Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine moderne Verkehrspolitik muß es als vorrangige Aufgabe begreifen, eine menschenwürdige Umwelt zu erhalten. Deshalb kommt es nicht nur darauf an, daß Verkehrsträger und Verkehrsunternehmen die notwendigen Beförderungs- und Transportaufgaben ökonomisch sinnvoll wahrnehmen, sondern sie müssen diese Aufgabe auch menschen- und umweltgerecht erbringen. Die Verkehrspolitik hat hierfür die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Dies gelingt schon lange nicht mehr. Die Ergebnisse verschlechtern sich ständig; unser Straßennetz ist überlastet; Mensch und Umwelt ersticken im Verkehr; der Verkehrsinfarkt droht, ja, in einigen Städten ist er bereits eingetreten.
Auch mit ihrer Eisenbahnpolitik ist die Bundesrepublik am Ende. Die Krisensitzung des Bahnvorstands Ende August zur Lage der Bundesbahn hat dies noch einmal bestätigt. Während ich bei früheren Bahndebatten immer Mitglieder des Vorstands auf der Zuschauertribüne gesehen habe, erkenne ich heute niemanden.
— Wunderbar, es ist doch einer da!
Das finde ich großartig. Ich hatte ihn nicht erkannt. Das ist in Ordnung.
Wer die Zahl der mit der Bahn beförderten Gütermengen mit der Zahl der beförderten Personen vergleicht, stellt folgendes fest: 1975 wurden 315 Millionen Tonnen Güter auf der Schiene transportiert, 1988 noch 302 Millionen Tonnen oder 9,5 % der gesamten Beförderungsmenge. 1980 wurden immerhin noch 364 Millionen Tonnen befördert. In Tonnenkilometern waren es 1975 55,3 Millionen oder 26 % und 1988 59,9 Millionen, aber nur noch 21,9 % der gesamten zu befördernden Gütermenge.
Die Zahl der beförderten Personen stieg von 1 054 Millionen im Jahre 1975 auf 1 165 Millionen im Jahre 1980, und sie fiel dann auf 1 088 Millionen Personen im Jahre 1988 zurück. Die eigenwirtschaftliche Unterdeckung hat seit 1986 erneut drastisch zugenommen.
Aus diesen wenigen Zahlen geht hervor, daß die Bahnleitlinien dieser Bundesregierung gescheitert sind. Sie haben der Bundesbahn nicht die notwendigen Hilfen gewährt.
Diese Entwicklung ist nicht aus heiterem Himmel gekommen, sondern war vorhersehbar. Deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion die Anträge Drucksachen 11/1516, 11/1519, 11/2412 und 11/3770 sowie weitere, zu denen andere Kollegen Stellung nehmen werden, eingebracht. In den vier Anträgen, zu denen ich hier spreche, geht es um vier wichtige Elemente einer Bahnpolitik, die dem Unternehmen Bundesbahn eine faire Chance im Wettbewerb geben und den Bediensteten die Motivation vermitteln würden, die von erfolgreich am Markt operierenden Betrieben ausgeht.
Die Festlegungen im Bahngesetz schaffen Sicherheit und befreien die Bahn von den Zufälligkeiten des Bundeshaushalts. Deshalb haben wir gesetzliche Regelungen verlangt und sind nicht zufrieden mit dem, was die Bundesregierung jetzt vorhat.
Worum geht es hier?
Erstens sollte der Bund nach unserer Meinung die Altschulden der Bundesbahn in Höhe von rund 12,6 Milliarden DM nach Maßgabe des Bundeshaushalts jährlich mit rund 500 Millionen DM tilgen; bislang werden die Zinsen bezahlt.
Zweitens. Überhöhte Versorgungslasten sollten vom Bund übernommen werden. Vergleichbare Unternehmen haben im Verhältnis zur Lohn- und Gehaltssumme eine deutlich niedrigere Versorgungsbelastung zu tragen. Das würde den Bahnhaushalt entlasten und Mittel für Investitionen freimachen.
Drittens. Das Bundesbahngesetz wird geändert und legt fest: Die Deutsche Bundesbahn betreibt als gemeinwirtschaftliches Unternehmen der Verkehrswirtschaft insbesondere den Eisenbahnverkehr in der Bundesrepublik Deutschland. Sie erbringt Verkehrsleistungen und damit im Zusammenhang stehende Leistungen im Rahmen der Daseinsvorsorge nach allgemeinen Vorgaben des Bundes und im übrigen nach eigenwirtschaftlichen Grundsätzen. Für Aufgaben oder Leistungen, die vom Verkehrsminister im Einvernehmen mit dem Finanzminister der Bundesbahn übertragen werden und nicht kostendeckend erbracht werden können, übernimmt der Bund den vollen Ausgleich für die damit verbundenen Mehraufwendungen und Investitionsaufgaben. Dazu zählen vor allem Belastungen aus dem Schienenpersonennahverkehr, aus bestimmten Bevölkerungsgruppen gewährten Fahrpreisermäßigungen, aus der Beförderung von Auszubildenden, aus der Aufrechterhaltung von Schienenstrecken, aus Unterstützungstarifen für Montanverkehre und aus Hilfen für den kombinierten Verkehr.
