Rede von
Richard
Stücklen
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt.
1. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Auskunfts- und Aktenvorlagepflicht sowie Antwortpflicht der Bundesregierung gegenüber den Abgeordneten des Deutschen Bundestages — Drucksache 11/6020 -
2. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages hier: § 69 Nichtöffentliche Ausschuflsitzungen — Drucksache 11/6021 -
3. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages hier: § 35 Rededauer — Drucksache 11/6022 -
4. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Änderung der Geschäftsordnung
hier: § 57 Mitgliederzahl der Ausschüsse — Drucksache 11/6023 -
5. Beratung des Antrags des Abgeordneten Häfner und der Fraktion DIE GRÜNEN: Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
hier: Einfügung eines § 86a „Sondersitzungen" — Drucksache 11/6024 -
6. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages hier: § 104 Kleine Anfragen — Drucksache 11/6025 -
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Häfner, Dr. Lippelt , Frau Oesterle-Schwerin, Frau Dr, Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN: Reform des Parlaments und der politischen Willensbildung — Drucksache 11/6046 —
Als weiterer Zusatzpunkt soll der Antrag der Fraktion der SPD zur Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages auf Drucksache 11/6071 auf die Tagesordnung gesetzt und mit Tagesordnungspunkt 4 beraten werden. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Überweisung im vereinfachten Verfahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Weiss , Frau Rock und der Fraktion DIE GRÜNEN
Herabstufung von Bundesfernstraßen entsprechend der Bundesrechnungshofkritik
— Drucksache 11/4414 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Unterhaltssicherungsgesetzes und anderer wehrrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 11/6030 —
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus auch damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4, die Zusatztagesordnungspunkte 1 bis 7 sowie den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6071 auf:
4. a) Beratung der Unterrichtung durch die Präsidentin des Deutschen Bundestages
über Beratungen des Ältestenrates zur Erprobung geänderter Verfahren
— Drucksache 11/5999 —
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
zu dem Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN
zu Nummer 1 des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP — Weitergeltung von Geschäftsordnungen - — Drucksache 11/5 —
zu dem Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN
zu Nummer 1 des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP — Weitergeltung von Geschäftsordnungen - — Drucksache 11/6 —
14194 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 184. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Dezember 1989
Vizepräsident Stücklen
zu dem Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN
zu Nummer 1 des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP — Weitergeltung von Geschäftsordnungen —— Drucksache 11/9 —
zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher, Dr. Biedenkopf, Frau Dr. Hartenstein, Dr. Mechtersheimer, Frau Adler, Dr. Ahrens, Bamberg, Bernrath, Bindig, Dr. Daniels , Frau Eid, Frau Faße, Frau Fischer, Frau Flinner, Frau Folz-Steinakker, Frau Ganseforth, Dr. Glotz, Frau Dr. Götte, Graf, Gries, Großmann, Grünbeck, Dr. Grünewald, Häfner, Frau Hämmerle, Freiherr Heereman von Zuydtwyck, Heyenn, Hiller (Lübeck), Dr. Hirsch, Hoss, Ibrügger, Irmer, Frau Kelly, Dr. Knabe, Kolbow, Koschnick, Krey, Kuhlwein, Lambinus, Leidinger, Lennartz, Dr. Lippelt (Hannover), Lutz, Dr. Mahlo, Frau Dr. Martiny, Dr. Mertens (Bottrop), Müller (Pleisweiler), Pauli, Peter (Kassel), Rauen, Rixe, Frau Rust, Frau Saibold, Frau Schmidt (Nürnberg), Schmidt (Salzgitter), Dr. Schöfberger, Schröer (Mülheim), Frau Dr. Segall, Frau Simonis, Dr. Soell, Frau Terborg, Toetemeyer, Frau Unruh, Frau Dr. Vollmer, Graf von Waldburg-Zeil, Waltemathe, Frau Weiler, Weirich, Dr. Wieczorek, Frau Will-Feld, Frau Würfel
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
