Das Protokoll vermerkt an dieser Stelle regelmäßig aufwallende Freude im Hause.
Meine Damen und Herren, wer die ersten knapp zwei Stunden aufmerksam verfolgt hat, der muß den Eindruck haben, er habe ein falsches Video eingeschaltet. Es wurde schlicht und einfach am Thema vorbei gesprochen. Auch die drei Erklärungen, von denen zumindest zwei am Ende der dritten Lesung des Bundeshaushalts 1990 zur namentlichen Abstimmung gestellt werden, gehörten eigentlich in die Deutschlanddebatte von vor zwei Wochen. Ich sehe mich aber genötigt, dieser Vorgehensweise entsprechend, einige zusätzliche Gedanken in die Debatte einzubringen.
Ich möchte eingangs den mittleren Part einer Erklärung aus der DDR vorlesen, die von allen gesellschaftlich relevanten Gruppen dort inzwischen unterzeichnet worden ist, weil ich glaube, daß es dem Anspruch auf Selbstbestimmung, die von der rechten Seite des Hauses ja ebenfalls eingeklagt wird, am nächsten käme, wenn die Bundesregierung ihre Politik daran ausrichtete.
Dort ist zu lesen:
Entweder:
können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind.
Oder:
wir müssen dulden, daß, veranlaßt durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik vereinnahmt wird.
Laßt uns den ersten Weg gehen.
Dies, meine Damen und Herren, ist tatsächlich von allen relevanten Kräften der DDR unterzeichnet worden.
Die DDR wird also eine Gratwanderung machen müssen zwischen fortschreitenden Versorgungsschwierigkeiten einerseits und weiterem Abgleiten in die wirtschaftliche Abhängigkeit von westlichen Wirtschaften, insbesondere der Bundesrepublik, andererseits. Was aber, wenn die Menschen in der DDR die Chance nutzen zu einem sozialen und ökologischen Aufbau ihrer Gesellschaft einschließlich Selbstbestimmung in Wirtschaft, Betrieb, Verwaltung und Politik? Eine derartige Definition der Selbstbestimmung des deutschen Volkes wird hierzulande zu einiger Verstimmung der Mächtigen führen, und das dürfte auch der Grund dafür sein, daß diese Selbstbestimmungsmöglichkeit bereits im Vorfeld zu zerschlagen versucht wird.
Kohl kam mit seinem Zehn-Punkte-Katalog nicht in die Deutschlanddebatte, sondern in den Haushalt, weil er genau das betreibt, was von den GRÜNEN heute sehr gut herausgearbeitet wurde, nämlich Ablenkung, Ablenkung von den eigentlichen Problemen, die wir auf der Welt und in der Bundesrepublik haben.
Es bestand ja auch kein Abstimmungsbedarf mit den westlichen Alliierten oder irgendein anderer plausibler Grund, weshalb Herr Kohl erst zwei Wochen nach der eigentlichen Debatte mit diesem Konzept kommt. Wir haben erfahren, daß keinerlei Abstimmung durchgeführt wurde, nicht einmal in der Koalition. Herr Genscher, Herr Lambsdorff, Herr Waigel, selbst Herr Rühe waren nicht informiert, als am Dienstag dieses Zehn-Punkte-Konzept vorgetragen wurde.
Natürlich, man kann den Standpunkt vertreten — das ist wohl auch der tiefere Grund dafür, daß sich die SPD am vergangenen Dienstag so vorbehaltslos unterworfen hat — , daß es hier um die nationale Frage geht. Es geht aber nicht an, daß das durch folgende Umstände begleitet wird: Die DDR wird erpreßt — das ist eindeutig angesichts der Art und Weise, in der die Bedingungen formuliert worden sind — , und die Grenzen von 1937 werden als Option auch in diesem Zehn-Punkte-Katalog aufrechterhalten. Von dieser Art und Weise des Vorgehens sind drei Länder betroffen, die Sowjetunion, die Tschechoslowakei und Polen.
So hat Gorbatschow gestern in Rom auch völlig zu Recht formuliert, daß der elfte Punkt fehlt, nämlich die Festschreibung dieser Grenzen, bevor die Deutschen mit einer solchen Vehemenz — Gorbatschow nannte es tolpatschig und plump, was Herr Kohl gemacht hat — die deutsche Frage in den Vordergrund der Diskussion rücken.
Herr Dregger kann die fehlende Abstimmung mit den westlichen Alliierten auch nicht dadurch heilen, daß er sagt, Kohl stünde in ständigen Telefonkontakten. Nachträgliche Informationen sind doch nicht mit Konsultationen zu verwechseln. Das, was die Bundesrepublik ständig von Washington, von Paris und Lon-
13892 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 180. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Dezember 1989
Wüppesahl
don einklagt, nämlich daß man vor wichtigen Entscheidungen gefragt wird, hätte auch hier geschehen müssen.
Um so erbärmlicher ist natürlich, daß als vierte Komponente die „Kleinigkeit" festzustellen ist, daß dieses Konzept auch vorbei am Parlament als deutsche Politik nach außen dargestellt wird.
