Rede von
Michael
Weiss
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90)
Ich halte es für notwendig und richtig, daß eine neue Strecke gebaut wird.
Ich kann Ihnen aber nicht sagen, daß ich mich mit jeder Planung der Bahn und mit jeder Vorgabe, unabhängig davon, wie sie aussieht, identifizieren werde. Ich akzeptiere durchaus, daß eine neue Strecke notwendig ist, ganz einfach deshalb, weil die Kapazität der Rheinstrecken demnächst erschöpft sein wird und wir tatsächlich eine neue Strecke brauchen. Das akzeptiere ich.
Meine Damen und Herren, die Eisenbahn muß sich dazu bekennen, ein flächendeckendes Verkehrsmittel zu sein. Der Schienenpersonennahverkehr — auch in der Fläche — ist nämlich nicht der große Defizitbringer der Bahn, wie oft fälschlicherweise behauptet wird. Das ergibt sich aus den neuen Zahlen, welche die Bahn jetzt vorgelegt hat. Sie hat jetzt eine Spartenerfolgsrechnung vorgelegt. Darin wird angegeben, daß die Einnahmen der Bahn im Schienenpersonennahverkehr — einschließlich der Bundesleistungen gemäß EG-Verordnung 1191/69 — in diesem Jahr 5,663 Milliarden DM betragen werden. Die Selbstkosten im Schienenpersonennahverkehr ohne Fahrweg werden in diesem Jahr bei 4,124 Milliarden DM liegen, so daß sich — ohne Berücksichtigung der Fahrwegkosten — nach den neuesten Zahlen der Bahn eine Kostenüberdeckung im Schienenpersonennahverkehr von 1,539 Milliarden DM ergeben wird. Da die Bundesbahn jedoch nicht eineinhalb Milliarden DM pro Jahr für die Unterhaltung der Fahrwege im Nahverkehr ausgibt, folgt daraus, daß der Schienenpersonennahverkehr der Bahn letztlich einen positiven Kostendeckungsbeitrag zum Wirtschaftsergebnis der Bahn liefert. Ein flächendeckender Schienenpersonennahverkehr ist entgegen sonst immer wieder geäußerten Vorurteilen auch nicht unbezahlbar. Auch das können Sie an einer kurzen Modellrechnung sehen:
Die Bahn betreibt heute im Schienenpersonennahverkehr 21 000 km Strecken. Würden Sie auf diesen 21 000 km Strecke täglich 14 Züge in beiden Richtungen fahren lassen, dann kämen Sie auf 214 Millionen Zugkilometer im Jahr. Wenn Sie mit modernen Fahrzeugen rechnen und 6 DM pro Zugkilometer ansetzen, wären das 1,3 Milliarden DM.
Auch der Güterverkehr in der Fläche muß nicht unbedingt defizitär sein. Die Bahn setzt hier mit ihrem Rückzug aus der Fläche, also mit der Auflösung von Tarifpunkten im Wagenladungsverkehr mit der Verlagerung von Bahntransporten in der Fläche auf den Lkw auf die falsche Strategie. Die nicht bundeseigenen Eisenbahnen demonstrieren täglich, daß es möglich ist, Güterverkehr in der Fläche zu betreiben, der weit höhere Kostendeckungsgrade erreicht als der der Deutschen Bundesbahn.
Ich bin davon überzeugt, daß der wahre Grund für die Politik der Streckenstillegungen und der Bahnhofschließungen nicht in den schlechten Erträgen der Bahn im Personen- und Güternahverkehr liegt, sondern in dem Interesse der Bahn, die Bahnhöfe und Grundstücke möglichst gewinnbringend zu veräußern. Ich gewinne mehr und mehr den Eindruck, daß es sich bei der Bahn gerade im Nahverkehr nicht mehr um ein Verkehrsunternehmen, sondern eher um eine Immobilienhandelsgesellschaft handelt.
Wenn ich mir so ansehe, wie die Bahn im Schienenverkehr in der Fläche vorgeht, kann ich daraus eigentlich nur den Schluß ziehen, daß man in manchen Fällen sagen muß: Wer für die Eisenbahn ist, muß gegen die Deutsche Bundesbahn sein.
