Rede von
Michael
Weiss
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Während sich die Bundesregierung weigert, die notwendigen Schritte zur Sanierung der Deutschen Bundesbahn jetzt zu unternehmen, und dringend notwendige Entscheidungen auf die Zeit nach der nächsten Bundestagswahl vertagt, sind im Alltag der Bahn die negativen Auswirkungen der Leitlinien der Bundesregierung zur Konsolidierung der Bahn aus dem Jahre 1983 deutlich zu spüren. Am Ende des Jahres, zu dessen Beginn der damalige Verkehrsminister Dr. Warnke angekündigt hat, es werde das Jahr der Bahn, müssen wir feststellen: Die Bahn steht vor dem finanziellen Ruin. Das ist das Ergebnis von sechs Jahren Leitlinien der Bundesregierung.
Die Pünktlichkeit der Züge hat nachgelassen. Immer häufiger treten Betriebsstörungen oder Fahrzeugschäden auf, die erhebliche Verspätungen der Züge nach sich ziehen. Verspätungen von bis zu einer Stunde im Personenverkehr oder von bis zu sechs Stunden im Güterverkehr sind keine Seltenheit mehr. Aber das ist die Folge der Vorgaben seitens der Bundesregierung, die die Bahn in ihren Leitlinien verpflichtet hat, jedes Jahr 10 000 Arbeitsplätze von Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern abzubauen.
Heute fehlt es an qualifiziertem Personal vor allem bei Lokomotivführern und Rangierern. Die Bahn hat es versäumt, rechtzeitig neues Personal einzustellen, so daß die jetzige katastrophale Situation entstanden ist.
Die Überstunden bei der Bahn häufen sich. Die Lokführer haben im Schnitt derzeit etwa 13 Arbeitstage Überstunden. Ein Freizeitausgleich für die geleisteten Überstunden ist nicht in Sicht.
Die Situation der Bahn wird immer kritischer. Wenn nicht bald Abhilfe geschaffen wird, dann wird die Politik der Einsparungen und des Personalabbaus demnächst nicht nur Auswirkungen auf die Zuverlässigkeit der Eisenbahn haben, sondern auch auf die Sicherheit des Bahnbetriebes.
Dennoch sieht die Bundesregierung keinen Anlaß zu handeln. Der Bundesbahnvorstand legt im Rahmen einer Krisensitzung einfach per Beschluß fest, daß es die überall deutlich sichtbare Krise bei der Bahn einfach nicht gibt.
Auch die wirtschaftliche Situation der Bundesbahn wird sich in den nächsten Jahren dramatisch zuspitzen. Der Jahresfehlbetrag müßte in diesem Jahr eigentlich bei 4,5 Milliarden DM, also um 0,6 Milliarden DM höher als im Vorjahr, liegen. Er wird allerdings auf Grund der vielen Immobilienverkäufe der Bahn in diesem Jahr, vor allem auf Grund des Verkaufs des Industrieparks in München, formal 850 Millionen DM niedriger sein und nur bei 3,7 Milliarden DM liegen. Immobilienverkäufe in dieser Höhe sind wohl nur einmalig im Jahr vor der Bundestagswahl zum Zweck der kosmetischen Verschleierung der sich dramatisch verschlechternden Finanzlage der Bahn möglich.
Dementsprechend wird dann auch nach den derzeitigen Prognosen der Bahn der Jahresfehlbetrag 1990, der dann ja erst nach der Bundestagswahl festgestellt werden wird, bei 4,9 Milliarden DM, also 1,2 Milliarden DM höher als 1989, liegen. Bis zum Jahre 2000 wird sich nach den derzeit vorliegenden Prognosen
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 181. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1989 13941
Weiss
die Verschuldung der Bahn von 43 Milliarden DM in diesem Jahr auf 71,8 Milliarden DM erhöhen. Das Eigenkapital der Bahn wird dann längst aufgebraucht sein. Im Klartext: Die Bahn fährt mit Volldampf in die Pleite, und die Bundesregierung schaut zu.
Der Bundesbahnvorstand hat Presseberichten zufolge erklärt, daß die Bahn alleine auch bei weiteren Sparmaßnahmen keine Möglichkeit sieht, den finaziellen Ruin zu verhindern. Dennoch glaubt die Bundesregierung, das Problem weiter „aussitzen" und die Lösung der Probleme weiter vertagen zu können.
