Ja, Herr Brück. Man kann beispielsweise sehr wohl sagen: In monetären Dingen, die eine Vertiefung der Integration bedeuten, treten wir so lange etwas kürzer, bis wir in anderen Dingen, die wir für wichtig halten, etwas weitergekommen sind. Das kann man schon mal machen.
Aber diese Diskussion über den Gang der EG ist in einem Augenblick relativ unerheblich geworden, wo aus dem Straßburger Gipfel ein Gipfel der deutschen Frage wurde. Und so müssen wir denn hier über die Politik des Kanzlers sprechen, die ja nur zum Teil die Politik dieser Bundesregierung ist, wie sie sich seit der Zehn-Punkte-Erklärung über die Gipfel von Malta, Brüssel und Straßburg entwickelt hat.
Es ist schlimm und bedauerlich und es zeigt eine eklatante Mißachtung dieses Bundestages, daß wir diese Debatte über einen speziellen EG-Aspekt nutzen müssen, um die Politik des Kanzlers überhaupt einmal diskutieren zu können. Wir haben viele Regierungserklärungen aus zum Teil unerheblichen Anlässen erlebt — und ich höre, in der nächsten Woche haben wir schon wieder eine zur Gesundheitsreform —, Regierungserklärungen der Selbstdarstellung. Aber jetzt, wo wir einen Umbruch Europas erleben
— nächste Sitzungswoche, habe ich gesagt — , wo wir einen Kanzler erleben, der sich allem Anschein nach in historische Dimensionen hineinträumt, werden uns Regierungserklärung und Debatte verweigert; denn so ist es ja.
Hat der Kanzler ein so schlechtes Gewissen, weil er weiß, daß er ein so ernstes Thema, wie es uns durch die demokratische Erhebung in der DDR aufgegeben ist, hier zu Wahlkampfzwecken mißbraucht? Sind die übrigen Fraktionen dieses Hauses so sehr beschäftigt, ihre eigenen Schlangenlinien und Pirouetten zu begradigen, daß sie mit uns nicht wenigstens eine gemeinsame Debatte vereinbaren konnten? Oder ist man im Grunde damit einverstanden, daß man, statt hier an dieser Stelle den Austausch von Argumenten und den Streit um die richtige Politik zu suchen, von vornherein lieber auf Parteitage zieht und Wahlkampf betreibt, Wahlkampf, der sich auf und in die DDR richtet und dort eine freie politische Willensbildung kaum noch zuläßt?
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Dezember 1989 14295
Dr. Lippelt
Herr Präsident, meine Damen und Herren, in den vergangenen Tagen konnte man Bilder aus der DDR sehen, die sehr widersprüchlich waren. Da gingen mit einer bewundernswerten Ruhe und Sachlichkeit Vertreter der Opposition in die Zitadellen der Unterdrükkung, in die Gebäude der Stasi, versiegelten die Akten, übernahmen die Waffen und händigten sie der Polizei aus. Auf der anderen Seite die Bilder von den Demonstrationen, insbesondere in Leipzig, wo doch alles so machtvoll angefangen hat. Die großartige Bewegung zerfällt in Befürworter und Gegner der Wiedervereinigung. Man streitet um Transparente. Die Stimmung wird bitter und aggressiv.
Dabei waren vor kurzem die Wünsche der Opposition noch identisch mit denen der Demonstrierenden. Man wollte Zeit zum Nachdenken. Man wollte den politischen Weg gehen, den man nun, befreit von der Diktatur, gehen konnte, und wollte ihn erst einmal für sich selbst erkunden. Und jetzt schrumpft alles auf die Frage der Wiedervereinigung, eine Frage, von der Sie alle hier in diesem Raume wissen, daß sie sich in den nächsten Jahren nicht stellen wird. Insofern tragen wir hier, trägt insbesondere der Bundeskanzler mit seinem Zehn-Punkte-Plan schwere politische Verantwortung.
Der Weg, auf dem sich die deutsch-deutschen Beziehungen, über die wir zu diskutieren haben, entwikkeln, ist von den tiefen Schlagschatten der Geschichte ebenso umgeben wie vom Mißgrauen und vom Argwohn der Nachbarn. Deshalb ist, was wir brauchen, eine ehrliche und nicht opportunistische nationale Debatte zwischen den beiden Deutschlands, zwischen uns hier in der Bundesrepublik und der Bevölkerung der DDR. Sie muß ehrlich sein, aber sie ist leider nur parteipaktisch und demagogisch. Es muß eine Debatte sein über das Bild von Deutschland, das wir in den Köpfen haben, und über die Vorstellungen eines Europas, in dem wir gemeinsam leben wollen.