hier: §§ 20, 42, 56, 57, 61, 62, 68, 69, 75, 80, 100, 104, 106a , 122a (neu), Anlage 4
zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher, Dr. Biedenkopf, Frau Dr. Hartenstein, Dr. Mechtersheimer, Frau Adler, Dr. Ahrens, Bamberg, Bernrath, Bindig, Dr. Daniels , Frau Eid, Frau Faße, Frau Fischer, Frau Flinner, Frau Folz-Steinakker, Frau Ganseforth, Dr. Glotz, Frau Dr. Götte, Graf, Gries, Großmann, Grünbeck, Dr. Grünewald, Häfner, Frau Hämmerle, Freiherr Heereman von Zuydtwyck, Heyenn, Hiller (Lübeck), Dr. Hirsch, Hoss, Ibrügger, Irmer, Frau Kelly, Dr. Knabe, Kolbow, Koschnick, Kuhlwein, Lambinus, Leidinger, Lennartz, Dr. Lippelt (Hannover), Lüder, Lutz, Dr. Mahlo, Frau Dr. Martiny, Dr. Mertens (Bottrop), Müller (Pleisweiler), Pauli, Peter (Kassel), Rauen, Rixe, Frau Rust, Frau Saibold, Frau Schmidt (Nürnberg), Schmidt (Salzgitter), Dr. Schöfberger, Schröer (Mülheim), Frau Dr. Segall, Frau Simonis, Dr. Soell, Dr. Solms, Frau Terborg, Toetemeyer, Frau Unruh, Frau Dr. Vollmer, Graf von Waldburg-Zeil, Waltemathe, Frau Weiler, Weirich, Dr. Wieczorek, Frau Will-Feld, Frau Würfel
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
hier: §§ 6, 13, 30, 32, 69, 78, 127
zu dem Antrag der Abgeordneten Frau
Dr. Hamm-Brücher, Dr. Biedenkopf, Frau
Dr. Hartenstein, Dr. Mechtersheimer, Frau Adler, Dr. Ahrens, Bamberg, Bernrath, Bindig, Dr. Daniels , Frau Eid, Frau Faße, Frau Fischer, Frau Flinner, Frau Folz-Steinakker, Frau Ganseforth, Dr. Glotz, Frau Dr. Götte, Graf, Gries, Großmann, Grünbeck, Dr. Grünewald, Häfner, Frau Hämmerle, Freiherr Heereman von Zuydtwyck, Heyenn, Hiller (Lübeck), Dr. Hirsch, Hoss, Ibrügger, Irmer, Frau Kelly, Dr. Knabe, Kolbow, Koschnick, Krey, Kuhlwein, Lambinus, Leidinger, Lennartz, Dr. Lippelt (Hannover), Lüder, Lutz, Dr. Mahlo, Frau Dr. Martiny, Dr. Mertens (Bottrop), Müller (Pleisweiler), Dr. Niese, Pauli, Peter (Kassel), Rauen, Rixe, Frau Rust, Frau Saibold, Frau Schmidt (Nürnberg), Schmidt (Salzgitter), Dr. Schöfberger, Schröer (Mülheim), Frau Dr. Segall, Frau Simonis, Dr. Soell, Dr. Solms, Frau Terborg, Toetemeyer, Frau Unruh, Frau Dr. Vollmer, Graf von Waldburg-Zeil, Waltemathe, Frau Weiler, Weirich, Dr. Wieczorek, Frau Will-Feld, Frau Würfel
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
hier: Umstellung der Kapitel I bis V und Änderung der Kapitel VI und VIII
— Drucksachen 11/5, 11/6, 11/9, 11/2206,
11/2208, 11/2209, 11/5962 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Buschbom Wiefelspütz
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher, Frau Adler, Dr. Ahrens, Baum, Frau Becker-Inglau, Börnsen (Bönstrup), Frau Eid, Eylmann, Funke, Frau Ganseforth, Frau Garbe, Graf, Frau Hämmerle, Frau Dr. Hartenstein, Dr. Hauchler, Heimann, Dr. Hornhues, Irmer, Frau Kelly, Kißlinger, Koltzsch, Koschnick, Kühbacher, Leidinger, Lennartz, Frau Matthäus-Maier, Dr. Mechtersheimer, Dr. Mertens (Bottrop), Neumann (Bremen), Frau Nickels, Frau Dr. Niehuis, Dr. Niese, Frau Odendahl, Paintner, Reimann, Rind, Frau Rust, Frau Saibold, Frau Schmidt (Nürnberg), Dr. Schöfberger, Schröer (Mülheim), Schwarz, Seesing, Sielaff, Frau Simonis, Dr. Soell, Frau Terborg, Toetemeyer, Frau Unruh, Verheugen, Volmer, Graf von Waldburg-Zeil, Wiefelspütz, von der Wiesche, Frau Wollny, Würtz
Wiedereinsetzung der Ad-hoc-Kommission Parlamentsreform
— Drucksachen 11/245, 11/1195 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Lammert Wiefelspütz
ZP1 Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Auskunfts- und Aktenvorlagepflicht sowie
Antwortpflicht der Bundesregierung gegen-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 184. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Dezember 1989 14195
Vizepräsident Stücklen
über den Abgeordneten des Deutschen Bundestages
— Drucksache 11/6020 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
ZP2 Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
hier: j 69 Nichtöffentliche Ausschußsitzungen
— Drucksache 11/6021 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
ZP3 Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
hier: § 35 Rededauer
— Drucksache 11/6022 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
