Rede von
Ulrich
Heinrich
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Beiträge der Opposition zeigen, daß sie entweder nichts zur Sozialdimension Europas zu sagen hat oder hier allgemeines Geschwafel vorziehen will.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir Freie Demokraten begrüßen die Verabschiedung der europäischen Sozialcharta am vergangenen Wochenende.
— Das war ein allgemeiner Rundumschlag, der mit der Tagesordnung überhaupt nichts zu tun hat.
— Jetzt hören Sie doch einmal zu!
— Wenn ich weitermachen kann, dann sagen Sie es.
Ich sage deutlich, daß wir die Verabschiedung der Sozialcharta in Straßburg am vergangenen Wochenende ausdrücklich unterstreichen. Wenn diese Charta auch rechtlich unverbindlich ist, so wird durch sie zum erstenmal nach außen hin dokumentiert, daß die sogenannte soziale Dimension des europäischen Binnenmarktes keine leere Worthülse ist. Ihre psychologische und vor allen Dingen auch ihre politische Wirkung sollte man nicht unterschätzen.
Damit wird anerkannt, daß Sozialordnung und Wirtschaftsordnung eben keine voneinander losgelösten und getrennten Dinge sind, sondern daß sie sich ge-
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Heinrich
genseitig ergänzen bzw. sich wechselseitig bedingen.
Wir sollten dabei nicht vergessen, daß auch unsere Soziale Marktwirtschaft ihren Erfolg nicht nur ihrer hohen Effizienz und Leistungsfähigkeit verdankt, es war auch die Fähigkeit zum sozialen Ausgleich und zum sozialen Konsens,
durch die die Zustimmung der Bürger zu eben dieser Wirtschaftsordnung sichergestellt werden konnte.
Diese Interdependenz der Ordnungen gilt es auch bei der Weiterentwicklung der europäischen sozialen Dimension zu berücksichtigen, d. h. sich insbesondere darüber im klaren zu sein, daß sozialer Fortschritt ohne steigende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit undenkbar ist.
Das heißt wiederum, daß die soziale Dimension Europas vor allem in den positiven Impulsen liegt, die vom Binnenmarkt, vom Wachstum, von Beschäftigung und vom Wohlstand ausgehen. Denn auch in Europa gilt das, was bei uns gilt: Nur das, was erwirtschaftet wird, kann auch verteilt werden.
In einer wirtschafts- und sozialpolitischen Gesamtschau für Europa muß es meines Erachtens darum gehen, zum einen die wirtschaftlichen Möglichkeiten und beruflichen Fähigkeiten der Menschen in den schwächeren Mitgliedstaaten stärker zur Entfaltung zu bringen und damit dort die Voraussetzungen für den sozialen Fortschritt zu verbessern. Ich denke hierbei z. B. an die bessere Schulausbildung, an die gegenseitige Anerkennung von Schul- und Hochschulabschlüssen, den verstärkten Ausbau der Beruf schulausbildung. Andererseits dürfen aber auch die sozialen Errungenschaften der wirtschaftlich stärkeren Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigt werden.
Die traditionellen, gewachsenen Strukturen in den Mitgliedstaaten müssen erhalten bleiben. Sie sind, für sich genommen, jeweils ein Stück der jeweiligen nationalen Identität. Dies gilt insbesondere auch für das soziale Netz in den jeweiligen Mitgliedstaaten.
Die sozialen Sicherungssysteme unterscheiden sich in Europa ausgesprochen stark voneinander. Nehmen Sie einmal als Beispiel nur die unterschiedliche Ausgestaltung, Finanzierung, Leistungen der jeweiligen nationalen Alterssicherungssysteme in Dänemark und in der Bundesrepublik Deutschland. Es wird völlig klar, daß es nicht nur schwierig, sondern sogar kontraproduktiv wäre, darüber einen sozialen Einheitstopf zu stülpen oder, mit anderen Worten, eine Harmonisierung um jeden Preis zu betreiben. Wer das Zusammenwachsen Europas auch in seiner sozialen Dimension will, der darf gerade nicht mit dem Rasenmäher Harmonisierung möglichst alles auf einmal auf ein Niveau bringen wollen. Eine zu weitgehende Harmonisierung müßte das ökonomische Nord-Süd-Gefälle in Europa tendenziell verstärken und damit destabilisierend auf die Gemeinschaft wirken. Auch der Akzeptanz europäischer Entwicklungen in der Bevölkerung wäre wenig gedient.