Das ist besonders erbärmlich für die SPD, aber das richtet sich vor allen Dingen an die Fraktionen von FDP und CDU/CSU. Es ist erbärmlich, daß Sie bei Ihrem Selbstverständnis als Parlamentarier in der Lage sind, sich ein solches Konzept vortischen zu lassen — nicht einmal die Spitzen Ihrer Fraktionen sind ja informiert gewesen — und nachträglich nur noch mit dem Kopf zu nicken. Die Gestaltung, die politische Linie, die durch die erste Gewalt in diesem Lande, das Parlament, gezogen werden müßte, geht aber völlig verloren.
Die gouvernementalen Anflüge von Vogel sind in der SPD-Fraktion zu Recht auf Widerstand gestoßen. Wir erkennen wesentliche Kritiken an dieser Unterwerfung der SPD vom letzten Dienstag in der Resolution nicht mehr wieder. Kräfte in der SPD haben einfach auch erkannt, daß die Profilierung zur Zeit schwer ist, daß sie aber notwendig ist in einer Zeit, in der die Wählerinnen und Wähler im Lande Bonn so ziemlich vollständig in einen Topf zu werfen gewillt sind.
Die SPD steht an dieser Stelle, wo es wieder um eine nationale Grundfrage geht, in einer wirklich traurigen historischen Kontinuität. Ich will das nicht länger ausführen;
aber sowohl die Zustimmung zu den Kriegskrediten während des ersten Weltkrieges
als auch die sogenannten Antiterroristengesetze in den 70er Jahren, die nach der Verfassungssystematik des Grundgesetzes schändlichstes Unrecht darstellen, sind solche Beispiele.
Meine Damen und Herren, wenn Herr Kohl meint, er müsse noch in diesem Jahr in die DDR fahren — wir haben eine unselige Diskussion darüber öffentlich erleben müssen — , dann schlage ich vor, daß Herr Kohl mit den Bedingungen, die jetzt in diesem ZehnPunkte-Katalog formuliert sind, am 24. Dezember als Knecht Ruprecht und einem entsprechenden Sack auf den Schultern in der DDR erscheint. Das versinnbildlicht sehr viel deutlicher als mühevolle Analysen über dieses Zehn-Punkte-Konzept, wie zur Zeit die tatsächliche Rolle der Bundesrepublik gegenüber der DDR aussieht.
Ich möchte in diese abschließende Haushaltsdebatte aber noch einen anderen Aspekt einbringen:
Vergangenen Mittwoch erlebte die Südafrikapolitik der Bundesregierung einen schweren Rückschlag. Zum erstenmal seit 1978 wurde die Bundesregierung wegen ihres Waffenhandels und wegen ihrer Handelsbeziehungen mit Südafrika von der Vollversammlung der Vereinten Nationen mit überwältigender Mehrheit verurteilt. Es war der U-Boot-Skandal, der das Faß zum Überlaufen brachte. Mit 106 : 17 Stimmen forderte das Plenum der internationalen Staatengemeinschaft eine Strafverfolgung der Firmen HDW und IKL. Es forderte eine strikte Einhaltung des UN-Rüstungsembargos gegen Südafrika durch die Bundesrepublik in der Zukunft.
Ich weiß wirklich nicht, wann der Herr Bundeskanzler und der Herr Außenminister Genscher begreifen werden, daß sich der U-Boot-Skandal nicht aussitzen läßt. Sie haben es nach drei Jahren noch immer nicht geschafft, daß das Thema aus den Schlagzeilen verschwindet. Im Gegenteil, sie haben es geschafft, daß die Bundesrepublik von der UNO-Vollversammlung veurteilt wurde. Sie haben es geschafft, die Bundesrepublik zum zweitgrößten Handelspartner des Apartheidregimes und zu dessen größtem Waffenlieferanten zu machen. Moralische Werte werden immer hochgehalten, wobei wir inzwischen aber so ziemlich alle hier wissen dürften, daß Politik und Moral leider sehr wenig miteinander zu tun haben.
In der Südafrika-Frage ist die Bundesregierung heute politisch isoliert. Sie steht für alle sichtbar nicht auf der Seite der Menschenrechte und der Freiheit, sondern auf der Seite der Rassisten und weißen Unterdrücker. Nicht nur der Kanzler und der Bundesaußenminister, sondern auch Verteidigungsminister Stoltenberg waren in dieses schmutzige Geschäft involviert, und mit großer Wahrscheinlichkeit auch Finanzminister Waigel und Innenminister Schäuble.
Das Abstimmungsergebnis in der UNO-Vollversammlung kam zustande, obwohl die Bundesrepublik eine diplomatische Offensive sondergleichen gestartet und Druck vor allem auf die ärmsten Länder dieser Welt unternommen hatte, um sie zu einer Änderung ihres Abstimmungsverhaltens zu bewegen — ein Vorgehen, das hoffentlich genauso scheitern wird wie die augenblicklich — seit zwei Tagen stattfindende diplomatische Offensive im Bereich der Deutschlandpolitik, um zu versuchen, der Welt deutlich zu machen, weshalb Deutschland bereits vor der weitergehenden Integration der EG wiedervereinigt werden soll.
Ich hoffe, daß einige Argumente wenigstens zum Nachdenken angeregt haben, und danke für die Aufmerksamkeit.