Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das eigentliche Thema der heutigen Debatte ist die europäische Sozialpolitik. Dieses Thema kommt schon seit langem zu kurz. Deshalb ist es notwendig, daß wir heute einmal eingehend darüber reden.
— Es könnte Ihnen gefallen, uns mit so einem oberflächlichen Antrag von den eigentlichen Sachfragen abzulenken. So funktioniert das nicht.
Zum Erfolg des Binnenmarktes in Europa gehört die soziale Stabilität wie das Salz zur Suppe. Man braucht dazu überhaupt keine neuen Modelle. Die Erfahrungen mit der Sozialen Marktwirtschaft und ihre Prinzipien sind gut und geeignet zur weiteren Verbreitung in Europa. Deswegen hat sich die CDU/ CSU beispielsweise für verbindliche Grundrechte im sozialen Bereich eingesetzt. Das galt vor dem Gipfel in Straßburg, und das gilt natürlich auch für die Zukunft.
Wenn es in Straßburg zu keiner Einigung über die Verabschiedung einer gemeinsamen Erklärung aller Zwölf kam, so liegt das in keinster Weise an der deutschen Seite.
Die Bundesregierung hat mehr als ihre Hausaufgaben gemacht.
Nennen Sie mir ein Land, das bisher einen Katalog für ein Aktionsprogramm vordringlicher sozialer Grundrechte vorgelegt hat. Nennen Sie mir ein Land, wo eine gemeinsame Linie in wichtigen Fragen mit den Sozialpartnern abgestimmt werden konnte.
Die Bundesregierung braucht man nicht immer mit neuen Anträgen zur Aktivität zu ermuntern. Die deutsche Bundesregierung gehört zu den sozialpolitischen Stürmern im europäischen Spiel.
Helmut Kohl hat während der deutschen EG-Präsidentschaft einen steilen Paß nach vorne geschlagen. Denken Sie an den Gipfel von Hannover. Denken Sie an die Einheitliche Akte. Denken Sie an die Einführung des wichtigen Art. 118 a.
Vergessen wir doch bitte nicht: Das war die Voraussetzung für viele Richtlinien zum Schutz der Arbeitnehmer, die auch Sie von der Opposition begrüßt ha-
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ben und die zwischenzeitlich zur europäischen Praxis gehören. Das ist konkreter sozialer Fortschritt.
Meine Damen und Herren, hier sollten deswegen heute auch keine falschen Stimmungen aufkommen. Uns Deutschen tut der Ausgang in Straßburg am wenigsten weh, weil wir keinen akuten Nachholbedarf an sozialen Errungenschaften im Vergleich zu den europäischen Ländern haben.
Richtig ist aber, daß wir ein Zukunftsinteresse an einer schnellen Abklärung der Elemente der sozialen Dimension des Binnenmarktes haben, weil dies im Zusammenhang mit der Standortgunst für die Wirtschaft, der Sicherung der Arbeitsplätze und der Inanspruchnahme unserer sozialen Sicherungssysteme steht. Gefragt sind daher Prioritäten, Strategien, Konzepte und letztendlich auch Übereinstimmungen.
Wenn man den sozialpolitischen Passus im neuesten Antrag der SPD liest, dann geht es dort nach dem Motto: Wir haben selbst Jahre nichts getan; aber bitte jetzt komplette Lösungen, und dies sofort.
Meine Damen und Herren, wenn es nach Ihnen geht, soll die Bundesregierung im Rat und bei der EG-Kommission einerseits alles durchsetzen. Zum anderen servieren Sie ein Maximalprogramm. Wenn man heimkommt und nicht alles durchgesetzt hat, dann gibt es Schimpfe. So in etwa ist Ihre Strategie. Das ist nach meiner Meinung einfach zuwenig. Sie bleiben uns bei Ihren umfassenden Angeboten an Sozialplanung — da waren Sie schon immer gut —
die Antwort schuldig, wie angesichts der eindeutigen Normen des Vertrages vorgegangen werden soll und wie die Länder mit niedrigem Sozialstandard nachziehen sollen. Hier bleiben Sie die Antwort schuldig.
Luftschlösser bauen kostet bekanntlich nichts. Aber der Abriß ist meistens sehr teuer.
Machen wir uns deswegen nochmals das Ziel unserer Bemühungen deutlich.
Der Binnenmarkt ist kein Selbstzweck. Er soll zu mehr Wohlstand für die Bürger in Europa führen. Die Unterschiede sind groß. Es gibt noch Länder wie Spanien mit einer Arbeitslosenquote von 17 %, tarifliche Jahresarbeitszeiten von 2 025 Stunden in Portugal gegenüber 1 697 in Deutschland,
Spannen bei den Jahresnettoverdiensten von 8 130 DM in Portugal bis 31 000 DM in Luxemburg.