Viertens. Die Unternehmensverfassung muß an gewandelte wirtschaftliche und soziale Verhältnisse angepaßt werden. Dazu gehört nach unserer Meinung auch die paritätische Mitbestimmung der Arbeitnehmer wie auch ein Aufsichtsrat, in dem zwölf Vertreter aus Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat und zwölf Vertreter der Beschäftigten sowie ein weiteres Mitglied erweiterte Kompetenzen erhalten.
13958 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 181. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1989
Ewen
Ich glaube nicht, daß dies ein Giftzahn ist, Kollege Kohn, sondern hier geht es darum, die berechtigten Interessen der Mitarbeiter und ihr Können im Unternehmen auch für die Unternehmensleitung wirksam werden zu lassen. Dies hat sich in anderen Branchen durchaus bewährt.
Im übrigen sind nach unseren Vorstellungen die Bundesländer an der Finanzierung der Bundesbahn dann zu beteiligen, wenn Strecken auf Wunsch eines Bundeslandes aufrechterhalten werden sollen. Obwohl Herr Minister Zimmermann einzelne Elemente aus unseren Forderungen in seiner Rede aufgenommen hat, fehlt es an konkreten Verbesserungen, und die, die vorgesehen sind, greifen nicht jetzt, sie greifen erst sehr viel später, wenn überhaupt.
Die Neuordnung der Führungsstruktur, wie sie von uns vorgeschlagen wird, scheint auf nachgeordneten Gebieten schon Schatten vorauszuwerfen. Ich frage die Bundesregierung deshalb — ich würde mich freuen,wenn in dieser Sitzung darauf noch eine Antwort kommt — : Ist es richtig, daß Pläne zur Schließung von Bundesbahndirektionen bestehen? Wenn ja: Wann soll das geschehen, und um welche handelt es sich? Gibt es in diesem Zusammenhang, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bereits Abstimmungsgespräche mit den Bundesländern? Wird bedacht, daß möglicherweise die Nähe zu den Bahnkunden verlorengeht, wenn Direktionen geschlossen werden? Und ist das Ziel solcher Überlegungen etwa, wenn es sie gibt, immer mehr Aufgaben auf einzelne Vorstandsressorts zu konzentrieren? Es wäre durchaus interessant, dies zu erfahren.
Was sollten die von uns vorgetragenen Änderungen bewirken? Stellen Sie sich vor, wir hätten heute ein Bundesbahngesetz mit der gesetzlichen Festlegung von Aufgaben und finanziellen Leistungen des Bundes und der Länder verabschiedet. Der Finanzminister stellt zusätzlich erhebliche Mittel bereit, die Bundesbahn kann zügig investieren und akquirieren. Im Jahre 2000 fahren auf den Hauptstrecken Schnellstzüge im Stundentakt und sind durch Interregio- und regionale Eilzüge und durch Busverbindungen in der Fläche, ebenfalls alles „vertaktet", ergänzt. An den Bahnhöfen gibt es Parkplätze in ausreichender Zahl für diejenigen, die auch beim besten Willen den Bahnhof mit dem ÖPNV nicht erreichen können. Alle größeren Entfernungen werden von Geschäftsreisenden ebenso wie von Schülern, von Ferienreisenden wie von Berufspendlern im Zug zurückgelegt. Am Zielbahnhof wird ebenfalls der ÖPNV genutzt oder ein Mietfahrzeug zur Befriedigung der örtlichen Mobilitätsbedürfnisse angemietet. Fremdenverkehrsgebiete sind selbstverständlich auch auf der Schiene leicht erreichbar.
Unsere Straßen sind entlastet, die Umwelt wird weniger belastet, die Zahl der Unfälle verringert sich, und immer mehr Menschen kommen entspannt am Zielort an und haben, wenn sie wollen, die Möglichkeit, aus der Vereinzelung im Auto herauszukommen und im Abteil mit anderen Menschen zu kommunizieren. Der Zugewinn an Lebensqualität ist offensichtlich. Er wird noch größer, wenn es gelingt, den Schienenpersonenverkehr in der EG zu optimieren und
Verbindung mit der DDR und anderen Staaten Osteuropas, deren Schienennetz meistens dichter ist als das Straßennetz, aufzubauen. Ich meine, dafür lohnen sich unsere Anstrengungen.
Sie hingegen, Herr Dr. Zimmermann, lassen eine Kommission drei Jahre lang analysieren, obwohl die Schwerpunkte der Mängel bereits bekannt sind. Wir haben gerade heute in der „DVZ" und anderen Zeitungen darüber lesen können.
