Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion möchte diese Europadebatte gerne nutzen, um die Ergebnisse des europäischen Gipfels in Straßburg kritisch zu bewerten; denn es ist eigentlich merkwürdig, daß wir zu diesem Gipfel von seiten der Bundesregierung in diesen Tagen keine Regierungserklärung erleben.
— Ja.
Die Staats- und Regierungschefs haben beim europäischen Gipfel in Straßburg festgestellt, daß das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten in den Prozeß des Zusammenwachsens Europas eingebettet sein müsse, und zwar sowohl in bezug auf die Europäische Gemeinschaft als auch in bezug auf die gesamteuropäische Sicherheitszusammenarbeit. Damit hat der Europäische Rat eindeutig auf den wahltaktisch bedingten Alleingang des Bundeskanzlers und seine unklare Haltung zur polnischen Westgrenze geantwortet, die bei unseren Nachbarn im Westen wie im Osten Mißverständnisse und Mißtrauen ausgelöst haben. Ich sage ganz klar an dieser Stelle: Derartige Alleingänge schaden der Sache aller Deutschen.
Noch mehr schadet der Sache aller Deutschen, wer immer noch Unklarheit in der Frage der polnischen Westgrenze zuläßt. Wer sich in dieser Frage nicht klar die Entscheidung des Deutschen Bundestages zu eigen macht, mit der die bestehende polnische Westgrenze anerkannt wird, der schürt Ängste vor einer großdeutschen Restauration.
Es ist schon schlimm genug, liebe Kolleginnen und Kollegen — da bitte ich insbesondere diejenigen, die von seiten der CDU/CSU-Fraktion präsent sind, genau zuzuhören — , daß die deutsche Bundesregierung gestern — gestern, betone ich — vom Europäischen Parlament mit folgender Passage aufgefordert werden mußte, endlich unzweideutig die polnische Westgrenze anzuerkennen:
Der Beschluß des Europäischen Parlaments, den ich hier zitiere, lautet folgendermaßen:
Das Europäische Parlament ist der Auffassung, daß die Respektierung der Grenzen, wie sie aus der Gebietsregelung nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen sind, insbesondere der Oder-Neiße-Grenze, einen grundlegenden Aspekt der europäischen Sicherheit darstellt. Das Europäische Parlament appelliert an die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, diese Grenzen unverzüglich und unzweideutig anzuerkennen und nicht das Schreckgespenst eines Deutschlands, das seine Grenzen von 1937 fordert, heraufzubeschwören.
Dem ist nichts hinzuzufügen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Eine verantwortliche deutsche Bundesregierung darf aber auch nicht den leisesten Zweifel aufkommen lassen, daß sie die Fragen des engen Zusammenwachsens der beiden deutschen Staaten nicht mit den europäischen Nachbarn abstimmen wolle. Äußerungen wie die von CDU-Generalsekretär Rühe, wir brauchten uns mit unseren europäischen Nachbarn nicht abzustimmen, machen deutlich, daß hier nicht für die Zukunft Deutschlands und Europas vorgeplant wird, sondern für den heimischen Vorwahlkampf am rechten Rande. Diese Äußerungen sind im übrigen auch sachlich falsch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen alle sehr genau: Daß das Schengener Abkommen, das die Freizügigkeit zwischen mehreren EG-Mitgliedsstaaten vorsah, faktisch gescheitert ist, hängt doch damit zusammen, daß unsere Nachbarn z. B. Sorge haben, daß die gewonnene neue Freizügigkeit von Deutschen aus der DDR bedeuten könnte, daß es mehr Freizügigkeit auch in ihren Ländern von seiten dieser Bürger aus der DDR geben könnte. Da wird doch sehr deutlich, daß Abstimmung auch im Interesse der Deutschen aus der DDR dringend notwendig ist.
Im übrigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat die deutsche Geschichte schmerzhaft gezeigt, daß alle diejenigen, die Deutschland über alles und damit über alle seine Nachbarn setzen wollten, unserem Land unermeßlichen Schaden zugefügt haben.
Die deutsche Geschichte hat gezeigt, daß nur der ein wirklicher Patriot ist, der mit seinen Nachbarn in Ost und West friedliches Zusammenleben praktiziert, weil er nur damit seinem eigenen Volk am besten nutzt.