Nötig ist, daß Bundesregierung und Bundesbahn endlich akzeptieren, daß ihre Aufgaben auch und gerade im Schienenpersonennahverkehr liegen. Wir wissen, daß die Bahn intern unter dem Titel „SPNV 2000" derzeit die möglichen Strategien für die zukünftige Gestaltung des Schienenpersonennahverkehrs diskutiert. Dabei hat die Bahn selbst eine mögliche Strategie entwickelt, mit der es möglich ist, ohne Erhöhung der heute für den Schienenpersonennahverkehr gewährten Bundesleistungen in Höhe von 3,2 Milliarden DM pro Jahr bis zum Jahr 2000 einen flächendeckenden Schienenpersonennahverkehr mit Taktverkehr auf allen Strecken ohne weitere Strekkenstillegungen zu schaffen. Dennoch wird diese als Variante I bezeichnete Strategie von der Bahn nicht offensiv vertreten. In der Bahn selbst, auch im Bahnvorstand, gibt es immer noch zahlreiche Verfechter der sogenannten Variante III, einer „Crash"-Variante, deren Ziel die konsequente Zerschlagung des Schienenpersonennahverkehrs außerhalb der Ballungsräume ist.
Wenn die Bahn selbst ihre Aufgabe nicht in der Realisierung eines flächendeckenden Schienenverkehrs sieht, und lieber Strecken stillegt als Züge fahren zu lassen, dann ist es eigentlich überfällig, daß der Bundesverkehrsminister von seiner Aufsichtsfunktion Gebrauch macht. Eigentlich müßte sich das Bundesverkehrsministerium jetzt einmischen und der Bundesbahn auferlegen, die Variante I, also den Ausbau, mit allem Nachdruck zu verfolgen und die Variante III, also den Abbau, nicht weiterzuverfolgen. Dem „Auslaufminister" Zimmermann scheint es aber völlig egal zu sein, daß die Bahn auf immer mehr Strecken zum sogenannten Auslaufbetrieb übergeht.
Die Probleme der Deutschen Bundesbahn können nicht unabhängig von der übrigen Verkehrspolitik gesehen werden. Dabei hat die Bundesregierung die Bahn im Regen stehen lassen. Die verkehrspolitischen Rahmenbedingungen haben in den letzten Jahren den Hauptkonkurrenten der Bahn, den Autoverkehr, begünstigt. Während die Bahn gezwungen war, ihre Preise laufend zu erhöhen, sind die Benzinpreise in den letzten Jahren — trotz Mineralölsteuererhöhung — insgesamt um etwa 20 % gesunken. Das Stra-
13944 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 181. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1989
Weiss
ßennetz wurde immer weiter ausgebaut, und die Autos wurden immer schneller. Einschränkungen für den Autoverkehr hat die Bundesregierung zum Wohle der Automobilindustrie immer entschieden abgelehnt. Damit aber hat sie gleichzeitig der Bahn geschadet.
Ich will hierfür das Beispiel Tempolimit anführen. Es gibt Untersuchungen, die belegen, daß ein Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen, wenn durch eine kontinuierliche Überwachung eine Einhaltequote von 85 % sichergestellt werden würde, zu einer Verdoppelung der Anzahl der Bahnreisenden im Fernverkehr führen würde. So wäre ein Tempolimit ein einfaches, aber wirkungsvolles Mittel zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Bahn, das nicht einmal Geld kosten würde.
Aber wenn die Bundesregierung zwischen dem Wohl der Eisenbahn auf der einen Seite und den Interessen der Automobilindustrie auf der anderen Seite abzuwägen hat, entscheidet sie allemal gegen die Bahn und für das Auto.
Das gilt gleichermaßen für den Güterverkehr. Die Bundesregierung hat kritiklos alle Erleichterungen für den Straßengüterverkehr umgesetzt, die von der EG gefordert wurden.
In der Frage des Alpentransits macht sich der Bundesverkehrsminister offen zum Sprecher der LkwLobby. Die Chancen für die Eisenbahnen, die in der restriktiven Haltung der Alpenländer liegen, will Zimmermann offensichtlich nicht nutzen.