Die Enttäuschung bei den Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern ist deshalb groß. Sie haben nämlich in den letzten Jahren viele Unannehmlichkeiten und Erschwernisse hinnehmen müssen: weitere Anfahrtswege durch die Auflösung von Dienststellen, Überstunden und vieles mehr. Die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner haben damit ihren Teil zur Konsolidierung des Unternehmens Deutsche Bundesbahn geleistet. Sie erwarten deshalb jetzt mit Recht, daß endlich auch der Eigentümer, also der Bund, seinen Beitrag leistet. Die Bundesregierung weigert sich jedoch, ihren längst überfälligen Beitrag jetzt zu leisten und die notwendigen Schritte zu einer Bahnsanierung endlich einzuleiten.
Die Beschlüsse des Bundeskabinetts vom 1. Februar dieses Jahres stellen keinerlei Fortschritt in der Bahnpolitik dar. Reduziert man diese Beschlüsse nämlich auf ihren wesentlichen Inhalt, so sieht man, daß im wesentlichen nur beschlossen worden ist, daß in dieser Legislaturperiode nichts, aber auch wirklich gar nichts zur Verbesserung der Situation der Deutschen Bundesbahn geschehen soll.
Zur Verschleierung dieser Untätigkeit hat dann die Bundesregierung eine Kommission eingesetzt. Aber ich frage mich: Was soll diese Kommission eigentlich erarbeiten? Alle Fragen, deren Beantwortung die Bundesregierung der Kommission aufgegeben hat, können schon heute klar beantwortet werden. Es liegt das Bundesbahnsanierungsgesetz der GRÜNEN vor, es liegen die Gesetzentwürfe der SPD-Fraktion vor, und es liegt das Papier der Koalitionsarbeitsgruppe „Bahn" vor.
Legt man diese Papiere nebeneinander, so kann man feststellen, daß es zahlreiche Maßnahmen gibt, deren Notwendigkeit und Richtigkeit von allen Fraktionen des Bundestages festgestellt worden ist.
In vielen Fragen gibt es eine breite Übereinstimmung zwischen allen Fraktionen des Bundestages. Was soll da eine Kommission noch klären?
Der Grund für die Einsetzung der Kommission liegt deshalb auch nicht in der Notwendigkeit, Dinge noch klären zu müssen. Der wahre Grund liegt darin, daß
die Bundesregierung nicht bereit ist, in dieser Legislaturperiode etwas für die Bahn zu tun.
Daher ist eine Kommission mit Alibicharakter notwendig, auf die die Bundesregierung im bevorstehenden Bundestagswahlkampf verweisen und damit ihr Nichtstun kaschieren kann.
Der Zusammenhang mit dem Wahltermin wird besonders deutlich, wenn man sieht, daß die Kommission ihre Ergebnisse nach dem Willen der Bundesregierung im März 1991, also drei Monate nach der Wahl, vorlegen soll.
Neben der Einsetzung der Kommission hat das Bundeskabinett am 1. Februar nämlich nur Ankündigungen beschlossen. Es handelt sich ausschließlich um Ankündigungen, die erst nach der Bundestagswahl erfüllt werden müssen. Es muß aber ernsthaft bezweifelt werden, ob es die Bundesregierung mit ihren Versprechen ernst meint; denn in der Finanzplanung des Bundes sind keine Gelder vorgesehen, mit denen die Ankündigungen in der nächsten Legislaturperiode dann tatsächlich erfüllt werden sollen.
So hat das Kabinett beschlossen, daß sich ab 1992 die öffentlichen Hände an der Finanzierung der Fahrwegkosten der Bahn beteiligen sollen. Das Kabinett hat es aber vermieden, sich auf die Höhe der Beteiligung festzulegen. Mit der Formulierung „die öffentlichen Hände", wie es im Kabinettsbeschluß heißt, ist auch eine klare Festlegung vermieden worden, daß sich dann der Bund selber an den Fahrwegkosten beteiligen wird.
Weiterhin hat die Bundesregierung versprochen, daß im Jahr 1991 der Bund die sogenannten Altschulden der Bahn in Höhe von 12,6 Milliarden DM übernehmen wird.
Selbst wenn dieses Versprechen tatsächlich eingelöst werden sollte, wird es keinen nennenswerten Beitrag zur Verbesserung der finanziellen Situation der Deutschen Bundesbahn leisten. Denn der Bund hat sowieso bereits seit 1972 die Zinsen für diese Altschulden getragen. Die Altschulden haben deshalb das Wirtschaftsergebnis der Bahn überhaupt nicht belastet. Wenn die Altschulden nunmehr vom Bund übernommen werden und vorher keine Belastung da war, kann dann auch keine Entlastung eintreten.
