Rede von
Dr.
Norbert
Blüm
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Ich kann die Meinungsäußerungen des Präsidenten des polnischen Parlaments nicht interpretieren. Ich interpretiere die Entschließung des Deut-
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sehen Bundestages, mitbeschlossen und mitproklamiert durch den Bundeskanzler in Übereinstimmung mit seiner Regierungserklärung. Ich bedaure es, meine Damen und Herren, daß wir diese Frage pausenlos in den Mittelpunkt stellen.
Die Meinungsbildung ist eindeutig. Die aufregende Frage ist, wie die Mauer fällt, wie die Grenze mitten in Deutschland fällt. Das ist die Frage, die in dieser Zeit die Herzen der Menschen bewegt.
Es geht darum, wie wir europäische Einheit und deutsche Einheit miteinander verbinden, wie wir sie nicht in Gegensätze bringen. Es geht auch darum, daß wir sagen, was wir wollen. Ich beantworte diese Frage: Ich will Wiedervereinigung. Wenn jemand sie nicht will, muß er das sagen. Dann müssen wir in der Bundesrepublik und in der DDR abstimmen.
Daraus ergibt sich das Handlungskonzept für die Zukunft.
Ich will ausdrücklich aus den zehn Punkten zitieren:
Die EG darf nicht an der Elbe enden, sondern muß die Offenheit auch nach Osten wahren.
So einer der zehn Punkte aus der Erklärung des Bundeskanzlers.
Die EG als Fundament einer neuen gesamteuropäischen Friedensordnung — ich bin sicher, es ist nicht zuletzt der Prozeß des friedlichen Zusammenwachsens der westeuropäischen Staaten, der die Menschen in ganz Europa von Portugal bis zum Ural, von Irland bis Rumänien fasziniert. Gerade von diesem freiheitlichen Prozeß geht doch die Faszination aus, die Hoffnung und Zuversicht gibt. Deshalb brauchen wir einen stetigen, von allen Bürgern akzeptierten Integrationsprozeß. Deshalb brauchen wir eine intakte Europäische Gemeinschaft als Fundament und als stabiles Element einer neuen gesamteuropäischen Friedensordnung.
Jetzt zitiere ich die EG-Kommission:
Der Zustand der Gemeinschaft zu Beginn des neuen Jahrzehnts ist vielversprechend. Wichtige Schritte zur wirtschaftlichen, finanziellen, monetären und sozialen Integration der Gemeinschaft wurden unternommen.
Ich will nur ein paar Fakten aus den zehn Jahren nennen: 3,5 % Wachstum haben wir, knapp 2 Millionen neue Arbeitsplätze und Rückgang der Arbeitslosenquote. Wir sind bei weiten noch nicht am Ziel. Ich stehe hier nicht mit Zielangaben. Aber wir sind wichtige, bedeutende Schritte vorwärtsgekommen, und das alles bei halbwegs stabilen Preisen. Das ist doch eine Bilanz, auf die wir stolz sein können. Bei den wirtschaftlichen Indikatoren liegen wir in der Bundesrepublik besser, bei der Beschäftigung sogar deutlich besser als der EG-Durchschnitt. Wir haben zu Hause unseren Beitrag für eine intakte Europäische Gemeinschaft geleistet.
Aber auch auf der Gemeinschaftsebene ist auf sozialpolitische Fortschritte zu verweisen, die maßgeblich auf Anstöße und Initiativen aus der Bundesrepublik zurückzuführen sind. Ich möchte den Arbeitsschutz an erster Stelle nennen. Hier sind wir schon weit über das Stadium politischer Absichtserklärungen hinaus und können, Frau Wieczorek-Zeul, auf ein ganzes Bündel konkreter Maßnahmen und Richtlinien verweisen. Warum wollen Sie das zu einem Papiertiger herunterspielen? Ich will nur ein paar konkrete Rechtsakte nennen: die neue Rahmenrichtlinie für einen umfassenden Arbeitsschutz.
