Rede von
Heidemarie
Wieczorek-Zeul
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute die US-Pläne zur Stationierung neuer Kampfhubschrauber auf dem Flugplatz Wiesbaden-Erbenheim. Mittlerweile hat die US-Army diese Pläne auf 100 Kampfhubschrauber ausgerichtet. Es steht die Genehmigungsentscheidung an, die Bundesverteidigungsminister Stoltenberg geben wird. Ich gehe deshalb davon aus, daß der Bundesverteidigungsminister dieser Debatte beiwohnen wird.
— Er kommt, wunderbar. Er ist gerade hereingekommen, Herr Kollege.
Was dort vorgeschlagen wird, ist kein Kompromiß, sondern der Einstieg in eine Neustationierung, welcher der US-Army und dem deutschen Verteidigungsministerium, wie sie es in einem gemeinsamen Geheimpapier ausgedrückt haben, als politisch akzeptabel erscheint.
Die Beratungen im Deutschen Bundestag seit über einem Jahr liefen auf der Basis eines Antrags, den die Sozialdemokraten mit dem Ziel eingebracht hatten, die Stationierung zu verhindern und alle vorhandenen Maschinen abzuziehen. Die Beratungen im Deutschen Bundestag haben alle Argumente gegen die geplante Stationierung erhärtet.
Schon die bisherige Nutzung des Flugplatzes Erbenheim, so hat die Anhörung des Verkehrsausschusses gezeigt, erfolgt ohne rechtliche Grundlage. Sowohl die betroffenen Kommunalpolitiker als auch der entsprechende Gutachter Wolfgang Kassebohm haben in der Anhörung eindeutig belegen können, daß bei der jetzigen Nutzung des Flugplatzes Erbenheim die Sicherheitsmindesthöhe von den Hubschraubern unterschritten wird, daß also der Flugbetrieb gegen geltendes Recht und Gesetz erfolgt.
Die Lufthansa und auch die Flughafen-Aktiengesellschaft haben betont, daß der bisherige Flugbetrieb in Erbenheim den Vorrang des zivilen Luftverkehrs in Rhein-Main behindert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehen Sie sich die Vorlage des Verkehrsausschusses an. Dort werden angebliche Zusagen der US-Streitkräfte genannt, nämlich vier Instrumentenflüge pro Stunde und 30 pro Tag. Nach Aussagen aller Praktiker, der Fluglotsen und der Flugsicherung, sind das rein statistisch gegriffene Größen, die überhaupt nichts mit der Realität zu tun haben und die immer überschritten werden. Das heißt, das ist schon heute so; und es wird in Zukunft bei mehr Kampfhubschraubern und mehr Flugbewegungen einen massiven Konflikt mit der zivilen Luftfahrt, mit dem Flughafen Frankfurt geben.
In der Anhörung wurde auf die hohen Gesundheits- und Umweltbelastungen aufmerksam gemacht, ebenso auf das Absturzrisiko. Ich will an dieser Stelle, liebe Kolleginnen und Kollegen, nur die Zahlen und die Daten und die Orte nennen. Wo auch immer diese Kampfhubschrauber der US-Army in der Bundesrepublik stationiert sind, herunter kommen sie immer. Am 23. September 1987: Absturz bei Döhle in Niedersachsen; am 19. Mai 1989: Absturz, Notlandung in Bernkastel-Kues; am 26. September 1989: Absturz in
Lipporn bei Wiesbaden; Ende Mai 1989: Absturz eines Hubschraubers bei Herrenberg; am 11. Oktober 1989: Absturz eines Kampfhubschraubers südlich von Melsungen; am 17. Oktober 1989: Absturz eines Kampfhubschraubers in Neustadt a. d. Aisch, beide Besatzungsmitglieder starben; am 30. November 1989: Absturz eines Kampfhubschraubers im bayrischen Effeldorf; der Pilot starb, der Copilot wurde schwer verletzt. Ich habe jetzt noch nicht die Abstürze der Flugmaschinen in den USA genannt; die habe ich hier ausgelassen. Ich frage Sie, Herr Minister: Was muß noch passieren, bevor Sie handeln, ein Flugverbot aussprechen und sich gegen weitere Stationierung aussprechen?
In der Anhörung, liebe Kolleginnen und Kollegen, wurde zum erstenmal in aller Offenheit dargestellt, daß die US-Armee — ich zitiere den Kommandeur der US-Streitkräfte, General Crosbie E. Saint — diese Kampfhubschrauber als „Angriffshubschrauber, die bei deep operations, d. h. Aktionen im Rahmen des Air-Land-Battle-Konzepts, eingesetzt werden sollen" betrachtet. Im Spannungs- oder Konfliktfall würden diese Kampfhubschrauber 70 Kilometer vor die Grenze zur DDR verlegt.