Da die Zeit so kurz ist, kann ich hier nur stichwortartig einige Feststellungen treffen:
Erstens. Vor der deutschen Geschichte besteht das Bild einer deutschen Kulturnation in verschiedenen Staaten weit besser als das eines Einheitsstaats. Die Finalität des 10-Punkte-Programms des Bundeskanzlers ebenso wie die an diesem Wochenende von der SPD beabsichtigte Erklärung verengen deshalb in verhängnisvoller Weise die Diskussion.
Zweitens. Nochmals: Sie setzen sich über die Mehrheit hinweg, die in der DDR so tapfer begonnen hat, vor einigen Monaten zu sagen: Wir bleiben hier in unserem Land. Friedrich Schorlemmer sagte bei der Verleihung der Ossietzky-Medaille : „Die Feigen von gestern sind die Radikalen von heute. " Das bedeutet: Die von den großen Parteien der Bundesrepublik in die DDR hineingetragenen Wirkungen führen auch zu Radikalisierungen auf dem rechten Flügel der sich erst herausbildenden Meinung. Ich vermute, daß der Bundeskanzler eine Ernte sät, die andere in ihre Scheuer fahren werden.
Drittens. Man kann nicht die demokratische Erhebung in der DDR, die Sprechchöre „Wir sind das Volk", als schönsten Ausdruck der Volkssouveränität feiern und gleichzeitig sie vereinnahmen wollen.
Souveränität muß von innen bestimmt werden, nicht von außen. Die Wirtschaftsexperten des Neuen Forums haben vor einigen Tagen auf einer Pressekonferenz hier in Bonn zu Recht dagegen protestiert, daß „verschiedenartigste Persönlichkeiten und Institutionen der BRD mit den bisherigen Vertretern der alten Machtstrukturen des überlebten Staatsgefüges bereits Absprachen und Vereinbarungen treffen, die auf keinem einheitlich abgestimmten Gesamtkonzept beruhen und große Gefahren für die Zukunft der DDR beinhalten. Dies trifft auch für den bevorstehenden Besuch des Bundeskanzlers Kohl am 19. Dezember 1989 in Dresden zu".
Viertens. So sehr die Bundesregierung und jetzt auch die SPD betonen, daß jede Deutschlandpolitik in Europapolitik eingebettet sein müsse, Zehn-PunkteProgramm des Bundeskanzlers und die bevorstehende Berliner Erklärung sind in ihrem Kern leider nur nationale Politik mit europäischer Bemäntelung. Denn in diesen Erklärungen findet sich keine Diskussion europäischer Möglichkeiten. Dafür ein Beispiel: Wenn die SPD schon in einem Sofortprogramm die Vorbereitung einer Währungsgemeinschaft mit der DDR fordert, andererseits aber beklagt, daß die EG-Regierungskonferenz unnötig verzögert wird, so muß sie nun wirklich sagen, was für eine Währung sie denn haben will und was sie zuerst und was sie danach haben will. Es ist eine klare Doktrin der Zwölf, daß jegliche Erweiterung der EG erst nach einer Integration stattfinden soll.
Fünftens. Überhaupt hat die handlungsleitende Doktrin der Regierung, der sie tragenden Parteien und der SPD, die Bundesrepublik müsse ein Vorreiter der westeuropäische Integration sein, da sie nur dann unbeargwöhnt Deutschlandpolitik betreiben könne, mehr den Charakter einer rituellen Beschwörung an sich als den eines rationalen Gedankens. Hätte der Bundeskanzler in Straßburg nicht viel besser dagestanden, wenn er statt zu taktieren eine politische Diskussion über die Zukunft der Strukturen Gesamteuropas, insbesondere der Strukturen des Wirtschaftsraumes des ehemligen RGW, gefordert hätte?