— Ist das nicht soziale Dimension? Das ist nicht die philosophische soziale Dimension, sondern die ganz handfeste.
Fünf Einzelrichtlinien sind endgültig verabschiedet. Dabei geht es um konkrete Regelungen über Notausgänge, Brandbekämpfung, Lüftung, Beleuchtung, Raumtemperatur, Fußböden, Verkehrswege, Pausen- und Sanitärräume. Ich weiß, daß man sich großspurig darüber hinwegsetzt.
Der sozialpolitische Fortschritt, dem ich verpflichtet bin, ist immer ganz konkret.
Denn von den großen Erklärungen können sich die Arbeiter weder in Palermo noch in Bochum etwas kaufen.
Ich sehe im Arbeitsschutz in der Tat eine Gelegenheit, die soziale Dimension europaweit einheitlich zu gestalten. Krebs ist in Neapel genauso gefährlich wie in Gelsenkirchen. Deshalb brauchen wir einheitliche Grenzwerte.
Ich sehe wie der Kollege Heinrich und der Kollege Fuchtel, daß das nicht im ganzen Feld der Sozialpolitik möglich ist. Da würde ich mich auch sehr gegen Mehrheitsentscheidungen wehren. Wollen Sie aus einem staatlich finanzierten Gesundheitssystem in England und einem — Gott sei Dank — beitragsfinanzierten Gesundheitssystem in Deutschland mit Mehrheitsentscheidungen ein drittes bilden?
Wie wollen Sie Alterssicherung in Deutschland mit Alterssicherung in Frankreich harmonisieren? Ich finde, es ist ein Teil der gewachsenen Sozialkultur Europas, daß wir eigenständige Systeme haben und daß wir ein Wechselspiel zwischen Mindeststandards, die angehoben werden, und Harmonisierung und der europäischen Tradition der Vielfalt brauchen. Hier geht es nicht um die Frage von Dogmatik. Deshalb müssen die Instrumente geordnet werden, wo Mehrheitsentscheidungen und wo Einstimmigkeit wichtig sind.
Beim Arbeitsschutz hat die soziale Dimension der Europäischen Gemeinschaft konkrete Gestalt ange-
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nommen. Niemand, der noch nicht zufrieden ist, sollte vergessen: Im Vordergrund der Diskussion stand in den letzten Monaten die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, auch wenn hier noch kein rechtsverbindlicher Akt möglich war.
Frau Wieczorek, ich teile ausdrücklich Ihre Meinung, daß das zu guter Letzt zu rechtsverbindlichen, konkreten und einklagbaren Rechten führen muß und daß die ganze Feierlichkeit nichts wert ist, wenn ihr nicht weitere konkrete Schritte folgen.
Aber deshalb sollte man doch die Sozialcharta nicht abwerten. Sie weist zumindest die Richtung. Wir dürfen mit ihr nicht als Endziel zufrieden sein; aber sie ist richtungsweisend im Sinne der Absichtserklärung. Ich finde jedenfalls, als Bezugs- und Orientierungspunkt ist sie brauchbar. Die Charta ebnet den Weg zu konkreten und rechtsverbindlichen sozialen Mindeststandards in der Gemeinschaft. Die Bundesregierung wird dabei ihrer von Anfang an eingenommenen Vorreiterrolle in der europäischen Sozialpolitik treu bleiben. Wir haben ein wichtiges Etappenziel erreicht, aber keineswegs das Ziel.