Die Anhörung im Deutschen Bundestag durch den Verkehrsausschuß zeigt: Wenn weiter so geplant wird, wenn sich die Planungen der US-Streitkräfte, immer mehr Kampfhubschrauber in der Bundesrepublik zu stationieren, fortsetzen, würde das in den 90er Jahren bedeuten: 1 500 Kampfhubschrauber in der Bundesrepublik. Zur Erinnerung: 1955 gab es null solcher Kampfhubschrauber.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht es heute zwar regional um Erbenheim, aber es geht auch um Mainz-Finthen, es geht um Erlensee, es geht um Illesheim, um Ansbach, es geht um viele Orte in der Bundesrepublik Deutschland, und wir wollen, daß nirgendwo Kampfhubschrauber stationiert werden.
Das Ministerium hat in der Anhörung festgestellt, daß der zweite Stationierungsschritt, d. h. die Verlagerung des 2. Kampfhubschrauberbataillons nach Wiesbaden-Erbenheim, erst nach 1990 erfolgen solle. Wenn das so ist, so wird ersichtlich: Es gibt keinerlei militärische Notwendigkeit,
die Kampfhubschrauberbataillone in Wiesbaden-Erbenheim zu stationieren.
Wir appellieren an Sie, die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU- und besonders der FDP-Bundestagsfraktion: Es gibt keinerlei Notwendigkeit für
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Dezember 1989 14315
Frau Wieczorek-Zeul
einen Genehmigungsentscheid von Bundesverteidigungsminister Stoltenberg!
Sie wissen genau so gut wie wir: In der NATO hat Bundesverteidigungsminister Stoltenberg ein Verhandlungsangebot mit beschlossen, das bedeuten würde, daß von jetzt 2 419 Kampfhubschraubern auf der westlichen Seite zum Schluß noch 1 900 Kampfhubschrauber übrigblieben. Das heißt, selbst nach den Planungen der NATO ist — mit Stoltenbergs Stimme — eine Abrüstung von über 500 Kampfhubschraubern vorgesehen. Warum also, frage ich, eine Genehmigung für die Aufrüstung mit Kampfhubschraubern geben,
wenn das sichere Ergebnis der Wiener Verhandlungen im nächsten Jahr die Abrüstung bereits vorhandener Kampfhubschrauber wäre?
Es sei denn, Herr Stoltenberg, Sie planten ein, daß die Abrüstung der Kampfhubschrauber überall in der NATO, aber nicht auf deutschem Boden, in der Bundesrepublik erfolgen solle. Dann sagen Sie das aber bitte auch offen!
Und, liebe Kolleginnen und Kollegen: Während des einen Jahres, in dem sich der Deutsche Bundestag und der Verkehrsausschuß mit den Plänen der US-Army in Wiesbaden-Erbenheim befaßten, waren manche Entwicklungen noch nicht absehbar, auch nicht zu dem Zeitpunkt, als der Verkehrsausschuß am 21. Juni dieses Jahres seinen Beschluß gefaßt hat, der Stationierung der 100 Kampfhubschrauber zuzustimmen. Zwischenzeitlich haben wir einen revolutionären Prozeß der Demokratisierung in Osteuropa und vor allem in der DDR erlebt. Aber für Bundesverteidigungsminister Stoltenberg hat sich absolut nichts geändert. Für ihn gilt offensichtlich: Alles, was die USA militärisch geplant haben, was seine Amtsvorgänger willfährig zugesagt hatten, muß durchgezogen werden, Irrtümer dürfen nicht zugestanden, Korrekturen nicht gemacht werden.
Als Antwort auf die faszinierenden Entwicklungen in der DDR will Bundesverteidigungsminister Stoltenberg die Neustationierung von bis zu 100 Kampfhubschraubern der US-Army in Wiesbaden-Erbenheim genehmigen.
Das heißt, er reagiert mit alten Rüstungsplänen auf neues Denken und neue Entwicklungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit Sie wissen, was das heißt: Das sind Kampfhubschrauber, die im Konfliktfall — er ist nach dem, was in der DDR passiert, ja gar nicht mehr vorstellbar — zirka 150 km weit in das Gebiet der DDR eindringen könnten.
Welch absurde Vorstellung: Während in Eisenach, in Halle, in Leipzig, in Magdeburg die Menschen den
Frieden dadurch wirklich sicher machen, daß sie in ihrem Land Demokratie verwirklichen, ist das erste Signal des Bundesverteidigungsministers auf diese Entwicklung die Genehmigung neuer militärischer Fluggeräte, die im Zweifelsfall auf eben diese Menschen in Eisenach, Halle, Leipzig, Magdeburg herniedergingen.
Wer so handelt wie Bundesverteidigungsminister Stoltenberg, der zeigt, daß Realitätsverlust auch bei unseren Politikern vorhanden ist,
und er zeigt, daß er am Bewußtsein der Menschen in diesem Lande vorbei handelt, und er zeigt auch, daß auch unter unseren Bedingungen gilt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben."
