Rede von
Heidemarie
Wieczorek-Zeul
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion hat bereits heute morgen bei der Diskussion über die eingebrachten Anträge Punkte zur Bewertung des Gipfels in Straßburg vorgebracht. Ich will die wichtigsten Punkte bei der Bewertung dieses Gipfels für unsere Fraktion hier noch einmal nennen.
Erstens. Wir halten es für unerträglich, daß Bundeskanzler Kohl auch beim europäischen Gipfel kein klärendes Wort zur polnischen Westgrenze gefunden hat.
Ich will an dieser Stelle sagen, weil wir dazu beitragen müssen, das zu verbreiten — ich empfehle es den Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion und auch der Regierung zur Lektüre — : Das Europäische Parlament hat gestern einen Beschluß gefaßt, in dem es die deutsche Bundesregierung auffordert, unmißverständlich klarzustellen, daß die polnische Westgrenze von ihr anerkannt wird.
— Entschuldigung, diskutieren Sie doch einmal mit Ihren europäischen Kolleginnen und Kollegen von der EVP-Fraktion; denn diese haben einem solchen Antrag zugestimmt. Sie spüren vielleicht mehr als Sie hier, daß es Ängste und Besorgnisse vor einer möglichen großdeutschen Restauration gibt. Die spüren das sehr viel deutlicher.
— Sagen Sie das bitte dem Herrn Kohl.
Zweitens. Es ist unakzeptabel, wenn der CDU-Generalsekretär, Rühe, sagt, wir brauchten in Fragen, die die deutsch-deutsche Zusammenarbeit und die Konföderation und die Föderation anlangen keine Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn. Liebe Kolleginnen und Kollegen, haben Sie gesehen: Das Schengener Abkommen ist geplatzt?
— Jedenfalls die Unterzeichnung ist verschoben worden. Warum ist sie verschoben worden? Weil unsere europäischen Nachbarn Sorge haben, wie sich die Frage der neu gewonnenen Freizügigkeit der Bürger aus der DDR auf ihre eigenen Länder auswirken. Von daher ergibt sich von selbst: Wer deutsche Interessen wahrnimmt, muß sie mit dem europäischen Nachbarn absprechen und muß solche Konzeptionen gemeinsam diskutieren.
— Frau Hellwig, wir kennen uns doch. Ich weiß genau, daß Sie solche Positionen eigentlich teilen.
Drittens. Ich muß ehrlich sagen: Ich halte es für unerträglich, daß der Beginn der Arbeit der Regierungskonferenz zur Wirtschafts- und Währungsunion aus rein wahltaktischen Gründen auf Anfang des nächsten Jahres verschoben worden ist. Madame Cresson, die französische Europaministerin, hat im Auswärtigen Ausschuß gesagt, das sei mit Rücksicht auf die deutsche Bundesregierung bzw. auf den Wahltermin so gemacht worden.
Ich halte das für unerträglich. So hängt man sich an Rep-Stimmen. So schafft man jedenfalls keine europäische Gesinnung. Ich glaube, das muß ganz klar sein.
Viertens. Die Charta sozialer Grundrechte ist angesichts der gesamten sonstigen europapolitischen Diskussionen und der ost- und deutschlandpolitischen Erklärungen etwas untergegangen. Aber eines ist klar: Von dieser Charta sozialer Grundrechte kann man nicht erwarten, daß das, was da beschlossen worden ist, in irgendeiner Form praktische Auswirkungen hat. Vor allen Dingen ist der Zeitrahmen völlig weggefallen. Der Zeitrahmen hat aber vorgesehen, daß es gemeinsam, mit der Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes auch ein soziales Europa gibt. Dadurch, daß der Zeitrahmen jetzt weggefallen ist, ist zu erwarten, daß der Binnenmarkt verwirklicht wird, daß aber all das, was zu seiner sozialen Ausgestaltung notwendig ist, unerträglich verschoben wird.
Deshalb sagen wir an dieser Stelle: Wir unterstützen das Europäische Parlament, dort auch mit seiner Mehrheit von Sozialdemokraten und Christdemokraten. Diese meinen: Notfalls muß man einen Teil der Richtlinien zum Binnenmarkt blockieren, damit das soziale Europa durch solche Regierungschefs und Minister nicht vergessen wird.
Letztlich ist bei dieser Charta sozialer Grundrechte keinerlei rechtsverbindliche Regelung beschlossen worden, so daß wir jetzt auf das angewiesen sind, was
14336 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Dezember 1989
Frau Wieczorek-Zeul
uns als entsprechendes Aktionsprogramm vorliegen wird. Von diesem Aktionsprogramm werden wir dadurch, daß die Zeitfrist entfallen ist, dann erst in den nächsten Monaten oder vielleicht sogar erst in den nächsten Jahren hören.
Wir wollen also, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß bei der Regierungskonferenz, die im nächsten Jahr stattfindet, erstens die Wirtschafts- und Währungsunion, zweitens eine wirkliche Sozialcharta mit Konsequenzen und drittens eine Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments zustande kommen; denn eine Erweiterung der Kompetenzen der EG ohne mehr Rechte für das Europäische Parlament führt nicht zu mehr Demokratie.
Vielen Dank.