ZP4 Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Änderung der Geschäftsordnung
hier: § 57 Mitgliederzahl der Ausschüsse
— Drucksache 11/6023 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Häfner und der Fraktion DIE GRÜNEN
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
hier: Einfügung eines § 86a „Sondersitzungen"
— Drucksache 11/6024 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
ZP6 Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
hier: § 104 Kleine Anfragen
— Drucksache 11/6025 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Häfner, Dr. Lippelt , Frau Oesterle-Schwerin, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Reform des Parlaments und der politischen Willensbildung
— Drucksache 11/6046 — Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
— Drucksache 11/6071 —
Zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung liegen Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN, der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher, des Abgeordneten Wüppesahl, der Abgeordneten Porzner, Buschbom, Wiefelspütz, der Fraktion der FDP sowie ein Entschließungsantrag der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher und weiterer Abgeordneter vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gesamte Beratung eine Aussprache von dreieinhalb Stunden vorgesehen. Die Beratung wird durch einführende Beiträge eröffnet. Weiterhin ist vereinbart worden, daß die danach folgenden Redebeiträge nicht länger als fünf Minuten dauern sollen, um möglichst vielen Abgeordneten Wortmeldungen zu ermöglichen. Die Redezeitverteilung soll sich insgesamt an den Fraktionsstärken orientieren. Änderungs- und Entschließungsanträge sind, wie üblich, im Rahmen der jeweiligen Redebeiträge zu begründen. Die Abstimmungen finden ungefähr um 12.30 Uhr statt. — Ich sehe, daß das Haus damit einverstanden ist. Dann ist es so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich erteile das Wort zur Einführung der Frau Präsidentin des Deutschen Bundestages, Professor Süssmuth. Bitte sehr!
Frau Dr. Süssmuth, Präsidentin des Deutschen Bundestages: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit der heutigen Debatte sollen die Ergebnisse einer jahrelangen, oft mühsamen Arbeit erörtert werden. Von der Selbstverständnisdebatte des Jahres 1984 bis heute spannt sich ein Bogen teils geduldiger, teils ungeduldiger Bemühungen um Arbeitsweise und Ansehen unseres Parlaments. Was die einen leidenschaftlich erstritten, das haben andere bisweilen humorvoll, bisweilen ärgerlich erlitten.
Auch heute geht es um die Verbesserung unserer parlamentarischen Arbeit, nicht um eine Parlamentsreform.
Wir sind Zeuge einer großen Freiheitsbewegung in Osteuropa. Wir erleben einen demokratischen Aufbruch. Das Ziel ist ein freiheitlicher Rechtsstaat, eine parlamentarische Demokratie. Dort vollzieht sich der Volkswille gegenwärtig noch außerhalb des Parlaments, weil er innerhalb des Parlaments noch keine Stimme hat. Die Erwartungen und Hoffnungen der Menschen richten sich auf frei gewählte Parlamente.
Wissen Sie, was in diesem Jahr am häufigsten aus den Staaten Osteuropas, aus Polen, Ungarn, den Sowjetrepubliken, und jetzt von den oppositionellen Reformgruppen aus der DDR von uns angefordert wor-
14196 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 184. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Dezember 1989
Präsidentin Frau Dr. Süssmuth
den ist, von uns, dem Deutschen Bundestag? Die Geschäftsordnung und das Handbuch des Deutschen Bundestages. Immer wieder wird uns gesagt: Wir wollen unsere Arbeitsweise und unsere Grundordnung an den Verfahrensweisen des Deutschen Bundestages orientieren.
Das ist Anerkennung und Verpflichtung zugleich. Deshalb tun wir gut daran, unser eigenes Regelwerk ständig weiterzuentwickeln und zu verbessern.
Ich denke, beim Aufbruch zu Parlamenten Osteuropas ist uns heute aber auch ein wichtiges Anliegen, neben den Verbesserungsvorschlägen für die eigene parlamentarische Arbeit nicht außer acht zu lassen, daß wir in der Europäischen Gemeinschaft ein Parlament mit vollen demokratischen Rechten wollen, nicht ein Europa der Regierungen, sondern ein parlamentarisches Europa.