Die Entscheidung über die geplante Stationierung, die Sie heute im Deutschen Bundestag treffen, ist in mehrfacher Hinsicht von hoher überregionaler Bedeutung und von großem Signalcharakter:
Sie ist ein Testfall dafür, ob die Bundesregierung die vorhandenen rechtlichen und politischen Möglichkeiten, die ihr gegeben sind, wirklich ausnutzen will, um den US-Streitkräften gegenüber deutsche Interessen zu vertreten, oder ob sie vorauseilenden Gehorsam praktiziert und — wie es das Verwaltungsgericht Wiesbaden formuliert hat; ich zitiere — „Besatzungsdenken gegenüber den US-Behörden an den Tag legt."
Die Geschichte des Flugplatzes Erbenheim seit der Wende 1983 ist die Geschichte der freiwilligen vorbeugenden Unterwerfung der zuständigen Verteidigungsminister Wörner und Scholz unter die US-Planungen.
Wir fordern Bundesverteidigungsminister Stoltenberg auf, sich nicht in diese unrühmliche Reihenfolge einzuordnen.
Wir sagen: Die Bundesrepublik ist viel souveräner, als diese Bundesregierung es glauben machen möchte. Aber offensichtlich ist diese Bundesregierung gegenüber der US-Army nicht souverän genug.
Die Entscheidung über die geplante Stationierung von Kampfhubschraubern ist auch ein Testfall dafür, wie die Bundesregierung auf die neue demokratische Entwicklung in den osteuropäischen Ländern und in
14316 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Dezember 1989
Frau Wieczorek-Zeul
der DDR reagiert. Wir sagen: Die Antwort auf die demokratischen Veränderungen in der DDR und in den osteuropäischen Staaten muß Abrüstung sein und darf nicht ein neuer Schritt zur Aufrüstung auf unserer Seite sein.
Herr Stoltenberg und liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, die Sie heute die Entscheidung treffen müssen — denn Sie haben die Mehrheit in diesem Hause —,
welche Sie auch vertreten müssen, nehmen Sie sich den Brief zu Herzen, den Ihnen die CDU in Wiesbaden, Herr Riedle und Herr Klee, im November dieses Jahres geschrieben hat. Darin heißt es — ich zitiere wörtlich — :
Heute bitten wir eindringlich darum, die Stationierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt auszusetzen ... Der Grund: Die dramatischen Entwicklungen und aus der Sicht unserer Demokratie positiven Entwicklungen im Osten Europas .. .
Nehmen Sie zur Kenntnis, was die CDU in Wiesbaden gesagt hat.
Die Entscheidung heute ist auch ein Testfall dafür, ob die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ihre Verantwortung ernst nehmen.
Ich wende mich deshalb an die Abgeordneten der CDU/CSU- und der FDP-Bundestagsfraktion und dabei besonders an die Kolleginnen und Kollegen aus Hessen: Wenn Sie heute der Beschlußempfehlung des Verkehrsausschusses zustimmen und unseren Antrag ablehnen, dann wissen Sie, daß Sie dem Bundesverteidigungsminister grünes Licht für seine Genehmigungsentscheidung zur Stationierung geben.
Ich weiß, daß es Zweifler in Ihren eigenen Reihen gibt. Ich weiß auch, daß Sie sich kritisch mit Bundesverteidigungsminister Stoltenberg auseinandergesetzt haben. Deshalb fordere ich Sie auf: Folgen Sie Ihrer eigenen Überzeugung.
Stimmen Sie in dieser Abstimmung mit uns, und sorgen Sie dafür, daß sich Bundesverteidigungsminister Stoltenberg nach der Mehrheit dieses Hauses richten muß, die dann gegen die Stationierung sein würde!
Sie haben die politische Verantwortung, wenn die Genehmigungsentscheidung von Herrn Stoltenberg entsprechend fällt.
Sie haben auch die Chance, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen: Geben Sie zwei Signale an die Bevölkerung in unserem Land, einmal an die Bevölkerung der unmittelbar betroffenen Region um Wiesbaden, der Gemeinden, der Städte in den Kreisen in der Umgebung. Diese Region ist besonders betroffen. Sie ist bereits umweltbelastet. Geben Sie der Bevölkerung in dieser Region mit Ihrer Entscheidung die Überzeugung zurück, daß Politik Irrtümer zugestehen und sie korrigieren kann!
Geben Sie ein zweites Signal: Geben Sie der Bevölkerung in der Bundesrepublik die Überzeugung: Auch wir reagieren mit neuem Denken auf neues Denken und nicht mit alten Rüstungsplänen.
Setzen Sie in dieser letzten Sitzungswoche vor Weihnachten, dem Fest des Friedens, ein Signal des Friedens und nicht der Aufrüstung!
Ich danke Ihnen.