Wenn also die Pläne zum deutsch-deutschen Zusammenwachsen ernst gemeint sind, dann müssen sie in den Prozeß europäischer Integration eingefügt sein. Nur eine starke Europäische Gemeinschaft kann einen starken Beitrag zum Aufbau des neuen Europa leisten; nur eine starke Europäische Gemeinschaft hat überhaupt die wirtschaftliche und politische Kraft, den Reformländern in Osteuropa und der DDR wirksam Unterstützung zu leisten.
Diesem Prozeß der Stärkung der europäischen Integration und der Vertiefung hat die Beschlußfassung zur Charta sozialer Grundrechte von seiten des Europäischen Rates in keiner Weise Rechnung getragen. Die jetzt beschlossene Erklärung ist eine bloße Absichtserklärung zu elft. Auch hier empfehle ich den Kollegen, die angetreten sind, sie zu verteidigen, sich die Beschlußfassung des Europäischen Parlamentes einschließlich der christdemokratischen Fraktion von gestern anzusehen.
Die Erklärung zur Charta sozialer Grundrechte entspricht nicht der notwendigen und erwarteten europäischen Sozialverfassung. Wir müssen sagen, daß die Bundesregierung im stillen Kämmerlein des Rates
14290 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Dezember 1989
Frau Wieczorek-Zeul
und in trauter Zusammenarbeit mit der englischen Regierung dazu beigetragen hat, aus dem notwendigen europäischen Soziallöwen mit Biß einen dürftigen, zahnlosen Papiertiger zu machen. Es fehlt der ursprünglich vorgeschlagene Zeitrahmen; denn die europäische soziale Dimension soll ja zusammen mit dem Binnenmarkt verwirklicht werden. Es fehlt der Hinweis auf rechtsverbindliche, auch kollektive Rechte, die Bürgerinnen und Bürger vor dem Europäischen Gerichtshof einklagen könnten. Hier rächt sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß europäische Entscheidungen in den Ministerräten weitgehend nichtöffentlich und parlamentarisch unkontrolliert erfolgen. Ich möchte sagen: Wir können von den osteuropäischen Ländern schlecht mehr parlamentarische Demokratie verlangen, wenn wir gleichzeitig einen EG-Gesetzgebungsprozeß zulassen, der mittlerweile nicht einmal den Standards entspricht, die für den Obersten Sowjet gelten.
Am Prozeß verstärkter europäischer Integration führt kein Weg vorbei. Die Europäische Gemeinschaft hat die Konsequenzen aus den schrecklichen Kriegen zwischen den Nationalstaaten gezogen, die Europa zweimal verwüsteten. Wir wollen beim Zusammenwachsen Deutschlands und Europas nicht zurück in das Zeitalter der Nationalstaaten. Nicht umsonst haben die Männer und Frauen des Widerstands gegen Faschismus und Nationalismus in ihren Überlegungen der damaligen Zeit sich für ein föderatives Europa engagiert, in dem die Nationalstaaten bestimmte nationale Zuständigkeiten freiwillig abgeben sollten, so daß für alle künftige Zeit ein friedliches Zusammenleben der Nationen organisatorisch quasi gesichert würde. Ich erinnere an das Manifest der Verbannten von Ventotene; das waren die Widerständler aus Italien, die während des Mussolini-Regimes dorthin verbannt worden sind. Sie haben in ihrem Manifest ein Europa vorgedacht, das die Nationalstaaten überwindet.
Ich erinnere an Carlo Mierendorff, der formuliert hat, daß Europa eine Organisation aus überstaatlichem Denken braucht, das die Überwindung jenes Nationalstaatenwahns notwendig und möglich macht, an deren Forcierung die europäischen Völker heute zugrunde zu gehen drohen.
Ich erinnere an Carl Goerdeler, ich erinnere an Helmuth von Moltke und das Arbeitspapier des Kreisauer Kreises, in dem das gleiche zum Ausdruck gebracht worden ist.
Der Weg zurück zum Nationalstaat wäre im übrigen eine Sackgasse; denn wirtschaftspolitisch oder gar umweltpolitisch ist heute kein Nationalstaat mehr souverän. Wir wollen vielmehr nach vorn in ein Europa, in dem die Völker ihre Kräfte nicht gegeneinander richten, sondern in dem sie sich gemeinsam zusammenfinden, um die großen Menschheitsaufgaben wie Bekämpfung des Hungers und Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen zu ihren zentralen Aufgaben zu machen.