Sechstens. Gorbatschow macht zu Recht darauf aufmerksam, daß die Reformbewegung in Mittelosteuropa ohne die Politik der Perestroika nicht denkbar ist. Der Bundeskanzler hat in Lublin zu Recht betont, daß ohne die Entwicklung in Polen und Ungarn die in der DDR nicht denkbar gewesen sei. Wie bestimmt sich nun das Verhältnis der deutsch-deutschen Politik zur deutsch-polnischen oder deutsch-sowjetischen? Wenn man die finanziellen Dimensionen der jetzt im Zehn-Punkte-Programm des Bundeskanzlers wie auch in dem der SPD angelegten Politik mit den über zwei Jahre verhandelten finanziellen Dimensionen des deutsch-polnischen Durchbruchs vergleicht, so ergibt sich daraus kein Bild einer guten europäischen Politik. Allein die für die Ermöglichung des Reiseverkehrs angesetzte Stützungssumme übersteigt um ein Mehrfaches das Polen zur Verfügung gestellte frische Geld. Es wäre für die Zukunft Mittelosteuropas verhängnisvoll, wenn der Zusammenhang der Demokratiebewegung etwa an der Oder oder am Bug zerreißen würde.
14296 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Dezember 1989
Dr. Lippelt
Siebtens. Wie wenig sich nationale Politik als europäische Politik verkaufen läßt, machen die internationalen Rückwirkungen auf die Politik des Bundeskanzlers seit Verkündung des Zehn-Punkte-Programms deutlich. Richtig ist natürlich, daß weder die USA noch Frankreich und selbst nicht die Nachbarn in Osteuropa den Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR den Wunsch nach freier Selbstbestimmung, auch über eine eventuelle gemeinsame staatliche Existenz, bestreiten. Nur, deutlich ist auch, daß sie das Vorgehen des Bundeskanzlers für einen nationalen Alleingang halten und daß sie dagegen nun allerdings nachdrücklich Einspruch einlegen.
Achtens. Das dürfte ganz besonders verursacht sein und verschärft werden durch die in Straßburg nun erneut vorgetragene Weigerung des Bundeskanzlers, die Oder-Neiße-Grenze ohne Wenn und Aber anzuerkennen.
Daß die „FAZ" am Montag dieser Woche eine von ihr übernommene, mißverständliche Reuter-Meldung unter der Schlagzeile „Die Oder-Neiße-Linie in Straßburg nicht anerkannt" korrigieren mußte, ist eine nicht mehr zu überbietende Peinlichkeit. Da diese Position des Bundeskanzlers in diesem Hause ganz klar keine Mehrheit mehr hat, ist es eine Frage an die FDP, wie lange sie sich noch weiterhin in ihrer Haltung vom Bundeskanzler beschädigen lassen will.
Neuntens. Wer zu einer echten Europapolitik zurückfinden will, wird den KSZE-Prozeß dem Prozeß einer EG-Integration einerseits und einer Öffnung der EG für Osteuropa andererseits überordnen müssen.
Das Programm der SPD, die DDR privilegiert in die EG hineinzuheben, wie andererseits das Programm des Bundeskanzlers, die EG vage für offen zu erklären
— von der Elbe bis zum Ural — haben einen zu unbestimmten Charakter und sind damit dem Argwohn gegen eine voluntaristische deutsche Politik zu sehr offen, als daß sie nicht der Einbettung in ein gesamteuropäisches, politisches Gespräch bedürften.
— Sie können es ja nachlesen, vielleicht ist es für Sie dann einfacher.
Deshalb möchten wir Sie mit allem Nachdruck auffordern, den Vorschlag Gorbatschows für eine Helsinki-II-Konferenz zu unterstützen.
Meine Fraktion hat selber schon im September einen Antrag eingebracht, der jetzt dem Auswärtigen Ausschuß zur Beratung vorliegt. Es geht um die Einführung des Themas „Schriftliche Fixierung einer Europäischen Friedensordnung in den KSZE-Prozeß".
Natürlich kann eine solche Konferenz erst in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres stattfinden, erst dann, wenn die DDR ihre demokratisch legitimierten Repräsentanten gewählt hat. Dann allerdings sind die Fragen reif zur Behandlung: die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ohne Wenn und Aber unter Ausräumung des Grundgesetzvorbehalts durch international rechtlichen Vertrag ohne neuen Vorbehalt, die Frage der Zukunft der DDR, die Frage einer radikalen Entmilitarisierung Mitteleuropas, die
Frage eines breitangelegten Unterstützungsprogramms für Mittelosteuropa, die Fragen der Entwicklung transnationaler, gesamteuropäischer, demokratischer Institutionen.
Die Aufgaben legen uns eine große Verantwortung auf. Sie können allerdings durch eines ruiniert werden: durch einen nationalistischen Wahlkampf.
Ich bedanke mich für die Geduld, mit der mir die Sozialpolitiker erlaubt haben, eine außenpolitische Rede zu halten, die ich mangels Bereitschaft der Regierung anders nicht loswerden konnte.