Rede von
Ulrich
Heinrich
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Frau Kollegin, wir beide sind uns sicher darüber einig, daß das Parlament mehr Rechte braucht. Ich bin aber der Meinung, daß in Fragen der sozialen Dimension in Europa die Einstimmigkeit im Rat hierzu nicht im Widerspruch steht.
Sie steht nicht im Widerspruch,
weil wir eine Unterscheidung in den Einstimmigkeitsbeschlüssen durchaus als erträglich empfinden können. Wir brauchen nicht grundsätzlich für alle Beschlüsse Einstimmigkeit. Hier kann durchaus unterschieden werden. Und wir sind der Meinung, daß im sozialpolitischen Bereich die Einstimmigkeit so nicht vollzogen werden sollte.
— Ja.
Ich habe gerade von dem Art. 118a und davon gesprochen, daß die Bestrebungen der Kommission, immer mehr Kompetenzen an sich zu ziehen, hier sehr deutlich zu spüren sind. Ich weiß auch — wir haben dies in der Beschlußempfehlung unseres Ausschusses
zu diesem Artikel niedergelegt — , daß diese Vorschrift des EWG-Vertrags ein Rechtsinstrument ist, das hervorragend geeignet ist, Harmonisierungsprozesse im Bereich der EG-Sozialpolitik zu beschleunigen. Aber diese schleichende Ausdehnung der Regelungskompetenz birgt ihre Gefahren in sich.
Wir haben daher in der gleichen Beschlußempfehlung gesagt, daß jede Interpretation des Art. 118 a sich nur an der engen Zielsetzung dieser Vorschrift, nämlich daran, die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen, zu orientieren hat.
Wer gestalten möchte, muß wissen, was die Realität ist. Und die Realität im sozialpolitischen Bereich — so fürchte ich — ist vielen noch gar nicht in vollem Umfang geläufig. Der von mir bereits zitierte Sachverständigenrat sagt in seinem Gutachten völlig zu Recht, daß im Zuge der Vorbereitung des europäischen Binnenmarktes die soziale Dimension lange Zeit hinter der Erörterung monetärer und finanzpolitischer Integrationsaspekte zurückstand. Dies mag erklären, daß manche bedenkliche Entwicklung erst relativ spät erkannt worden ist.
Aber dies kann selbstverständlich nicht bedeuten, daß dieses Bedenkliche nun einfach übergangen oder unter den Tisch gekehrt werden dürfte. Das gilt insbesondere für den möglichen Export von Sozialleistungen, z. B. bei der Zahlung von Kindergeld, in der Krankenversicherung, beim Arbeitslosengeld und in der Sozialhilfe. Es ist meines Erachtens nicht zu vertreten, daß Länder mit hohem Leistungsniveau und niedrigen individuellen Leistungsvoraussetzungen durch Gerichtsbeschluß oder durch Verordnungen gezwungen werden, ihre Leistungen in andere Länder auszuführen. Das Kindergeld z. B. ist ein Instrument des Familienlastenausgleichs in der Bundesrepublik, bei dem sich die Leistungshöhe an den Kosten und Lebensverhältnissen des Landes orientieren muß, in dem die Kinder leben.
Im Bereich der Krankenversicherung muß das Äquivalenzprinzip aufrechterhalten werden, d. h. also, daß Leistungen der sozialen Versicherung nur derjenige erhält, der sich auch an der Finanzierung beteiligt hat.
Und ein Arbeitsloser kann nur dann Arbeitslosengeld beziehen, wenn er dem Arbeitsmarkt des Landes, das die Unterstützung zu leisten hat, auch zur Verfügung steht.
Wenn wir hier den tendenziell gegenläufigen Vorstellungen der Kommission und den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs folgen müssen, dann drohen für unsere Sozialversicherungssysteme weitreichende finanzielle Konsequenzen.
Wenn man liest, daß die EG-Kommission im Zusammenhang mit nationalen portugiesischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit an die dortige Regierung schreibt, daß sie gegen die Durchführung solcher Maßnahmen keine Einwendungen erhebt, daß mit anderen Worten nationale Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik von der Genehmigung durch die EG-Kommission
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Dezember 1989 14299
Heinrich
abhängig sein sollen, dann kann man nur ahnen, was da gegebenenfalls auf uns zukommen könnte, wenn wir nicht rechtzeitig und immer wieder auf die institutionellen Grenzen der sozialpolitischen Zuständigkeit der Kommission hinweisen.
Ich meine, daß das Territorialitätsprinzip, d. h. der Grundsatz, nach dem Leistungen der sozialen Sicherung nur an den gezahlt werden, der innerhalb der Grenzen des Landes Ansprüche erworben hat, und die Zahlung auch nur innerhalb des Landes erfolgt, unbedingt beibehalten werden muß.
Wir haben dies ja auch in unserer Beschlußempfehlung zur EG-Sozialcharta verankert, in der es heißt, daß für die Gewährung von Sozialleistungen auch künftig uneingeschränkt das Territorialitätsprinzip gelten muß. Eine Aufgabe des Prinzips wäre das Ende jeglicher nationaler Sozialpolitik.
Die Grenzen der Harmonisierung und Europäisierung von Sozialleistungen müssen dort gezogen werden, wo sie zu einer Beeinträchtigung der Stabilität der sozialen Sicherungssysteme jener Länder führen, die die Kosten dafür zu tragen haben.
Dies dient im übrigen, wie ich vorhin schon sagte, auch den strukturschwachen Ländern mit niedrigem Leistungsniveau. Eine zu schnelle und überzogene Zwangsharmonisierung würde die Wettbewerbschancen dieser Länder deutlich verringern.
Ich bin insofern ganz entschieden der Auffassung, daß eine — auf diese Weise bewirkte — internationale Umverteilung nicht die Aufgabe der sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedsländer sein darf und sein soll.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch einmal den Sachverständigenrat zitieren; die Lektüre seiner Aussagen lege ich jedem Interessierten sehr ans Herz. Er warnt davor, das Mehrheitsprinzip zum allgemeinen Prinzip zu erheben, weil dies bedeuten würde, daß Länder mit niedrigem Sozialleistungsniveau eine Zugriffsmöglichkeit auf die Sozialbudgets anderer Länder erhalten würden, ohne dafür eine Gegenleistung erbringen zu müssen. Das unterstreicht, Frau Kollegin, deutlich meine Aussage, warum wir die Mehrheitsentscheidung in diesem Bereich nicht wollen. Wir sollten diese Warnung ernst nehmen;
denn, Herr Kollege Peter, dem Rausch folgt der Kater. Auch die soziale Dimension käme so bald in Mißkredit, und sie würde statt zu einer Belebung zu einer Belastung der europäischen Integration.
Was wir brauchen, ist daher eine behutsame Ausfüllung der sozialen Dimension Europas mit Augenmaß, die das Machbare in Übereinstimmung mit den Sozialpartnern und den nationalen Parlamenten angeht, aber andererseits auch die Leistungsfähigkeit und gesellschaftliche Akzeptanz der jeweiligen Volkswirtschaften und Gesellschaften nicht überfordert.
Herzlichen Dank.