— Ich möchte hier nicht mißverstanden werden: Ich bin durchaus der Auffassung, daß es richtig ist, daß der Bund diese Altschulden übernimmt;
denn bei diesen Altschulden handelt es sich nicht um
Bahnschulden im eigentlichen Sinne, sondern um
Kriegsfolgelasten, die von Anfang an vom Bund und
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nicht von der Bahn hätten getragen werden müssen.
Ich halte es jedoch für ein plumpes Täuschungsmanöver, wenn die Bundesregierung versucht, diese Altschuldenübernahme als Durchbruch in der Bahnpolitik oder gar als Einstieg in die Sanierung der Bahnfinanzen zu verkaufen. Denn die Jahresfehlbeträge der Bahn werden sich durch die Altschuldenübernahme nicht um eine einzige Mark verringern.
Im übrigen muß festgestellt werden, daß die Übernahme der Altschulden auch keine nachhaltige Verringerung der Verschuldung der Bahn mit sich bringen wird. Wenn tatsächlich die Altschulden der Bahn im Jahre 1991 vom Bund übernommen werden sollten, so wird die Verschuldung im Jahr 1995 wieder genauso hoch sein wie im Jahr 1990, also im Jahr vor der Altschuldenübernahme.
Es sind also zusätzliche Maßnahmen seitens des Eigentümers der Bahn, des Bundes, notwendig. Dringend notwendig, und zwar jetzt und nicht erst im Jahre 1992, ist die Übernahme der Finanzverantwortung für den Fahrweg, das Schienennetz, durch den Bund. Das ist schon deshalb dringend erforderlich, weil sonst mit Inbetriebnahme der Neubaustrecken Hannover—Würzburg und Mannheim—Stuttgart auch der Fernverkehr der Bahn in die roten Zahlen abrutscht. Die Neubaustrecken werden nämlich, wenn sie 1991 in Betrieb genommen werden, das Wirtschaftsergebnis der Bahn verschlechtern und nicht, wie so oft fälschlicherweise behauptet wird, verbessern. Ich will Ihnen das kurz erläutern. Die Neubaustrecken werden, wenn sie 1991 in Betrieb gehen, 14 Milliarden DM gekostet haben.
Von diesem Zeitpunkt an müssen sie abgeschrieben werden. Das belastet die Jahresrechnung jährlich mit 350 Millionen DM.
Die Einnahmen der Bahn im Intercity-Bereich liegen jedoch nur bei 200 Millionen DM im Jahr. Selbst wenn 50 % Steigerung auf den Neubaustrecken erreicht werden sollten — die Bahn rechnet selber nur mit 30 % —, werden die Einnahmen aus dem IntercityVerkehr nicht einmal reichen, um damit die Abschreibung für die Neubaustrecken zu erwirtschaften.
Angesichts dieser Zahlen ist zu überlegen, ob die hohen Ausgaben für die Neubaustrecken überhaupt gerechtfertigt sind. Sie sind es nach meiner Auffassung jedenfalls dann nicht, wenn ins übrige Streckennetz der Bahn nichts investiert wird. Das kann man auch einmal an einer Rechnung vergleichen.
Hätte man die 14 Milliarden DM statt in nur zwei Strecken in das gesamte Streckennetz der Bahn mit 28 000 km gesteckt, wären auf jeden Streckenkilometer eine halbe Million DM entfallen. Damit hätte sich das gesamte Schienennetz der Bahn modernisieren
lassen, und die kumulierten Fahrzeitgewinne wären mindestens ebenso hoch gewesen wie diejenigen durch die beiden Neubaustrecken. Dies zeigt, daß die Neubaustrecken letztlich eben doch auf Kosten eines flächendeckenden Bahnverkehrs gehen,
da sie jene finanziellen Mittel auffressen, die dann für einen attraktiven Eisenbahnverkehr auch außerhalb der Hauptstrecken dringend erforderlich wären. Daher ist es nicht gerechtfertigt, derart hohe Summen in teure Neubaustrecken zu stecken, wenn gleichzeitig das übrige Schienennetz vernachlässigt wird.
Die Eisenbahn muß sich endlich dazu bekennen, daß sie ein flächendeckendes Verkehrsunternehmen ist.