Meine Damen und Herren, es wäre nun allzu einfach, unseren Anstrengungen um eine lebendige parlamentarische Demokratie die umwälzenden Ereignisse in der DDR und in Osteuropa gegenüberzustellen und daraus das Gefühl abzuleiten, als hätten wir uns in den letzten Jahren im Gegensatz zu den Menschen dort mit Kleinigkeiten, mit Geringfügigem befaßt.
Das Verhältnis zwischen unseren Bemühungen und den Entwicklungsbemühungen dort ist ein anderes. Was in der DDR erstrebt wird, bestätigt uns den Rang dessen, was wir besitzen. Es macht uns auch — so hoffe ich — erneut aufmerksam darauf, wie wenig selbstverständlich politische und gesellschaftliche Freiheit ist. „Die Freiheit ist ein Segel" — so sagt Hans Kasper — „prall im Sturm der Sehnsucht, schlaff in der Windstille der Gewohnheit."
In der Demokratie ist es Aufgabe des Parlaments, das Segel unter Wind zu halten. Ohne diesen Antrieb hätte der Parlamentarismus seine Anziehungskraft längst verloren. Er gewinnt diese Anziehungskraft auch dadurch, daß seine Institutionen und Regeln immer wieder kritisch hinterfragt, angepaßt und weiterentwickelt werden. Dieser Anpassung und Weiterentwicklung dienen die Bemühungen, die wir heute debattieren.
Natürlich ist es immer schwieriger, eine an sich für gut befundene Geschäftsordnung stetig zu verbessern. In mancher Hinsicht ist es schwieriger, vielleicht auch weniger begeisternd und quälender, als eine schlechte Sache durch eine bessere zu ersetzen. Aber wir sollten uns auch einer zentralen Wahrheit nicht verschließen. Geschäftsordnungen bilden den Rahmen, die Grundlage für ein starkes Parlament; ausfüllen müssen wir sie selbst.
Ein Parlament steht und fällt mit starken Parlamentariern und Parlamentarierinnen. Es kommt auf wirklich gute Persönlichkeiten an.
Hinter den vielen Erörterungen und Vorschlägen seit 1984 standen immer sehr grundsätzliche Ziele und Absichten. Zum einen standen Stellung und Rang des Bundestages gegenüber der Regierung, gegenüber anderen Staatsorganen und gegenüber der Öffentlichkeit im Mittelpunkt. Ich erinnere an die Selbstverständnisdebatte von 1984.
Zum anderen haben uns die Eigenständigkeit und die Rolle des einzelnen Abgeordneten und die Frage, wie er sein Mandat in seiner Fraktion, gegenüber seinen Wählern und in der Parlamentspraxis verantwortlich ausüben kann, beschäftigt.
Daneben ging es stets auch darum, wie der Bundestag als Ganzes seine Arbeit besser strukturiert, Prioritäten setzt und aktuellen Anforderungen besser gerecht werden kann. Ich danke allen, die in den letzten Jahren dazu beigetragen haben, das Regelwerk unserer Geschäftsordnung sinnvoll weiterzuentwickeln. Ich danke den Fraktionen, dem Geschäftsordnungsausschuß und seinem Vorsitzenden, dem Ältestenrat, aber auch den Personen und gerade unseren Abgeordneten außerhalb dieser Gremien in den Initiativgruppen. Sie alle miteinander haben viel Zeit aufgewandt, um diese Arbeit voranzubringen.
Dabei spielten stets zwei Fragen eine entscheidende Rolle: Läßt das Regelwerk genügend Spielraum für Spontaneität und Lebendigkeit,
für nicht Vorgeplantes und für freie Rede? Reichen die Instrumente parlamentarischer Kontrolle der Regierung aus
— ich denke, daß Sie gerade sehr spontan reagiert haben — , und macht das Parlament die Gesetze, die es machen möchte?
Die Bewertung dessen, was nun als vorläufiger Abschluß den Konsens unter den Fraktionen gefunden hat, ist sicherlich sehr unterschiedlich. Wir in der parlamentarischen Arena verhalten uns eben nicht anders als gegnerische Mannschaften in der sportlichen. Was dem einen als sportliche Härte gilt, bedeutet für den anderen ein klares Foul.
Die Bürde der amtierenden Präsidenten liegt darin, daß sich die Mannschaften bei Niederlagen stets in einem einig sind: Der Schiedsrichter war schuld.