Außer der Bundesregierung hat bisher niemand in Europa, auch nicht die EG-Kommission, konkrete Mindeststandards ausformuliert. Wir sind das einzige Land und die einzige Regierung, die mit konkreten, ausformulierten Mindeststandards in die europäische Debatte eingetreten sind. Wir haben der Kommission entsprechende Vorschläge an die Hand gegeben. Denn, wie Sie wissen, hat die Kommission selber das Vorschlagsmonopol. Jetzt muß die Kommission Farbe bekennen, weil erst ihre formal eingebrachten Vorschläge den europäischen Gesetzgebungsprozeß in Gang setzen. Ich bedauere wie Sie, daß dieser Prozeß sehr schwerfällig ist und sehr viele Kurven und Slaloms hat. Aber wir haben unsere Hausaufgaben erledigt. Angesichts dieser Tatsachen laufen Vorwürfe ins Leere, wir hätten auf Initiative verzichtet. Es ist ja auch kein Wunder — darauf berufe ich mich ganz gerne — , daß Ernst Breit, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, die Aktivitäten der Bundesregierung mehrfach anerkannt hat.
Wir müssen jetzt den Fortschritt dort suchen, wo er am ehesten möglich ist. Mindestnormen zur Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer können nach Art. 118 a des EWG-Vertrages mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden. Zu diesem Bereich zählen wir auch einige der Vorschläge, die wir einvernehmlich mit DGB, BDA und DAG vorgelegt haben, nämlich zum Jahresurlaub, zu Mutterschutzregelungen, zum Kinderarbeitsverbot und zum besonderen Arbeitsschutz.
Aber, meine Damen und Herren, ich will vor einer Illusion warnen, daß nämlich diese Mindeststandards unser Sozialsystem anheben würden. Nein, wir sind halt das Spitzenland, auch wenn es manche nicht zur Kenntnis nehmen. Es geht bei diesem Mindeststandard darum, daß wir denjenigen, die zurückgefallen sind, helfen, aufzuholen. Unter einem rein nationalegoistischen Gesichtspunkt würde ich sagen: Was nützen uns Mindeststandards, z. B. ein Mindesturlaub, der bei uns in Tarifverträgen längst überholt ist?
Mindeststandards ändern ja die Situation der Arbeitnehmer hier nicht, aber sie drücken die Bandbreite der Unterschiede zusammen, die in Europa herrschen.
In diesem Zusammenhang noch einmal ein Wort zu dem Neun-Punkte-Katalog, auf den sich in der Bundesrepublik Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgeber verständigt haben. Wir waren das einzige Land in ganz Europa, das mit neun Punkten einvernehmlich zwischen Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgebern in die europäische Diskussion eingetreten ist — kein anderes Land! Darauf bin ich stolz. Das ist keine Leistung der Bundesregierung, sondern die Leistung der Beteiligten. Es ist einer unserer großen Fortschritte, daß wir uns in der Nachkriegszeit nicht für Klassenkampf, sondern für Partnerschaft entschieden haben. Das bringen wir jetzt in die europäische Integration ein.
Der soziale Friede ist einer unserer wichtigsten Produktionsfaktoren. Er ist uns nicht geschenkt worden. Er ist das Ergebnis der Anstrengung zur Sozialpartnerschaft von Arbeitgebern und Gewerkschaften. Ich finde, gegenüber mancher Klassenkampftradition auch in Europa haben wir da einen spezifischen Beitrag geleistet.
Der Neun-Punkte-Katalog — auch das will ich hinzufügen — ist keineswegs abschließend. Ich halte es für unverzichtbar, daß wir uns auch einigen, daß wenn Unternehmen europaweit tätig werden, dann Arbeitnehmer ebenfalls europaweit tätig werden können.
Ich sehe nicht, daß wir unser Mitbestimmungsmodell einfach nach Portugal, Irland oder Griechenland exportieren; die wollen das gar nicht. Aber daß wir, wenn europäische Integration zur europäischen Aktion der Unternehmen führt, auch den Arbeitnehmervertretungen von grenzüberschreitenden Großunternehmen auf Gemeinschaftsebene Beratungs-, Informations- und Konsultationsrechte geben, das, finde ich, liegt im Sinne von Partnerschaft, ja, auch von Waffengleichheit bei der Vertretung von Interessen.
