sie sind, nach einem gewissen Ablauf der Zeit durch übergreifende europäische Sicherheitsstrukturen abgelöst werden. Das heißt nicht, daß die Bündnisse gleich wegfallen. Das heißt aber, daß dies ein zeitlich sinnvoller Übergang sein sollte. Damit sind auch die deutschen Probleme sehr viel leichter lösbar.
Schönen Dank.