Um meiner Schiedsrichterfunktion gerecht zu werden, habe ich zu unserer heutigen Debatte nicht nur die Ihnen vorliegenden Drucksachen, sondern auch eine Zusammenstellung von Materialien der Initiative „Parlamentsreform" verteilen lassen. Änderungen unserer parlamentarischen, demokratischen Verfahren können langfristig nur funktionieren, wenn sie im Konsens entwickelt und getragen werden.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 184. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. Dezember 1989 14197
Präsidentin Frau Dr. Süssmuth
Weder dürfen sie von der Mehrheit der Minderheit aufgezwungen noch können sie von der Minderheit gegen die Mehrheit durchgesetzt werden.
Hier erwähne ich noch einmal das Bundesverfassungsgericht, das in diesem Jahr in einem Organstreit bestätigt hat, daß der Deutsche Bundestag in dieser besonnenen Handhabung und Entwicklung seiner Geschäftsordnung über vier Jahrzehnte hinweg gut gefahren ist.
Konsensbildung ist ein mühsamer, aber ein unbedingt notwendiger Prozeß. Der Bewältigung der veränderten Anforderungen und Schwerpunkte dienen wichtige Vorschläge, die zu der Unterrichtung am heutigen Vormittag gehören. Erstens. Wir wollen mit unserer parlamentarischen Arbeit den Rang des Bundestages als oberstes und einziges unmittelbar vom Volk gewähltes Verfassungsorgan verdeutlichen. Dem dient auch die Befragung der Bundesregierung zu den Ergebnissen ihrer Kabinettssitzungen.
Zweitens. Wir wollen unsere Debatten lebendiger gestalten und Platz für Spontaneität schaffen. Dem dienen die Flexibilisierung der Redeordnung und die Einführung von Kurzinterventionen während und am Schluß von Debattenbeiträgen.
Drittens. Wir wollen das Plenum von Routinedebatten entlasten,
um Grundsatzdebatten führen und auf das aktuelle Tagesgeschehen eingehen zu können. Zu dieser Entlastung müssen wir allerdings alle beitragen.
Diesem Ziel dienen u. a. das Verfahren der vereinfachten Überweisung von Vorlagen und die Aufforderung an die Ausschüsse, in der Schlußphase der Beratungen häufiger öffentliche Sitzungen durchzuführen.
Diese Ziele werden wir nur dann erreichen, wenn wir die zur Erprobung vorgeschlagenen Möglichkeiten auch nutzen. Das sage ich auch mit Blick auf die in der Erprobung befindliche Regierungsbefragung. Es liegt an beiden Seiten, ob sie zu einem gelungenen Instrument der parlamentarischen Kontrolle und der Zusammenarbeit wird. Fragen haben es in sich, wenn sie gut gestellt sind. Aber das sollen sie auch.
— Die Antworten auf die Fragen sind eine ebenso hohe Kunst wie die Fragestellung. — Unwichtig ist es übrigens auch nicht, wie wir dann praktisch damit umgehen und wie wir hier in aller Öffentlichkeit überhaupt miteinander umgehen. Denken wir daran, daß wir Parlamentarier jetzt noch aufmerksamer beobachtet werden als bisher schon. Die Briefe, Anrufe und Gespräche, die uns in Reaktion auf Fernseh- und Rundfunkübertragungen unserer Debatten erreichen, zeigen zur Zeit einen besonderen Akzent. Die Bürger messen uns verstärkt daran, wie wir als freies Parlament auf die aktuellen Entwicklungen hin zu Freiheit und Parlamentarismus eingehen, und zwar keineswegs nur in der Sache, sondern auch im Stil. Wenn wir uns mit aller gebotenen Zurückhaltung angesichts der Entwicklung in Mittel- und Osteuropa auch ein wenig das Verdienst zuschreiben wollen, daß unsere Institutionen dort Entwurf und Vorbild sind, dann müssen wir uns auch entsprechend verhalten.
Meine Damen und Herren, ich wünsche mir heute eine lebhafte Debatte. In dieser wird es viel Kritik und neue Anregungen geben. Ich sage schon jetzt: Was Sie heute vorschlagen, müssen wir gemeinsam umsetzen; das kann keiner allein. Aber vergessen wir bei dem vielen Neuen nicht die bestehenden Möglichkeiten. Dabei danke ich zugleich allen, die die Geschäftsordnung in guter Kenntnis nutzen. Ich danke aber auch allen, die sie nicht überstrapazieren, denn wenn alle Möglichkeiten der bestehenden Geschäftsordnung genutzt würden, würden wir hier sehr viele Sitzungen mehr haben und manchmal ein mittleres Chaos erleben.
Ich danke Ihnen.