All dies kann nur erfolgreich weiter zusammengeführt werden, wenn den einzelnen Ländern auch im sozialen Bereich Gestaltungsfreiheit belassen bleiben und wenn vor allem die soziale Belastbarkeit mit der ökonomischen Entwicklung Schritt hält. Wer die Leistungsfähigkeit außer acht läßt, kann nur über Sozialtransfers in großem Umfang ausgleichen. Das ist zu teuer und schafft Abhängigkeiten statt Unabhängigkeiten und Selbständigkeiten.
Sozialer Fortschritt muß deswegen seine ökonomische Grundlage vor Ort bekommen.
Europäische Solidarität heißt, den sozial nicht so weit entwickelten Ländern zunächst ihren Wettbewerbsvorteil zu belassen und mit wachsendem Leistungsvermögen soziale Standards zu verwirklichen. Wie diese Standards auszusehen haben, können und sollten wir nicht vorschreiben. Es muß auch hier einen Wettbewerb zwischen den einzelnen Ländern geben können. Dies ist auch erklärter Wille der Mitgliedstaaten. Nicht umsonst hat auch die erweiterte EG-Akte die Kernbereiche der Sozialpolitik der Nationalstaaten belassen.
Gerade vor diesem Hintergrund der Entscheidung, was europäisch und was national geregelt werden soll, sage ich dies. Es geht hier um historische und traditionelle Entwicklungen. Wir haben beispielsweise mit unserem sozialen Sicherungssystem auf der Ebene der Beitragsbezogenheit und andere mit anderen Systemen gute Erfahrungen gemacht.
Vor diesem Hintergrund sind die Bemühungen um gesicherte und auch einklagbare grundlegende Arbeitnehmerrechte zu sehen und im Interesse eines arbeitnehmerfreundlichen Europas auch zu verwirklichen.
Ich setze trotz des Ablaufs in Straßburg sehr stark darauf, daß wir hier weiterkommen. Dies rührt vom Wesen der Sozialpolitik her — von Haushaltspolitikern wird das ungern gesehen — : Wenn man Sozialpolitiker nicht durch das Hauptportal läßt, dann kommen sie durch den Nebeneingang und sitzen oft schneller im Wohnzimmer, als anderen lieb ist.
Auf die EG-Ebene übertragen heißt das: Wir müssen sehr genau abwägen, welche wichtigen Arbeitnehmerrechte auf der Basis des Art. 118a des EWG-Vertrages auf der Grundlage von Mehrheitsentscheidungen durchgesetzt werden können. Art. 118 a darf nicht überdehnt werden — dies schadet dem Vertrauensverhältnis der Vertragspartner und würde auch nicht immer zu Ergebnissen führen, die wir uns wünschen — , aber konsequente Anwendung muß die Strategie der nächsten Zeit sein.
Die Regierung braucht auch gar nicht zur Eile angetrieben zu werden. Denn Norbert Blüm hat bereits auf der letzten Sitzung des Arbeitsministerrats seinen Fuß in diesen berühmten Nebeneingang gesetzt.
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Ich meine den Neun-Punkte-Katalog,
der mit den Sozialpartnern rechtzeitig abgestimmt wurde. Dieser sieht als Schwerpunkte vor: Jahresurlaub, Schutz von Kindern und Jugendlichen, Mutterschutz, Eingliederung Behinderter, Berufsberatung und Arbeitsvermittlung, Entgeltfortzahlung an Feiertagen, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz und Arbeitnehmerüberlassung.
Nicht bei allen Materien kann per Mehrheitsentscheidung vorgegangen werden. Aber Art. 118 a läßt Mehrheitsentscheidungen bekanntlich dann zu, wenn es um die Förderung der Arbeitsumwelt geht, um die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen. Dies ist bei einer ganzen Reihe dieser Vorschläge der Fall. Insoweit sind wir sicher, daß man mit Art. 118a vorankommen kann.
Gerade bei Materien, über die per Mehrheitsentscheidung entschieden wird, ist die Abstimmung mit den Sozialpartnern außerordentlich wichtig. Seitens der Politik verdient es Anerkennung gegenüber Arbeitgebern und Gewerkschaften, daß diese Bereitschaft vorhanden ist. Die Sicherung sozialer Grundrechte in Europa ist ein gemeinsames Anliegen der Sozialpartner und der Politik. Parallel zu diesem Vorgehen kann man in vielen Teilen des Aktionsprogramms vorankommen, das von der EG-Kommission nunmehr vorgelegt wurde.
Damit ist aber das Haupthandlungsfeld noch lange nicht erschöpft. Angesichts der Freizügigkeit werden Abgrenzungen bei der Inanspruchnahme sozialer Sicherungssysteme immer dringender. Das Stichwort heißt hier „Sozialtourismus". Bisher gibt es keine Anzeichen, daß die Tatsache besserer Sozialleistungen in einzelnen Ländern zu Wanderbewegungen in der EG geführt hat. Was es aber gibt, sind Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes, in denen bereits bestehende Normen ausgelegt werden — und in der Regel extensiv. Ich erinnere an den Fall des Italieners Salzano, in dem es um die Kindergeldfrage geht. Sozialpolitische Entscheidungen sind deswegen eilig, weil der sozialpolitische Handlungsspielraum auf europäischer Ebene durch die Politik und nicht durch die Gerichte abgegrenzt werden muß.