Das bedeutet allerdings nicht, daß es im Bereich der sozialen Ausgestaltung Europas keinen gemeinschaftlichen Handlungsbedarf gibt. Erst kürzlich hat darauf noch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in einem lesenswerten Kapitel seines Jahresgutachtens hingewiesen.
Den sozialen Mindeststandards, die die notwendigen Freiräume für Abweichungen nach oben zulassen, und die im Interesse der Schaffung und des Funktionierens des gemeinsamen Marktes für erforderlich gehalten werden, wird niemand etwas einzuwenden haben. Ich halte sie auch deswegen für wichtig, um die sozialpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten, insbesondere des Europäischen Gerichtshofs, in Grenzen zu halten.
Der Bundesarbeitsminister hat für die Bundesregierung in Konsens mit den Tarifparteien neun konkrete Aktionsfelder aufgezeigt. Ich habe dabei insbesondere die Tatsache, daß im Konsens zwischen Regierung und Tarifparteien ein sozialpolitisches Aktionsprogramm erarbeitet wurde, für außerordentlich wichtig. Dies sollte für die weitere Entwicklung beispielhaft sein. Es ist zu hoffen, daß die EG-Kommission diese Punkte aufgreift, wenn sie an die Konkretisierung der Sozialcharta geht.
Die Chance zur Berücksichtigung der sozialen Dimension innerhalb der Europäischen Gemeinschaft ist auch eine Chance für die Frauen. Dabei geht es weniger darum, zusätzliche Schutzvorschriften für Frauen zu schaffen, vielmehr um die Harmonisierung der sozialen Situation der Frauen. Frauen sollen frei über ihre Erwerbstätigkeit entscheiden dürfen. Wo, wann und in welchem Bereich sie ihre Fähigkeiten am besten einsetzen können, muß im persönlichen Interesse der Frauen liegen. Ich verrate hier kein Geheimnis, wenn ich auf die Vorreiterrolle der Bundesrepublik bei der Realisierung frauenpolitischer Anliegen hinweise.
Die Erhöhung des Zweitkindergeldes, die Verlängerung des Erziehungsgeldes, die steuerliche Entlastung für Familien, um nur die frauenpolitisch wichtigsten Gesetze in dieser Legislaturperiode zu nennen, sprechen eine deutliche Sprache.
Aber all diese Maßnahmen waren nur machbar, weil eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik und ein stetiges Wirtschaftswachstum als Ausgangsbasis vorhanden waren und sind.
Mit der materiellen Konkretisierung der Sozialcharta darf allerdings nicht die formale Verlagerung von Kompetenzen der nationalen Regierungen an die EG-Kommission einhergehen.
Inwieweit für eine Verabschiedung von Richtlinien Einstimmigkeit im Rat erforderlich ist, oder ob für einzelne Punkte des Aktionsprogramms eine qualifizierte Mehrheit ausreicht, ist für mich z. B. eine ganz entscheidende Frage.
Ich bin daher mit dem Bundesrat in seinem Beschluß zum Entwurf einer Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte einer Meinung, daß der Grundsatz der Subsidiarität in sozialpolitischen Angelegenheiten zu wahren ist. Und nach der Europäischen Akte liegt die
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Sozialpolitik entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip eben ganz überwiegend in der Verantwortung der Mitgliedstaaten.
Gemeinschaftsangelegenheiten können soziale Fragen nur mit Einstimmigkeit aller Mitgliedsländer werden. Dabei sollte es bleiben.
Ich weiß, daß die Kommission ebenso wie das Europäische Parlament und der Europäische Gerichtshof z. B. den Art. 118 a der Europäischen Akte so weit wie möglich auslegen möchten, um damit mehr Kompetenzen an sich zu ziehen.