Als besonderen Gipfel der Unverschämtheit angesichts dieser Politik seitens des Bundesverkehrsministeriums gegenüber der Bahn empfinde ich es, wenn — wie vor 14 Tagen geschehen — seitens des Bundesverkehrsministeriums öffentlich Vorwürfe gegen die Deutsche Bundesbahn erhoben werden, die es angeblich versäumt habe, Zuwächse im Güterverkehr zu erreichen. Genau dieses Bundesverkehrsministerium, das jetzt Vorwürfe gegen den Bahnvorstand erhebt, hat ja maßgeblich die verkehrspolitischen Rahmenbedingungen bestimmt, die die Straße vor der Schiene eindeutig bevorzugen.
Die Bahn ist nach wie vor das sicherste und umweltverträglichste unter den motorisierten Verkehrsmitteln. Leider gibt es aber auch bei der Bahn zahlreiche Umweltprobleme, deren Lösung vorangetrieben werden muß. Hinsichtlich der Verwendung von FluorChlor-Kohlenwasserstoffen in den ICE-Triebköpfen wurde ja bereits eine Lösung erreicht. Die Lösung für die FCKW in den Klimaanlagen der Züge steht leider noch aus.
Es gibt jedoch weitere Umweltprobleme bei der Bahn, deren Lösung überhaupt noch nicht in Sicht ist. Ich führe dazu drei Beispiele an:
Erstens: Das Problem des Lärmschutzes an Bundesbahn-Altstrecken.
Während bei den Neubaustrecken der Deutschen Bundesbahn Lärmschutzmaßnahmen eine Selbstverständlichkeit sind, weigert sich die Bahn schon aufgrund der finanziellen Rahmenbedingungen, auch an bestehenden Strecken Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm durchzuführen, obwohl sich an einigen Strecken in den letzten Jahren die Belästigung durch höhere Zugzahlen und höhere Fahrgeschwindigkeiten drastisch erhöht hat. Hier ist eigentlich die Bundesregierung gefordert, der Bahn gesonderte finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen,
damit die Bahn ein Programm zur lärmtechnischen Sanierung der Altstrecken durchführen kann.
Das zweite Umweltproblem bei der Bahn: Chemische Aufwuchsbekämpfung. Noch immer versprüht die Deutsche Bundesbahn zur Verhinderung einer Verkrautung des Schotterbettes jedes Jahr Tausende Tonnen chemischer Pflanzenvernichtungsmittel auf ihre Gleisanlagen. Diese Gifte können ins Grundwasser gelangen. Mittlerweile sind Fälle bekannt geworden, in denen Trinkwassergewinnungsanlagen durch Pflanzenschutzmittel der Bahn kontaminiert worden sind.
Dabei gäbe es die Alternative des „Abflämmens". Ich halte es für dringend erforderlich, daß die Bundesbahn möglichst bald auf solche alternativen Methoden umsteigt,
schon im eigenen Interesse der Bahn. Denn es kann nicht im Interesse eines Unternehmens liegen, das mit seiner hohen Umweltverträglichkeit Werbung macht, daß es als „Brunnenvergifter" an den Pranger gestellt wird.
Drittes Problem: Altlastensanierung. Bis heute gibt es im Bereich der Deutschen Bundesbahn zahlreiche Altlasten. Die Böden vieler Bundesbahngrundstücke sind kontaminiert. Bis heute sind diese Altlasten noch nicht einmal erfaßt und analysiert. Über Konzepte zur Sanierung der Altlasten hat die Bahn wohl bis heute nicht ernsthaft nachgedacht. Auch die Lösung dieses Problems sollte schnellstmöglich in Angriff genommen werden.
Das sind drei Probleme.
Ich betone, daß ich die Deutsche Bundesbahn trotz dieser Umweltprobleme für das umweltverträglichste unter den motorisierten Verkehrsmitteln halte. Dennoch darf man auch vor diesen Problemen nicht die Augen verschließen. Es muß trotzdem alles getan werden, damit die Bahn künftig einen größeren Anteil am Verkehrsmarkt erhält.