Ich mache darauf aufmerksam, daß auch eine Überdehnung der Auslegung für Mehrheitsentscheidungen zu unliebsamen Ergebnissen führen kann. So etwas wird nämlich nur im Wege von stark interpretierbaren Kompromissen möglich sein und anschließend die Gerichte beschäftigen. Deswegen ist es wahrscheinlich besser, in manchen Fällen keine Regelung auf europäischer Ebene zu finden, als eine Regelung zu haben, die sehr unklar ist. Daher bitten wir die Bundesregierung, gerade in diesem Bereich weitere Abklärungen vorzunehmen und dafür Sorge zu tragen, daß ungerechtfertigter Sozialleistungsexport von vornherein unterbleibt.
Damit meine ich nicht das Thema Rentenbezug. Dieser ist unstreitig. Klärungen sind aber beispielsweise beim Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung
erforderlich. Wenn ein in Deutschland arbeitender Portugiese als Arbeitsloser in sein Heimatland zurückkehrt und dort die Leistungen bekommen könnte, die er hier als Arbeitsloser bekommt, dann würde es sich für ihn mehr lohnen, nicht zu arbeiten, als der Arbeit nachzugehen.
Es ist zwar richtig, daß der Arbeitslose seinen Beitrag entrichtet hat, entscheidend ist aber wohl, daß er für den hiesigen Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung steht. Es muß sichergestellt werden, daß dies auch künftig entscheidend bleibt und nicht durch andere Auslegungen europäisiert wird. Die Träger der Sozialhilfe würden sehr schnell die Begeisterung für Europa verlieren, wenn die Sozialhilfe nicht von bestimmten Voraussetzungen — wie z. B. der Dauer des Aufenthalts im Lande — abhängig bleibt.
Ähnliche Klärungen müssen auch im Krankenversicherungswesen erfolgen. In parlamentarischen Initiativen wurden in den vergangenen Monaten die Fakten aufgearbeitet und der Ist-Zustand beschrieben. Nun gilt es, die notwendigen Klärungen vorzunehmen. Dies ist im übrigen auch der Grund dafür, warum die CDU/CSU immer herausgestellt hat, daß es sich hier um die Rechte der Wanderarbeitnehmer handelt, und warum sie nicht etwa den Begriff „europäischer Bürger" verwendet hat. Diese Haltung ist sehr wohl zu begründen, denn es ist keine Diskriminierung, wenn EG-Ausländern der Zugang zu den Solidargemeinschaften nur unter der Voraussetzung gestattet wird, daß damit nicht nur Ansprüche auf Leistungen erworben, sondern auch Verpflichtungen zu ihrer Finanzierung übernommen werden.
Ich möchte einen weiteren, in engem Zusammenhang mit der Sozialpolitik stehenden Punkt ansprechen, der zunehmend auf Interesse stößt und besorgt macht. Es entstehen zunehmend Sorgen wegen des Einsatzes von Arbeitnehmern mit niedrigen Lohnkosten in Ländern mit hohen Lohnkosten. Es liegt auf der Hand, daß dadurch tatsächlich ein soziales Dumping neuer Art, eine Zwei-Klassen-Arbeitnehmerschaft, ja ein geteilter Arbeits- und Sozialmarkt entstehen könnten.
Wenn sich die Bundesregierung hier eindeutig erklärt und darlegt, was sie getan hat, dann ist dies voll zu unterstützen. Es muß sichergestellt sein, daß die Arbeitsregelungen des Produktionsorts und nicht die des Heimatlandes gelten.
Meine Damen und Herren, mit dieser Skizzierung der eigentlichen Handlungsfelder möchte ich auch zum Ausdruck bringen, daß wir alles andere als eine Europäisierung der gesamten Sozialpolitik brauchen und daß wir auch nicht alles normieren und regeln müssen. Nationale Instrumentarien, die sich bewährt haben — ich nenne die Tarifpolitik — , sollen erhalten bleiben. Erinnern wir uns an die Entwicklung in unserem eigenen Land. Die SPD ist der Marktwirtschaft einstmals mit großer Skepsis begegnet.
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Aber die Marktwirtschaft schuf die Voraussetzung für unser heutiges Sozialniveau. Auch damals wurde nicht alles sofort gesetzlich geregelt, aber es hat sich dank der Vernunft der Sozialpartner und der Politik alles zum Guten entwickelt. Eine solche Chance haben wir auch in Europa, wenn wir die europäischen Fragen auf dem Pfad der Sozialen Marktwirtschaft gestalten.