Rede von
Dr.
Renate
Hellwig
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich bin eigentlich traurig. Wir haben eine Situation, in der wir alle jubeln müßten. Seit Jahrzehnten haben wir gegen diese Mauer in diesem Bundestag hier angeredet. Das Wünschenswerteste für uns war immer, daß diese Mauer endlich fällt und daß wir eine solche Traumentwicklung bekommen, wie sie sich jetzt abzeichnet, nämlich in Richtung auf offene, freiheitliche, soziale und marktwirtschaftliche Demokratien in ganz Europa hin.
Angesichts einer solchen Situation streiten wir uns hier jetzt kleinlich, ob der Bundeskanzler hätte das oder jenes sagen sollen, ob die Nachbarn lieber dies oder jenes hätten nicht sagen sollen, statt zu sehen, daß die Herausforderungen, die in dieser phantastischen Entwicklung liegen, uns geradezu beschwörend zu einem gemeinsamen, über die Parteien hinausgehenden deutschen und gleichzeitig europäischen Standpunkt führen müßten.
Ich mache noch einmal einen nachdrücklichen Appell an Sie, meine Damen und Herren: Erkennen wir unsere gemeinsamen Interessen, die hier weit über parteipolitische Differenzen hinausgehen.
Sie sprechen jetzt von der Informationspolitik der Bundesregierung. Also, der Bundeskanzler kann es Ihnen ja überhaupt nicht recht machen. Wenn er hier eine Regierungserklärung abgibt, dann hört man: Diese Selbstdarstellung. Bis jetzt hat er nach jedem Gipfel eine Regierungserklärung abgegeben, und die Opposition hat ihm vorgeworfen: die Regierung betreibe nichts anderes als Selbstdarstellung und Selbstreklame. Jetzt gibt er einmal keine Regierungserklärung ab, und jetzt geht das große Gejammere los: Es gibt keine ausreichende Information.
— Wir diskutieren jetzt sozusagen unter uns über dieses Thema. Deswegen sollen Sie auch unseren Standpunkt dazu hören.
Das Zehn-Punkte-Programm war das beste, was vom Bundeskanzler und der Regierung hier erfolgen konnte.
Ich begründe auch, warum. Der Zeitpunkt war ebenfalls sehr gut; er war ganz ausgezeichnet.
Natürlich haben wir noch einen weitergehenden Erklärungsbedarf und auch eine gewisse Unruhe bei den Nachbarn. Das ist auch ganz richtig so, und zwar deswegen, weil sie gar nicht wissen können, in welch unmittelbarer Konfrontation und Herausforderung wir durch die jetzt offenen Grenzen innerhalb Deutschlands — es ist praktisch innerhalb Deutschlands — stehen. Da sind Solidaritätsverpflichtungen, die für viele meiner Kollegen tagtäglich stattfinden. Im Laufe des Wochenendes haben Abgeordnete in grenznahen Wahlkreisen mit ca. hundert DDR-Bürgern Kontakt. Das ist etwas, was unsere europäischen Nachbarn gar nicht beurteilen können.
Das Zehn-Punkte-Programm bedeutet faktisch, einer überzogenen Erwartung, daß morgen schon die Wiedervereinigung stattfindet, einen braven Aufgabenkatalog gegenüberzustellen, von dem ein Punkt nach dem anderen zu erledigen ist. Im Grunde genommen ist es ein Geduldsprogramm
sowohl für uns hier in der Bundesrepublik Deutschland als auch für unsere Nachbarn in der DDR, weil es die einzelnen Punkte genau aufzeichnet und deutlich macht, in welch engem Zusammenhang wir hier unsere Schritte in Richtung Wiedervereinigung sehen, bevor es zu einer endgültigen staatlichen Einigung kommt, und wie eng sie an die europäische Entwicklung gekoppelt sind. Das ist auch deutlich geworden.
Da muß ich der Opposition sagen: Ich weiß eigentlich nicht, was jetzt im Endeffekt Ihre Haltung ist.
— Ja, ja, natürlich; es ist im Grunde genommen nur ein parteipolitischer Streit.
Die Regierungschefs der Mitgliedstaaten haben sowohl auf dem Brüsseler als auch auf dem Straßburger Gipfel unzweideutig zugestanden, daß die Formen der Kooperation zwischen den beiden deutschen Staaten immer enger werden und auch enger werden müssen und daß sie sich im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses nach wie vor verpflichtet fühlen, dieses Selbstbestimmungsrecht der beiden deutschen Staaten bis zum Punkt der Einigung mit zu unterstützen.
Solange alles ganz abstrakt war und die Möglichkeit der Realisierung nicht bestand, war alles viel einfacher. Deswegen war es so wichtig, dies jetzt noch einmal ausdrücklich sowohl in Brüssel als auch in Straßburg zu bestätigen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Dezember 1989 14337
Frau Dr. Hellwig
Natürlich sind die Nachbarn von der deutsch-deutschen Grenze weiter weg als wir. Deswegen ist es unsere Aufgabe, sie darüber aufzuklären, in welch unmittelbarer Solidaritätsverpflichtung wir uns jetzt befinden.
Aber andererseits ist es auch unsere Aufgabe, unsere deutsche Öffentlichkeit darüber aufzuklären, daß diese ganzen Bedenken und diese Verzögerungen, die insbesondere von den uns besonders nahestehenden Nachbarn in Europa kommen, nicht ein Zeichen — —
— Ich meine die Franzosen, ich meine die Holländer, ich meine die Engländer, ich meine die Italiener.