Ein anderes Beispiel: Alle Fachleute gehen von einem zunehmenden Güterverkehr innerhalb der einzelnen Staaten und grenzüberschreitend wegen der Arbeitsteilung in der Wirtschaft und wegen des wachsenden Warenaustausches zwischen den Staaten aus. Seeschiffe können einen großen Teil der zu befördernden Mengen sowohl im küstennahen Verkehr in der Ostsee, in der Nordsee, in der Biskaya, im Mittelmeer, in der Ägäis und in der Adria und zwischen den Anrainern dieser Seegebiete befördern. In Italien wird gerade eine solche Küstenlinie erneut aufgebaut, um die Straße zu entlasten.
Auch Binnenschiffe werden ihren Anteil am Transport auf Binnenwasserstraßen leisten müssen.
Aber Fährverbindungen, der Tunnel von England nach Frankreich, Brücken und Tunnel in der Ostsee werden auch den Güterverkehr über Landverbindungen weiter wachsen lassen. Es wäre unverantwortlich, diesen Landverkehr nicht so weit wie möglich auf die Schiene zu ziehen.
Der Lkw hat in der Fläche seine Bedeutung. Aber von den Häfen ins Binnenland oder umgekehrt, vor allem aber von Häfen an der Nord- und Ostsee in den Mittelmeerraum muß die Schiene Verkehrsträger Nummer eins werden.
In der Fläche wird vor Streckenstillegungen geprüft, ob zusätzlicher Lkw-Verkehr den Menschen und der Natur zugemutet werden kann. Eben habe ich von einem Kollegen erfahren, daß eine Bahnstrecke stillgelegt werden soll, auf der jährlich 1 000 Waggons transportiert werden. Das würde bedeuten, daß 1 500 Lkw auf Kreisstraßen umgeleitet werden müßten. Das wäre nach meiner Ansicht unzumutbar.
Investitionen in Eisenbahntunnel, den Waggonpark, in Umschlagsterminals mit zusätzlichen logistischen Leistungsangeboten helfen, die Wettbewerbsfähigkeit der Bahnen in Europa zu erhöhen. Qualifizierte und ausreichend viele Mitarbeiter können der Bahn neues Potential erschließen. Insbesondere die nun wieder offenen Ost-West-Achsen lassen für die Bahnen dann einen neuen Aufschwung erwarten, wenn wir zügig und mit Mut eine Politik formulieren, die dem umwelt- und menschenfreundlichen System Bahn Vorrang einräumt.
Lassen Sie uns die aus einer solchen Politik abgeleiteten Aufgaben zügig finanzieren. Ich bin überzeugt, unsere Kinder und Enkel werden uns dankbar sein.
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, haben es mit Erklärungen aus den Jahren 1977 und 1981 offenbar nicht ganz ernst gemeint. Ich erinnere an Ihre Worte vom 1. Oktober 1981, Herr Dr. Jobst, wo Sie sagten:
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Die Deutsche Bundesbahn muß in die Lage versetzt werden, in erster Linie zu investieren. Sie muß Zukunftsinvestitionen durchführen können.
Die CDU/CSU forderte seinerzeit, „erstens eine klare Abgrenzung der eigenverantwortlichen Unternehmensbereiche und der Bereiche staatlicher Daseinsvorsorge herbeizuführen, zweitens die gemeinwirtschaftlichen Leistungen der Bahn und die daraus resultierenden finanziellen Abgeltungen des Bundes nach Funktion und Verursachung klar bestimmbar im Bundeshaushalt und in der mittelfristigen Finanzplanung auszuweisen" .
All diese Ausführungen aus früheren Jahren konnten mich hoffen lassen, daß es in den Beratungen im Ausschuß gelingen würde, einen gemeinsamen Beschluß herbeizuführen, durch den der Bundesbahn dauerhaft geholfen werden könnte. Weit gefehlt! Die angebotene Gemeinsamkeit wurde nicht genutzt.
Deshalb gilt weiter: Wir brauchen ein Verkehrskonzept, das die einzelnen Verkehrsträger und Verkehrssysteme übergreift und das orientiert ist an den Bedürfnissen der Bürger und der Wirtschaft, den Erfordernissen des Umweltschutzes und der Energieeinsparung, der Bedeutung einer verstärkten Verkehrssicherheit und der Notwendigkeit einer gestaltenden Raumordnungspolitik.
Die Menschen brauchen eine leistungsfähige Bahn. Die Bahn braucht qualifizierte Mitarbeiter in genügender Zahl, gerade auch jetzt angesichts der besonderen Probleme des winterlichen Reise- und Güterverkehrs. Unternehmensleitung und Mitarbeiter brauchen klare gesetzliche Regelungen für ein zukunftsorientiertes Handeln im europäischen Binnenmarkt einerseits und im grenzüberschreitenden Verkehr mit den Staaten östlich der Elbe und des EFTA-Raums andererseits. Dafür werden Sozialdemokraten auch in Zukunft ihre Kraft einsetzen.