Rede von
Dr.
Norbert
Blüm
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Schlagzeilen dieser Tage und Wochen kommen aus Leipzig, Dresden, Berlin, aus Warschau, Budapest, Prag, Sofia. Die deutsche Frage, die epochalen Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa schlagen uns, schlagen die ganze Welt in Bann. Wenn gerade in diesen Tagen der Deutsche Bundestag zum wiederholten Male die Fragen der Integration der Europäischen Gemeinschaft in den Mittelpunkt seiner Debatten stellt, so unterstreicht dies, daß die deutsche Einheit und die europäische Integration keine Gegensätze sind, sondern sich einander bedingen. Ich habe auch noch nie verstanden, warum wir das zum Gegensatz machen, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, wie ich es heute morgen in Ihrem Beitrag mehrfach empfunden habe.
— Einem Franzosen würde niemand zumuten, er müsse ein weniger guter Franzose werden, um ein besserer Europäer zu sein. Wir können doch beides sein.
Auch wenn man die Prämisse akzeptiert, daß deutsche Einheit nicht eine Sache des Alleingangs ist, auch wenn man die Prämisse akzeptiert, daß sie im Zusammenhang mit europäischer Ordnung steht, dann enthebt es uns doch nicht der Antwort auf die Frage, was wir wollen. Auf diese Frage antworte ich: Ich will Wiedervereinigung. Darüber haben die Deutschen in der DDR zu entscheiden, und darüber haben wir zu entscheiden. Aber die Frage darf nicht umgangen werden, als sei das etwas Unschamhaftiges.
Auch wenn die deutsche Frage offen ist, enthebt es uns nicht der Pflicht, unsere Position jedermann klarzumachen. Wenn eine Tür offen ist, muß ich trotzdem entscheiden, ob ich durch will oder nicht.
Der Vorwurf, den Sie heute morgen gegenüber den zehn Punkten gemacht haben, erinnert mich an einen Vorwurf, den Sie vor wenigen Wochen gemacht haben, der Kanzler würde zur deutschen Frage keine konkreten Punkte vorlegen. Jetzt legt er sie vor, und jetzt sagen Sie wieder, das wäre auch nicht gut. Ja, was gilt denn?
14300 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Dezember 1989
Bundesminister Dr. Blüm
— Ich begrüße die Wirkung, daß die Bundesrepublik einen Beitrag leistet, wie wir uns die deutsche Einheit vorstellen. Niemand wird damit überwältigt.
Das ist unser Debattenbeitrag. Ich sage: Ich möchte Wiedervereinigung. Das heißt nicht, daß der Faden dort wieder angeknüpft wird, wo er gerissen ist.
Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluß einsteigen. Aber es heißt, daß wir wieder vereint sein wollen unter einem nationalen Dach.
— Frau Wieczorek-Zeul, auch dazu etwas. Der Deutsche Bundestag hat in seiner Entschließung am 8. November gesagt:
Das polnische Volk ist vor fünfzig Jahren das erste Opfer des von Hitler-Deutschland vom Zaune gebrochenen Krieges geworden. Es soll wissen, daß sein Recht, in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird.
Wollen wir uns das jetzt jeden Tag durch Wiederholungen bestätigen? Ich finde, dieser Wiederholungszwang ist eher ein Faktor der Unsicherheit.