Ich ermahne uns nicht zu einem blinden Aktionismus oder einem Europa der Worte und der Feierlichkeit, sondern zu einem Europa bester sozialpolitischer Tradition entsprechend: konkret, pragmatisch, Fortschritt, Schritt für Schritt.
Wir haben immer wieder betont, eine vernünftige Sozialpolitik darf nicht als Zentralisierungswelle, schon gar nicht als Nivellierungswelle stattfinden. Sie muß der Vielfalt auch der nationalen Sozialpolitik weiten Raum geben. Europäische Sozialpolitik braucht die Vielfalt und den Wettbewerb unterschiedlicher sozialer Systeme. Dem stehen unsere Forderungen nach gemeinschaftsweit verbindlichen sozialen Grundstandards nicht entgegen.
Der Vorsitzende der IG Metall hat das so formuliert — ganz drastisch — : „Wenn man etwa in Portugal die Sozialleistungen auf einen Schlag an unsere Sozialstandards anpassen wollte, würde man das Land konkursreif schießen. " — So militärisch würde ich es nicht ausdrücken, aber es ist einerseits ein Kompliment an den hohen Spitzenstandard hier und andererseits die
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Einsicht darein, daß Harmonisierung im Interesse der Arbeitnehmer nicht Nivellierung heißen kann.
Von dieser Frage ist ein anderes Problem deutlich zu unterscheiden, das unter den Bedingungen des Binnenmarktes auf uns zukommt: Wenn Unternehmen aus den Ländern, die billiger produzieren können, also aus dem Süden, mit eigenen Arbeitskräften z. B. im Rahmen öffentlicher Auftragsvergabe auf den Märkten der Staaten des Nordens tätig werden, ohne deren Tariflöhne und Sozialabgaben zahlen zu müssen, dann haben wir es mit dem klassischen Fall des sozialen Dumpings zu tun. Das kann nicht der Weg zu Europa sein.
Deshalb wird für diese Fragen das Produktionsortprinzip gelten müssen: Es gelten die Arbeitsbedingungen des Ortes, an dem produziert wird. Es kann nicht das Sitzlandprinzip gelten, nämlich daß die Arbeitsbedingungen des Herkunftslandes gelten; denn dann wäre, fürchte ich, europäische Integration ein neues Programm für Chaos, das niemand will.
In den hochsensiblen Fragen der Sozialpolitik empfehle ich uns Besonnenheit, eine Konkretisierung und eine Konzentration auf den nächsten Schritt. Das bedeutet nicht Stillstand, sondern das bedeutet, daß wir eine Sozialpolitik europäischen Ausmaßes betreiben, die für die Arbeitnehmer erlebbar ist, die sich nicht auf Proklamationen einschränken läßt, sondern konkreten Fortschritt ermöglicht.
Europa braucht Soziale Marktwirtschaft. Soziale Marktwirtschaft ist die Integration von Wirtschaft und Sozialpolitik. Ich finde, es gibt in diesen Tagen ein besonderes Erlebnis: Offenbar hat sich der Kapitalismus leichter sozial bändigen lassen, als sich der Sozialismus wirtschaftlich hat aufpolieren lassen. Das ist ein Ergebnis gerade dieser Tage. Ich habe die Soziale Marktwirtschaft immer als den Versuch verstanden, Wettbewerb mit Solidarität, Leistung mit sozialem Ausgleich, zu verbinden.
Ich denke, daß auf dieser Linie auch unser Beitrag für ein soziales Europa liegt. Denn Europa wird kein einiges Europa, wenn es nicht die Massen ergreift. Wenn es nur das Europa der Banken und Unternehmensleitungen wäre, dann erreichte es die Herzen nie. Insofern bedeutet soziales Europa auch das Europa der Millionen Arbeitnehmer, die in Europa leben.